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Andreas Khol und die einzig mögliche (aber unmögliche) Lösung der Migrationskrise

Es ist die rechtlich klarste Stellungnahme eines österreichischen Spitzenpolitikers zum Migrationsproblem, die ich bisher je gefunden habe. Die Vorschläge von Andreas Khol, dem ehemaligen Nationalratspräsidenten, sind vor allem die einzigen, die es erreichen würden, das größte Problem für viele Bürger Europas ohne katastrophale Nebenfolgen in den Griff zu bekommen. Gelingt das nicht, so fürchtet Khol – wohl zu Recht – um den künftigen Bestand der Europäischen Union wie auch des Europarates wie auch der Demokratie in Europa.

So klar juristisch wie demokratiephilosophisch durchanalysiert hat das bisher noch kein österreichischer Politiker. Auch nicht in Khols eigener Partei ist das jemals klar gesagt worden. Auch der von der Zadic-Justiz gestürzte Ex-Kanzler Sebastian Kurz hat immer nur vage auf das australische Beispiel verwiesen, nicht jedoch die rechtlichen Aufgaben durchschaut (Das von Kurz zum Vorbild genommene Australien kann sich außerhalb Europas in einem total anderen Rechtsrahmen bewegen als etwa ein EU-Land). Khol hat aber in seiner eigenen Partei schon lange keine Funktionen mehr.

Die ÖVP hat nach dem Abgang des habilitierten Verfassungsrechtlers Khol, nach Wolfgang Schüssel und dem einstigen Generalsekretär Michael Graff weit und breit keinen Spitzenpolitiker mehr, der auch nur annähernd mit all den verfassungs- und europarechtlichen Problemen vertraut und gleichzeitig mutig genug wäre, diese anzusprechen. Auch die vielfach als geistige Erbin angesehene Verfassungsministerin Karoline Edtstadler geht dem Migrationsthema enttäuschenderweise weitgehend aus dem Weg. Das hat freilich auch Khol selbst einst als Präsidentschaftskandidat gemacht (wohl um dem damaligen ÖVP-Chef Mitterlehner nicht zu sehr in den Rücken zu fallen, der die Bedeutung des Themas entweder nicht begriffen oder es großkoalitionär gemieden hatte), weshalb er auch ziemlich kräftig die Präsidentenwahl verloren hat.

Die Linksparteien würden das die Menschen so sehr bewegende Migrationsthema am liebsten überhaupt totschweigen. Aber auch die Phrasen der FPÖ sind nicht zielführend, die abwechselnd Europa oder Österreich in eine nie definierte "Festung" verwandeln wollen, und die behaupten, mit einem "roten Knopf" Probleme lösen zu können.

Wenn sie auch Jahre zu spät kommt, so ist Khols glasklare und in manchen Ohren radikal klingende Diagnose doch absolut richtig: "Die Sturzflut der gesetzwidrigen Einwanderung unter der unberechtigten Inanspruchnahme des politischen Asyls bedroht die ganze (Europäische) Union und die anderen Länder des Europarates in ihrem Bestand." Diesen – richtigen – Satz sollte man sich in seiner ganzen Bedeutung ins Bewusstsein prägen. Das sollte vor allem die nächste EU-Kommission und das nächste EU-Parlament.

Khols Therapie-Forderung zusammengefasst: Im gegenwärtigen Europarechts- und Verfassungsrahmen kann eine Lösung nur mittels völker- und europarechtlicher Änderungen erreicht werden. Das hat auch dieses Tagebuch schon immer wieder betont.  Khol in dem von ihm mitherausgegebenen und vor wenigen Tagen erschienenen "Österreichischen Jahrbuch für Politik 2023" wörtlich: "Eine wirksame Eindämmung der illegalen Einwanderung wird erst nach geeigneten Maßnahmen, wie z.B. einer authentischen Interpretation des Artikels 3 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) oder einer vertragsrechtlichen Maßnahme zur Verhinderung des Missbrauchs des Rechts auf ein Asylverfahren im Inland erfolgen können."

