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Wie die Demokratie zu retten ist

Vor einigen Tagen war hier eine deprimierende Faktensammlung über den gegenwärtigen Zustand der Demokratie in vielen Ländern, insbesondere auch in Österreich, zu lesen. Was aber sind die Alternativen? Mit Sicherheit ist der Ruf nach einem starken Mann ein Irrweg, wie uns die Geschichte immer wieder brutal zeigt. Es muss wohl in eine komplett andere Richtung gehen, soll die Zukunft unserer Gesellschaften eine gute und stabile bleiben (oder werden).

Wir sind nämlich den Weg der Demokratie bisher in Wahrheit nur halb gegangen; es ist dringend notwendig, dass wir ihn ganz gehen, dass die Republik wirklich Sache des Volkes wird, dass in der Demokratie wirklich das Volk herrscht – wie es ja eigentlich auch schon die lateinischen beziehungsweise griechischen Wortwurzeln aussagen. Sonst wird sich das Volk vom politischen System verabschieden.

Viele, oft gut gemeinte Versuche, die gegenwärtigen Defizite der repräsentativen Demokratie zu beheben, sind jedoch gescheitert, oder haben zumindest nichts Wesentliches verbessert. Dazu zählten insbesondere folgende Konzepte oder Schlagworte:

  1. Mehrheitswahlrecht (es sorgt zwar leichter für regierungsfähige Mehrheiten, ist aber im Grund noch undemokratischer, weil die "Mehrheiten" oft gar keine sind);
  2. Einerwahlkreise (also: "The Winner takes it all") sind nur eine Unterform der mehrheitsfördernden Systeme;
  3. zweistufige Systeme mit Stichwahlen zwischen den beiden Bestplazierten (sind auch nur eine Unterform des Mehrheitswahlrechts);
  4. Persönlichkeitswahlrecht, das die Parteien entmachtet (ein Parlament voller "Persönlichkeiten" ist zwar lustiger, aber kein Schritt zur Demokratie und wird durch Selbstdarsteller keineswegs arbeitsfähiger oder bürgernäher);
  5. Rätesysteme nach sowjetischer Art (Da braucht es wohl keine näheren kritischen Hinweise – dennoch tauchen bei den Grünen solche Vorschläge regelmäßig auf);
  6. Parteiinterne Vorwahlen (diese führen dazu, dass radikale Kandidaten deutlich bessere Chancen haben. Man denke an die Ergebnisse der SPÖ-Vorsitzendenwahl. Man denke an Trumps Weg nach oben. Man denke an jenes Rechenbeispiel, das die Defizite auch mathematisch zeigt: Angenommen, es gibt in einem Land 26 Prozent Rechte, 26 Prozent Linke, die jeweils eine von zwei gleich großen Parteien beherrschen; da gehen die 48 Prozent Gemäßigten total unter, weil sie in ihren jeweiligen Parteien immer in der Minderheit bleiben und es herrschen entweder die 26 Prozent Rechten, wenn sie eine Stimme mehr bekommen, oder die 26 Prozent Linken).

Keines dieser Systeme hat die repräsentative Demokratie wesentlich verbessert, kann es auch gar nicht.

All diese Varianten haben im Grund das gleiche Defizit wie das gegenwärtige österreichische System: Die Entfremdung zwischen den Parlamentariern und dem Volk bleibt groß. Nach welchem System auch immer gewählt wird: Die Wähler können nur Parteien und Personen wählen, mit denen sie naturgemäß nie in allen Fragen einig sind; und schon gar nicht in jenen Fragen, die erst nach der Wahl auftauchen. Sie können – oft frustriert – nur das kleinere Übel wählen. Oder sie wenden sich von Wahlen und vom Staat ganz ab.

Die Bürger geben am Wahltag ihre Stimme ab; und erleben dann oft, dass sie diese im Wortsinn abgegeben haben, weil sie in den nächsten vier oder fünf Jahren in unzähligen Fragen anders denken als ihre "Vertreter".

Auch die Idee, Parlamente nach dem Zufallsprinzip zu besetzen, führt nicht weiter. Sie werden dadurch nicht einmal sonderlich repräsentativer als die heutigen Parlamente, weil viele Menschen gar keine Zeit und oft keinen Willen haben, plötzlich den eigenen Beruf aufzugeben und Parlamentarier zu werden, sodass neuerlich die Parlamente von der Klasse "Berufspolitiker" beherrscht werden.

Schon gar keine Besserung bedeutet die Entwicklung zum Richterstaat, wie wir ihn derzeit überall massiv beobachten können. Das ist sogar eine eindeutige Verschlechterung, denn Parlamentarier können wenigstens abgewählt werden, Richter kann man trotz ihres immer absoluter werdenden Machtanspruchs nicht abwählen. Ihre Macht ist wie die einstige Herrschaft des Adels, der Aristokratie. Auch diese ist übrigens oft über die Richterfunktion an die Macht gekommen.

