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Van der Bellens Scherbenhaufen

Man darf sich amüsieren – oder ärgern. Über Alexander van der Bellen: Begreift er die eklatanten Widersprüche in seinen eigenen Worten? Über Karl Nehammer: Ihm werden vom Bundespräsidenten merkwürdige Gedanken in den Mund geschoben – warum widerspricht er nicht oder deckt er das? Und über beide Herren: Sind sie sich im Klaren, dass sie ganz persönlich nun die Hauptschuld an den nächsten großen Erfolgen der FPÖ auf sich geladen haben, die jetzt wirklich erste Reihe fußfrei beim unweigerlichen Scheitern einer Koalition der ÖVP mit Herrn Babler zuschauen und auf die eigenen Wahlsiege warten kann?

Für die meisten Wähler ist eindeutig der nur extrem schwer zu lösende Komplex Migration/Asyl/Islamisierung/Kriminalität die weitaus wichtigste Herausforderung der neuen Regierung. Wie soll da mit der SPÖ und den von Nehammer ebenfalls ins Boot geholten Neos irgendetwas vorangehen, die doch bisher die diesbezüglichen Positionen von ÖVP und FPÖ heftig bekämpft haben? Sind Rot und Pink zu einer kompletten Änderung ihrer Politik bereit – oder wird die ÖVP da wie bei den Grünen ständig Abstriche machen müssen? Überdies sind die wichtigsten Regler in Sachen Migration in Hand der EU und der Richterschaft, sodass auch ohne solche Koalitionspartner eine Problemlösung extrem schwer ist.

Noch dramatischer wird der Komplex Wirtschaft/Soziales werden, wo der gesamte SPÖ-Wahlkampf aus einer Aufaddierung von sozialen Forderungen bestanden hat. Dabei ist völlig klar, was aber vielen Wählern kaum bewusst ist: Auch jede andere Regierungsformel würde in den nächsten Jahren alles andere als eine Erfolgsstory werden. Dazu ist die europäische Wirtschaftsentwicklung viel zu katastrophal, wird doch die EU von den USA und China Monat für Monat noch weiter abgehängt. Dazu kommt, dass Österreich insbesondere in der Corona-Krise den schon seit der Kreisky-Androsch-Zeit ständig (mit Ausnahme der Schüssel-Grasser-Zeit) anwachsenden Schuldenberg allzu leichtfertig erhöht hat. Dazu kommt die traditionelle Handelsabhängigkeit von Deutschland, das durch eine irre Energiepolitik im Expresstempo deindustrialisiert wird und derzeit voll gegen die Wand donnert. 

All diese Faktoren kommen noch dramatisch erschwerend zu der Absurdität einer jetzt von Van der Bellen gewünschten schwarz-rot-(pinken) Koalition, in der eine oder zwei sich um die wirtschaftliche Zukunft sorgende Parteien mit den Sozialdemokraten koalieren sollen, die unter einem Andreas Babler wirtschafts- und sozialpolitisch in den zwanziger Jahren steckengeblieben sind – aber wohlgemerkt in denen des vorigen Jahrhunderts. Man kann wirklich nur hellauf über den Aberwitz lachen, dass Van der Bellen gleichzeitig mit dem Auftrag zu einer solchen Regierung von den – tatsächlich – dringend notwendigen großen Reformen redet. Das ist so, wie wenn man in einem Bordell die Anordnung zur ewigen Keuschheit ausgeben würde, aber gleichzeitig den Bordellbetrieb weiterführen möchte.

Verzweifelt über Van der Bellen lachen kann man aber auch, wenn man bedenkt, dass der Mann dreieinhalb Wochen mit völlig sinnlosen "Gesprächen" vergehen hat lassen, bis er einen ersten Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. In dieser Zeit ist absolut nichts Sinnvolles geschehen. Diese Zeit hätte er viel besser an Herbert Kickl, den relativen Wahlsieger, als Frist gesetzt, nach der dieser sagen muss, ob er eine Regierung zusammenbringt.