Dem ist absolut zuzustimmen. Der auf solche rechtlichen Änderungen verzichtende EU-Migrationspakt, den man schnell vor den Europawahlen beschlossen hat, ist völlig unzureichend. Khol: "Der Großteil der im derzeit diskutierten Migrationspakt vorgeschlagenen Maßnahmen (Grenzschutz, kürzere Verfahren, Verfahren an der Außengrenze, Verfahren in Drittländern) kann das Problem nicht lösen, nur mildern"; es sei denn, diese Maßnahmen würden "dem EU-Vertragsrecht widersprechen".

Ohne europarechtliche Änderungen ist es auch völlig sinnloses Parteigezänk, dem Innenminister oder sonstwem die Schuld an der Migrationswelle zu geben. Freilich sollte man schon anmerken, dass die Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofs noch zusätzlich immigrationsfreundliche Akzente setzt, die noch ein wenig über die (den VfGH bindenden) Vorgaben durch den die Menschenrechtskonvention judizierenden "Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte" (EGMR) hinausgehen. Die deutlich restriktivere Judikatur des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts wird von den VfGH-Richtern immer wieder ausgehebelt.

Khol verweist darauf, dass alle Forderungen wie ein sofortiger Asyl-Stopp, wie die Abschiebung in alle Herkunfts- oder Durchreiseländer, wie Einreiseverweigerung an der Grenze "nur mit Brüchen der EMRK und der EGC (Anm: das ist die der EMRK nachempfundene Grundrechtecharta der EU) und Missachtung der Urteile der Gerichtshöfe umsetzbar" sind.

Während ein Staat Urteile des zum Europarat gehörenden EGMR (er ist in Straßburg daheim), der über die EMRK urteilt, noch relativ folgenlos ignorieren kann, wie es jetzt etwa Großbritannien tut, geht das bei der EU-Grundrechtecharta nicht. Denn über die wird vom EU-Gerichtshof in Luxemburg judiziert. Khol: "Hier drohen schwere Sanktionen."

Khol zeigt klar die dramatischen politischen Folgen der Situation auf europäischer Ebene auf: "Das ungelöste Einwanderungsproblem ist eine Gefahr für alle Mitgliedsstaaten der EU und für Demokratien darüber hinaus: So lange es ungelöst bleibt, werden Regierungen abgewählt. Die Bevölkerungen verlangen (Anmerkung: von den Regierungen) Unmögliches: ein Ende der unkontrollierten Einwanderung. Dies erfordert europäische Lösungen und Europäische Rechtsakte, die sich nicht abzeichnen. Wer sie trotzdem verspricht, wird gewählt. So erklärt sich der Ruck in Europa hin zu rechtsextremen und radikal rechten Parteien. Damit ist das ungelöste Problem der illegalen Einwanderung in Europa die größte Gefahr für unsere Demokratien und die Europäische Union."

Hochinteressant ist aber auch die rechtliche Detailanalyse des – lange beim für die EMRK zuständigen Europarat tätig gewesenen – Verfassungsrechtlers: "Die Genfer (Flüchtlings-)Konvention wird oft als Grundlage des Asylrechts bezeichnet. Das ist falsch. Sie enthält ebenso wenig wie die EMRK und die Verfassung der EU inklusive Europäischer Grundrechtscharta ein Recht auf Asyl." Die – zu Unrecht oft als Problemursache hingestellte – Genfer Konvention enthalte auch "kein Recht auf Betreten eines Staatsgebietes".

In ihr finde sich lediglich ein Verbot, Schutzbedürftige in Länder abzuschieben, "wo sie Verfolgung zu gewärtigen haben". Auch die EMRK enthalte kein solches Recht auf Einreise in ein fremdes Staatsgebiet und auf Asyl. In ihrem Artikel 3 findet sich lediglich der "Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung".