Die logische Folge eines Richterstaats: Immer mehr fundamentale gesellschaftliche Entscheidungen werden von Richtern hinter verschlossenen Türen getroffen: Siehe etwa die Öffnung der Grenzen für illegale Migranten, die von den Bürgern immer mehr als Invasoren gesehen werden, samt Nichtabschiebung der Millionen vor allem aus islamischen Ländern (durch europäische Höchstgerichte); siehe etwa die Entscheidung über Abtreibung (durch US-Höchstgerichte); siehe etwa die Schwulenehe, die Erleichterung der Euthanasie oder die ORF-Finanzierung (durch Entscheidungen des österreichischen Verfassungsgerichtshofs).

Besonders übel: Die Bürger durchschauen die hochproblematische Rolle machtgieriger Höchstgerichte meist nicht wirklich, weil diese ja von keiner Opposition kritisiert werden, weil sich diese daher auch nie öffentlich rechtfertigen müssen, sondern meist im stillen Kämmerchen ihre Entscheidungen treffen. Die Bürger richten daher ihre Verachtung auch über richterliche Entscheidungen gegen die – für sie – sichtbaren Parlamente und die Institution Demokratie.

Der Grundfehler aller genannten Systeme: Sämtliche Sachentscheidungen bleiben in den Händen einer wie auch immer bestellten, aber jedenfalls – selbst bei besten Absichten – abgehobenen politischen oder richterlichen Klasse.

In Wahrheit ist es jedoch der Anspruch der Wähler in einer Demokratie, über Sachfragen zu entscheiden. Das ist auch ihr moralisches Recht, nimmt man den Anspruch etwa der österreichischen Verfassung ernst, dass das Recht nur vom Volk ausgeht. Die Wähler wollen nicht nur entscheiden, ob die Person X oder die Person Y für sie die wirklich wichtigen Entscheidungen trifft. Sie wollen diese selber treffen.

Es braucht zwar in einer direkten Demokratie auch weiterhin (wohl über Parteilisten zu wählende) Abgeordnete, die in Parlamenten die Gesetzgebungs-Routine und die Exekutiv-Kontrolle ausüben. Das Entscheidende in einer echten Demokratie muss aber sein: Die Bürger bekommen das Recht, in jeder Frage, die einer bestimmten Anzahl von ihnen als wichtig erscheint, die letzte Entscheidung an sich zu ziehen und dabei eben auch Entscheidungen von Parlament und Regierung zu korrigieren. Diese direkte Demokratie ist derzeit weitaus am besten in der Schweiz realisiert, wo auf allen Staatsebenen die Mehrheit der Bürger in Referenden letztgültig entscheiden kann. Wo Richter wie Parlamentarier nur so weit agieren können, wie die Stimmbürger geschwiegen haben.

Warum aber kommt es in anderen Ländern gar nicht oder nur extrem mühsam und langsam zu Entwicklungen in diese Richtung? Aus einem klaren Grund: Darüber müssten ja erst die Parlamentarier entscheiden. Direkte Demokratie ist aber immer eine Teilentmachtung der Parlamente. Was deren Angehörige natürlich nur sehr ungern tun. Sie bringen tausenderlei konstruierte Einwände gegen direktdemokratische Entwicklungen vor, die meist immer auf eines hinauslaufen: Sie selbst seien gescheiter als das dumme Volk.

Zumindest die Schweiz zeigt aber, dass die Entscheidungen der Stimmbürger im Schnitt klüger, besser und verantwortungsvoller ausfallen als die Entscheidungen in fast allen repräsentativdemokratischen Systemen. Das kann kein Zufall sein. Das kann wohl auch nicht mit irgendwelchen genetischen Unterschieden zusammenhängen, dass etwa die Schweizer von Natur aus reifer wären. Auch wenn man darüber streiten kann, ob der Nichtbeitritt zur EU vorteilhaft war – aber in der Bilanz steht die Schweiz heute dennoch in jeder Hinsicht besser da als der EU-Schnitt. Sie hat sich jedenfalls damit nicht erkennbar geschadet.

Und auch das Argument "Die haben halt die direkte Demokratie seit langem gelernt" ist hanebüchen. Haben doch die Schweizer auch einst keine schwachsinnigen Entscheidungen getroffen, als sie es noch nicht "gelernt" hatten. Angesehen davon, weiß ich nicht, was Berufspolitiker konkret lernen müssten, bevor sie Politiker werden.