Ohne diesen Auftrag kann Kickl jetzt aber jahrelang herumrennen und über jede (unvermeidliche) Schwierigkeit im Land sagen: "Seht ihr, das kommt davon, weil der undemokratische Bundespräsident mir nicht den Regierungsbildungsauftrag gegeben hat. Wir sind die einzige Alternative, wenn ihr wollt, dass die Dinge anders werden."

Normalerweise müsste die FPÖ für die kommenden Wahlkampagnen teures Geld an Werbeagenturen zahlen, um Propaganda für sich zu machen. Jetzt hat sie durch die Herren Van der Bellen und Nehammer diese Werbung in hoch effizienter Form gratis bekommen.

Wie kann man nur so dumm sein!

Mindestens genauso wie der Bundespräsident ist ja der ÖVP-Chef schuld an dem Auftrieb für die FPÖ. Hat die ÖVP doch schon am Wahltag viele Stimmen an die FPÖ verloren, die nach Nehammers Vor-Wahl-Absage an die Blauen keinesfalls die als Folge unvermeidliche Partnerschaft der ÖVP mit einer Babler-SPÖ unterstützen wollten. Wie falsch seine Strategie aber auch in Hinblick auf die Zukunft ist, wird Nehammer schon in den nächsten Wochen merken, wenn er mit der SPÖ inhaltlich verhandeln muss. Denn ab nun muss er Babler & Co ohne Alternative gegenübersitzen. Das verschlechtert automatisch die Position jedes Unterhändlers.

Jetzt muss Nehammer mehr oder weniger alternativlos die Bedingungen der Roten fressen. Jetzt muss er seinen Parteifreunden bei jeder Konzession an die SPÖ peinliche Fragen beantworten, die Vergleiche mit einer ÖVP-FPÖ-Koalition ziehen und mit den dabei erzielbaren Inhalten.

Noch dazu hat er jetzt außer dem nicht gerade überzeugenden Kämmerer Harald Mahrer (in dessen Reich bekanntlich die Taxikonzessionen und Förderungen wichtiger sind als die volkswirtschaftliche Entwicklung) absolut niemanden an der Seite, der sich in den wirtschafts- und sozialpolitischen Themen auskennt. Hat er doch sowohl Finanz-, wie auch Wirtschaftsminister gehen lassen (oder gar zum Gehen bewegt) und weit und breit keinen profilierten Nachfolger gefunden.

Nehammer ist aber nicht nur deshalb in einer katastrophalen Situation, weil sich die Beibehaltung des Bundeskanzleramtes strategisch als ein teurer Pyrrhus-Sieg erweisen wird. Auch die nunmehrigen Worte des Bundespräsidenten haben ihn zusätzlich in die Bredouille gebracht. Van der Bellen hat nämlich die Vorbehalte von ÖVP und SPÖ gegen die FPÖ einfach pauschal in einen einzigen Topf geworfen und so die ÖVP mitverantwortlich für Formulierungen und Vorwürfe gemacht, die man bisher nur aus der Hetzpropaganda von SPÖ, Grünen und KPÖ gekannt, aber noch nie von der ÖVP gehört hatte.

Wenn Nehammer sich nicht rasch und öffentlich von dieser infamen Vereinnahmung durch Van der Bellen wehrt, wird er sich öffentlich wie parteiintern vieles fragen lassen müssen:

  1. Wo genau hat die FPÖ eigentlich die "liberale Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung" verletzt?
  2. Hat sich die FPÖ in ihren bisherigen dreieinhalb Mitregierungsperioden diesbezüglich irgendwie schuldig gemacht?
  3. Hat sie nach einer Machtbeteiligung etwa jemals verhindert, dass es wieder freie Wahlen gibt?
  4. Wieso kann die ÖVP in vier Bundesländern problemlos mit der FPÖ koalieren, wenn diese angeblich solche fundamentalen Grundprinzipien bedroht?
  5. Was ist eigentlich eine "liberale Demokratie"?
  6. Ist dieser bisher nur in der linken Hetze auftauchende Begriff etwas anderes als die in der Verfassung stehende Demokratie? Wenn ja, dann bitte endlich um Definition und Klärung, ob dahinter eine Privatverfassung steht!
  7. Woran zeigt sich genau eine problematische "Haltung zur EU"?
  8. Ist Kritik an einzelnen Entscheidungen der EU schon ein Grund, nicht in Österreich mitregieren zu dürfen?
  9. Haben wir schon wieder – wie es die Linke beim Asylthema gemacht hat – eine "Haltungs"-Polizei im Lande?
  10. Was ist genau das "rückwärtsgewandte Frauenbild", das auch die ÖVP der FPÖ vorgeworfen haben soll?
  11. Ist das nicht der Gegenpol zum "sozialen Geschlecht", wo man sich jeden Morgen aussuchen kann, welches von ein paar Dutzend Geschlechtern man heute haben will?
  12. War das angeblich falsche Frauenbild nicht bisher haargenau ein Vorwurf der Linken gegen die ÖVP?
  13. Heißt das nicht letztlich, dass dieser Vorwurf jederzeit auch gegen die ÖVP aus der Tasche gezaubert werden kann, wenn die Linke die Schwarzen zu Unberührbaren machen will?
  14. Worin besteht die "fehlende Abgrenzung zum Rechtextremismus" genau?
  15. Wo ist die Abgrenzung der SPÖ zum Linksextremismus?
  16. Trifft der Rechtsextremismus-Vorwurf nicht am meisten die SPÖ – also die von Van der Bellen in die künftige Koalition bugsierte Partei –, die mehr ehemalige NSDAP-Mitglieder in der Regierung hatte als je eine andere Partei?
  17. Ja, ganz gewiss klingen die Erklärungen des Wahlkampfes so, dass eine Koalitionsbildung mit der FPÖ nicht gerade leicht wäre: Aber hat nicht noch jeder Wahlkampf der Geschichte eine ähnlich schwierige Erbschaft hinterlassen?
  18. Haben sich nicht Schwarz und Rot in den letzten 80 Jahren fast immer untergriffig beschimpft?
  19. Wieso war es ganz selbstverständlich, dass die beiden nachher wieder – wenn auch oft mehr irgendwie als gut – zusammengearbeitet haben?
  20. Zwar stimmt zweifellos der Vorwurf gegen Kickl, eine "spaltende, herabwürdigende Sprache" zu praktizieren. Nur: Warum haben den Mann aus der Hofburg dann die Bemerkungen etwa von Alma Zadic über Sebastian Kurz nicht daran gehindert, diese als Justizministerin anzugeloben?
  21. Ist es nicht extrem bedenklich, wenn ein österreichischer Bundespräsident die "Sorgen ausländischer Geheimdienste" für relevant bei einer österreichischen Regierungsbildung erklärt?
  22. Gewiss sind diese Geheimdienste hilfreich, um vor Terroranschlägen zu warnen (vor allem solange die österreichische Rechtsordnung der österreichischen Polizei ähnliche Recherche-Methoden verbietet). Aber, mit Verlaub: Die westlichen Geheimdienste haben nachweislich sogar Russland vor einem islamistischen Anschlag gewarnt – will uns da Van der Bellen einreden, dass sie Österreich weniger warnen würden als Russland?
  23. Und warum fehlt bei den von Van der Bellen aufgezählten Sorgen der ÖVP ausgerechnet jene, die Nehammer als einzige angeführt hat, als er erstmals die Person Kickl für inakzeptabel erklärt hat: nämlich Kickls Absage an einen effizienten Raketenabwehrschirm für Österreich?
  24. Zwar sind etliche Aussagen von Kickl über EU, Nato und Russland übel und inakzeptabel: Aber warum sind ganz ähnliche Aussagen von Babler offenbar kein Problem?
  25. Warum bekommt dann dieser, aber nicht jener die Chance, durch die Formulierungen eines Koalitionsvertrages (oder eine Präambel wie einst bei Schwarz-Blau) auf Abstand zu seinen früheren Positionen zu gehen?
  26. Warum hat Van der Bellen nie austesten lassen, ob sich nicht auch Kickl so ändern kann, wie es die Parteiführer früherer Jahrzehnte nach den Wahlkämpfen getan haben?

Van der Bellen hat weit mehr Fragen aufgerissen, als sich rechtfertigen lassen.

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