Schuld an der Massenmigration sind also nicht jene zwei oft kritisierten Konventionen. Khol kritisiert vielmehr die Judikatur des EGMR. Dieser Gerichtshof "hat durch seine ,dynamische Rechtssprechung‘ dieses Recht so ausgelegt, wie es nie beabsichtigt war: eine Abschiebung in ein Drittland, in dem die Garantien für ein gerechtes Gerichtsverfahren nicht gegeben sind, bedeutet eine unmenschliche Behandlung im Sinn des Art. 3 der EMRK und ist daher verboten." Gemäß dieser Ansicht des Gerichthofs ist sogar eine Abschiebung in die EU-Staaten Griechenland und Ungarn verboten …

Neben der sich von den Rechtsgrundlagen entfernt habenden Rechtssprechung des EGMR (welcher der VfGH bereitwillig folgt) arbeitet Khol noch einen zweiten Schuldigen an der Migrationskatastrophe heraus: Das ist der EU-Vertrag selbst, genauer: seine Fassung seit 1997.

Wörtlich: "Eine grundlegende, wesentlich neue und entscheidende Änderung brachte 1997 allerdings der Amsterdamer Vertrag: das Recht auf ein Verfahren über jeden Antrag auf Asyl im EU-Inland. Damit war ein Damm gebrochen: Jeder, der behauptet, Asyl beanspruchen zu können, darf einreisen und das Ende des diesbezüglichen administrativen und letztlich gerichtlichen Verfahrens im Inland abwarten."

Erst dadurch, erst durch die Folgen dieses EU-Vertrags, demzufolge jedem, der "Asyl!" ruft, die Einreise gestattet werden muss, "greift, unabhängig von allem anderen, der Abschiebeschutz im Sinne der Genfer Konvention", der durch die EMRK und die EU-Grundrechtscharta noch vergrößert worden sei.

Der zentrale Satz der Kholschen Analyse: "Damit wurde der Migration unter dem Vorwand der Asylsuche das Tor weit geöffnet." Die deprimierende Erkenntnis des ehemaligen Parlamentspräsidenten im konkreten juristischen Detail: "Alle derzeit panisch gesuchten Wege der Union, der unter dem Vorwand der Asylsuche über Europa hereingebrochenen illegalen Einwanderung eine Ende zu bereiten, müssen so lange scheitern, als Art. 3 EMRK (und die korrespondierenden Bestimmungen der EU-Grundrechtscharta) sowie die Bestimmungen aus dem Amsterdamer Vertrag in Teil V des EU-Vertrags (Art. 67ff) unverändert gelten."

Kommentierend muss man diese messerscharfe Analyse freilich mit einigen Hinweisen ergänzen:

  1. Es ist freilich eine Sisyphos-Arbeit, sowohl eine Abänderung des EU-Vertrages wie der Menschenrechtskonvention zu erreichen. Es ist aber der einzige demokratische und rechtsstaatliche Weg. Jeder andere Weg bedeutet entweder eine Revolution oder einen Kollaps der westeuropäischen Staaten einschließlich Österreichs (nur Mittelosteuropa kann sich dann retten). 
  2. Die ÖVP täte extrem gut daran, diese Position ihres großen alten Mannes zu übernehmen und zwar voll, und sie zur zentralen Forderung ihrer EU-Politik zu machen.
  3. Man muss sich freilich darüber klar sein, dass solche Änderungen den einstimmigen Konsens aller EU- und auch Europaratsmitglieder erfordern. Dieser ist aber realistischer Weise fast nicht erreichbar, weil es immer in der EU einige sozialistisch regierte Länder geben wird (wie derzeit in Deutschland, Spanien oder Teilen von Benelux).
  4. Genau aus dieser Erkenntnis heraus macht Großbritanniens EU-Austritt – so katastrophal er sich wirtschaftlich auch auswirkt – zumindest migrationspolitisch Sinn, vor allem zusammen mit dem Beschluss der Londoner Regierung, künftig auch diesbezügliche EGMR-Urteile zu ignorieren.
  5. Wenn man Khols Diagnose teilt, dass bei einem Nichthandeln EU und Demokratie bedroht sind, dann muss man angesichts einer so dramatischen Gefahr bereit sein, auch radikal alle Konsequenzen zu ziehen, um ans notwendige Ziel zu kommen. Diese Konsequenzen bedeuten: Den unwilligen linken Ländern ist anzudrohen, die EU ohne sie gleichsam neuzugründen, wenn sie sich den von Khol geforderten Beschlüssen widersetzen (dabei geht es zwar nicht nur ums EU-Recht, sondern eben auch um eine Novellierung oder authentische Interpretation der weit mehr Signatare habenden EMRK; das wäre aber durchsetzbar, wenn EU-Staaten plus Großbritannien eine solche fordern).
  6. Die Fehlentwicklung der Union bei der Migration ähnelt frappant der EU-Politik beispielsweise zur "Klimarettung" oder zu den Lieferkettengesetzen. Immer wieder übernimmt man sich in der EU in krankhafter Großmannssucht bei der Ausrufung scheinbar oder wirklich idealistischer Ziele. Und riskiert so immer mehr die eigene Zerstörung.
  7. Auch Khol, dem für diese mutige Analyse großer Dank zu zollen ist, kann man freilich die Kritik nicht ersparen, dass Österreich und die damalige große Koalition 1997 dem Amsterdamer Vertrag zugestimmt haben, dass auch keine Detailkritik aus Österreich zu jenen Artikeln bekannt geworden ist. Khol ist damals ein sehr einflussreicher Politiker gewesen. Allerdings ist der damaligen Politik zugute zu halten, dass es realpolitisch fast unmöglich gewesen wäre, als frischgebackenes EU-Mitglied die Megakeule eines Vetos gegen die schon lange verhandelte Weiterentwicklung des Maastricht-Vertrags zu schwingen.
  8. Auch die FPÖ (die so wie die Grünen davor den EU-Beitritt abgelehnt hatte) hat sich damals auf Skurrilitäten wie Schildläuse konzentriert und die Bedeutung von Artikel 67ff übersehen. Diese ist damals auch sonst niemandem wirklich mit allen Konsequenzen klar geworden.
  9. Khol ist jedenfalls für die Erkenntnis zu danken, dass nicht jene die Demokratie gefährden, die auf grundlegende Änderungen des sogenannten Menschenrechtsschutzes pochen, sondern jene, die alles beim Status quo lassen wollen.           

PS: Khol übt in seinem Text auch in anderen Zusammenhängen Kritik an der österreichischen Verfassungslage. Der Verfassungsgerichtshof könne zwar "verfassungswidriges Handeln beseitigen"; er kann aber "verfassungsgemäße Rechtsetzung" nur verlangen, "nicht erzwingen". Deshalb ist aber auch, obwohl das Khol nicht erwähnt, die Argumentation der Medienministerin Raab grundfalsch, dass die Koalition auf Grund eines VfGH-Erkenntnisses verpflichtet gewesen wäre, die unbeliebte ORF-Haushaltsabgabe auch für alle jene einzuführen, die den ORF nicht konsumieren. In anderen Bereichen, so Khol selber, bleibt die Regierung trotz VfGH-, beziehungsweise EGMR-Auftrags hingegen taub: "Die Untätigkeit der zuständigen Minister bei der Einbringung von Regierungsvorlagen beispielsweise zur notwendigen Reform des Strafrechts und des Strafverfahrens entsprechend den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs und des Verfassungsgerichtshofs sind (wohl gemeint: ist) skandalös." Dabei geht es zweifellos vor allem um die vom Gerichtshof immer wieder zu Recht getadelte lange Verfahrensdauer.

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