Die Gründe des ukrainischen Vorstoßes
13. August 2024 00:22
| Autor: Andreas Unterberger
Lesezeit: 5:30
Die besten militärischen Operationen sind immer die völlig überraschenden. Und das ist der Ukraine mit ihrem tiefen Vorstoß auf russisches Gebiet exzellent gelungen, der ja weitaus gravierender scheint, als man vor einer Woche glauben konnte. Ohne dass jemals die wirklichen Ziele des Angriffs offengelegt worden sind, hat die Ukraine damit jedenfalls schon eine Reihe von Erfolgen für sich erzielt. Dennoch ist weiterhin mehr als unklar, ob sie durch ihre Überlegenheit in Sachen Motivation und Cleverness auf Dauer die vier- bis zehnfache Überlegenheit der russischen Ressourcen in einem Abnützungskrieg ausgleichen kann.
Die größte Gefahr für den tapferen Schwarzmeerstaat besteht zweifellos in dem noch immer möglichen – wenn auch nach Verzicht von Joe Biden keineswegs mehr sicheren – Wahlsieg Donald Trumps, der ganz auf den US-amerikanischen Isolationismus setzt und der daher die Ukraine zu opfern bereit scheint. Aber auch Kamala Harris ist nicht gerade als glühende Unterstützerin der Ukraine bekannt, weniger jedenfalls als Joe Biden. Dieser amerikanischen Entwicklung gegenüber ist es ziemlich offen, ob die EU und Großbritannien imstande und bereit sind, in Zukunft dauerhaft die amerikanischen Waffenlieferungen zu ersetzen.
Aber auf der anderen Seite hat auch Russland in den letzten Monaten gezeigt, dass es gewaltige Probleme hat. So ist es ja nicht gerade imagefördernd, wenn man als großes Russland von Nordkorea bis Iran um Waffen bitten muss, und wenn zugleich Hunderttausende Russen, vor allem solche mit qualifizierten Berufen, das Land verlassen haben, die der Wirtschaft substanziell fehlen.
Was bedeutet vor diesem Hintergrund der für Freund und Feind völlig überraschend gekommene ukrainische Vorstoß?
Eine ganze Menge:
- Die Ukraine hat in einer Woche mehr Territorium erobert als die Russen im ganzen heurigen Jahr bei ihren mühsamen Vorstößen im Osten der Ukraine.
- Die Meldungen über eine solche energische Angriffsaktion wirken psychologisch mobilisierend auf das ganze Land, das in den letzten Jahren sehr viele deprimierende Nachrichten erdulden hat müssen, das unter ständigen Bombenangriffen leidet und das seit längerem keine nennenswerten Gegenoffensiven mehr zustande gebracht hat.
- Die erfolgreiche Geheimhaltung ist ein erstaunlicher Beweis für die nunmehrige Professionalität der ukrainischen Armee, die auch von keinem ausländischen Geheimdienst (mehr) unterminiert scheint.
- Wladimir Putin wurde die schlimmste Demütigung seiner bisherigen Karriere zugefügt.
- Die Ukraine hat damit vor allem in den Westen Signale geschickt, die psychologisch fast noch wichtiger sind als an der Heimatfront. Gibt es doch immer öfter Stimmen zu hören, die in etwa sagen: "Bei aller Sympathie für die Ukraine, aber sie hat keine Chance in diesem Krieg. Daher sollten wir nicht neues gutes Geld dem schon verlorenen nachschieben." So hat der im Wahlkampf steckende CDU-Mann Kretschmer aus Sachsen als erster seiner Partei eine Reduktion der Waffenhilfe für die Ukraine verlangt.
- Es handelt sich um den ersten großen und flächendeckenden Angriff auf Gebiete einer atomaren Supermacht in der Geschichte.
- Seit einer Woche fällt dieser keine Antwort darauf ein außer den üblichen Drohungen.
- Es ist überhaupt erst der vierte Angriff auf russisches Territorium seit Napoleon, seit den Polen zwischen 1919 und 1921 sowie seit Hitler.
- Im Grund muss Russland trotz aller Angriffserfolge schon die vierte schmerzhafte Teilniederlage in diesem Krieg hinnehmen. Die erste war die Vertreibung der russischen Kräfte aus der Umgebung der Hauptstadt Kiew, deren Einnahme samt Sturz der Regierung eindeutig oberstes Ziel der Russen gewesen war. Die zweite Niederlage war der Verlust großer Gebiete im Südwesten der Ukraine und vor allem der Großstadt Cherson. Der dritte, fast noch wichtigere Rückschlag war die Vertreibung der russischen Flotte aus großen Teilen des Schwarzen Meeres. Diese hat sich in die russischen Häfen im Osten des Meeres zurückziehen müssen, und die Ukraine hat dadurch ihre Getreideexporte wieder aufnehmen können.
- Dass die Zielrichtung des ukrainischen Vorstoßes in die Richtung der Stadt Kursk geht, erinnert viele Russen an ein anderes demütigendes Ereignis: an den Untergang des U-Bootes "Kursk" durch einen Unfall im Jahr 2000, bei dem 118 Marinesoldaten ums Leben kamen.
- Die Ukraine hat die Russen in einem Raum attackiert, wo diese keine ausreichende militärische Präsenz hatten. Das ist in Grenznähe ein schwerer militärischer Fehler.
- Die Ukraine zwingt damit die Russen, ihre Truppen künftig auf eine viel längere Frontlinie aufzuteilen. Sie können sich nicht mehr ganz auf jene Abschnitte auf ukrainischem Boden konzentrieren, wo sie in den letzten Monaten schrittweise Vorstöße erzielt haben.
- Die Ukraine dreht damit das Spiel um: Sie hatte bisher selbst ja immer auch dort Reserven halten müssen, wo die Russen die Grenze noch nicht überschritten, aber durch ein paar Manöver bei den Ukrainern immer wieder die Sorge ausgelöst haben, dass sie das tun könnten. Das galt insbesondere für die Grenze der Ukraine zu Belarus, dem engsten Alliierten Russlands.
- Besonders peinlich könnten für Moskau die Gerüchte sein, dass die russische Armeeführung sehr wohl Hinweise auf ukrainische Angriffe Richtung Kursk hatte, diese aber nicht ernst genommen, sondern als Ablenkungsmanöver eingestuft hatte. Dieses Gerücht könnte einerseits von Kiew nur erfunden worden sein; es könnte andererseits aber auch zutreffen. Das werden wir freilich erst dann sicher wissen, wenn es in den nächsten Tagen plötzliche Revirements in der russischen Armeespitze geben sollte.
- Ein ganz wichtiges Ziel hat die Ukraine jedenfalls schon erreicht: Sie hat in den Augen auch der Russen das Image von Machthaber Putin schwer erschüttert. Dieser steht plötzlich als Kaiser ohne Kleider da. Das heißt zwar noch nicht, dass Putin darüber stürzen wird. Aber viele Russen werden sich wohl über den ukrainischen Wirkungstreffer wundern.
- Vor allem steckt Moskau jetzt tiefer denn je im Dilemma der eigenen Lüge, dass alles ja nur eine militärische "Spezialoperation" sei. Daher wagt Putin auch jetzt nicht zu sagen, dass da ein Krieg tobt, sondern spricht von "terroristischen Aktionen". Ohne einen Krieg kennen zu wollen, kann er aber auch kein Kriegsrecht und keine große Mobilisierung verkünden – die getarnt freilich schon weitgehend versucht worden ist.
- Am allerwichtigsten aber: Gelingt es der Ukraine, längere Zeit russisches Gebiet zu halten, dann fällt auch das ganze Narrativ der Gefolgsleute Putins in der EU, wie insbesondere Ungarns Viktor Orbán einer geworden ist, in sich zusammen. Er hat gelautet: "Sofortiger Waffenstillstand an den jetzigen Frontlinien, und dann wird verhandelt." Dieses "Rezept" hat aber in fast allen bisherigen Kriegen praktisch immer bedeutet: Waffenstillstandslinien verfestigen sich im Lauf der Zeit zu dauerhaften Grenzen. Sie wären daher ein großer Erfolg Moskaus – bis vor einer Woche. Putin kann aber nie und nimmer dem Verlust russischer Territorien zustimmen. Damit hätte die Ukraine jetzt ein Faustpfand, um damit auch die Rückgabe der eigenen Territorien einzuhandeln.
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