Die wichtigsten Vorteile direktdemokratischer Systeme im Detail:

  1. Im österreichischen Parlament, und nicht nur dort, fallen besonders in Vorwahlzeiten immer wieder gravierende Entscheidungen in turbulenten nächtlichen Sitzungen, wo Hektik und Taktieren so schlimm eskalieren, dass niemand mehr glauben machen kann, da wäre noch durchdachtes Verantwortungsbewusstsein im Spiel (man erinnere sich an die Faymann-Aktionen, wo von Rot und Blau binnen weniger Stunden tief in die Staatskasse gegriffen worden ist, um dort Hunderte Millionen zur Wählerbestechung herauszunehmen). In einer direkten Demokratie hingegen gibt es vor jeder Entscheidung jedenfalls monatelange öffentliche Diskussionen, in denen beide Seiten fair ihre Argumente darlegen können, bevor die finale Entscheidung an der Urne fällt.
  2. Direkte Demokratie führt zu einer weit höheren emotionalen Identifizierung der Bürger mit dem Staat.
  3. Eine direkte Demokratie ist viel resilienter gegen autoritäre Entwicklungen als repräsentative Systeme mit ihrer Missbrauchsanfälligkeit (siehe etwa die "Selbstausschaltung des Parlaments" in Österreich 1933. Siehe die Machtergreifung der Nazis in Deutschland und der tschechoslowakischen Kommunisten auf jeweils repräsentativ-demokratischem Weg).
  4. Dass direkte Demokratie zu einer höheren Wählerbeteiligung führt, kann man ebenfalls an der Schweiz ablesen: Während bei den Parlamentswahlen dort die Beteiligung seit 1979 nicht einmal mehr 50 Prozent ausgemacht hat, liegt sie bei wichtigen Referenden zwischen 60 und 70 Prozent.
  5. Bürger befassen sich mit konkreten politischen Themen erst dann ernstlich und intensiv, wenn sie selber zur Entscheidung darüber aufgerufen sind – sonst schimpfen sie immer nur im Nachhinein, wenn sie die Auswirkungen der Entscheidung spüren.
  6. Bürger beachten in Summe viel mehr als Politiker die Langfristfolgen einer von ihnen gefassten Entscheidung. Politiker haben als Entscheidungshorizont praktisch immer nur die nächsten Wahlen, Bürger hingegen ihr ganzes Leben und das ihrer Kinder im Auge.
  7. Bürger haben daher meist auch eine größere Aversion gegen Schulden oder Steuererhöhungen als Politiker.
  8. Das Gefühl, selbst mitbestimmt zu haben, reduziert den Frust und die Entfremdung, die die repräsentative Demokratie derzeit zu ersticken drohen und die so viele nach dem starken Mann rufen lassen.
  9. Populismus, also Wählerbestechung durch Politiker zugunsten bestimmter ins Auge gefasster Wählergruppen, kann nur bei repräsentativen Systemen passieren. Die Stimmbürger als Ganzes können sich nicht selber bestechen.

Rolle der Kommunikation am Weg der Demokratie

Auch wenn es direkte Demokratie als vereinzelte Ausnahme schon im vorchristlichen Athen und in der römischen Republik (jeweils nur für freie Männer) gegeben hat, ist es im großen Blick über die Geschichte eindeutig: Die Entwicklung der Staatssysteme hängt sehr eng mit der Entwicklung der Kommunikation zusammen.

In den Jahrtausenden, als nur wenige Menschen lesen und schreiben konnten, war es fast zwingend, dass die Macht bei jenen landete, die das konnten (oder die sich Schreiber halten konnten). 99 Prozent aller Staatssysteme waren daher lange absolutistisch.

Das Christentum brachte dann eine erste deutliche Relativierung der absoluten Macht einer einzigen Person. Siehe etwa die Zweischwerterlehre. Das Christentum brachte vor allem einen zentralen Grundwert in die gesellschaftliche Entwicklung: den der vorher völlig unbekannten Menschenwürde jedes einzelnen. Es entwickelte daneben auch erste zarte Ansätze einer Demokratie: etwa durch Abstimmungen über die Abtwahl oder in Konzilien.

Neben der Kirche brachte auch die Herausbildung von Ständen und die Rolle der Bürgermeister weitere kleine Ansätze zur Relativierung der absoluten Macht.

Das waren aber wirklich nur Ansätze. Den entscheidenden Durchbruch brachten eindeutig der Buchdruck und die mit diesem zusammenhängende allgemeine Schulpflicht. Als zumindest in Europa fast alle lesen konnten, war der Schritt zur repräsentativen Demokratie logisch und unausweichlich. Die Menschen begriffen erst durch das Lesen und durch die in der gleichen Epoche entstehenden Medien ein wenig, worum es in einem Staatswesen überhaupt geht. Vorher war der Herrscher so weit weg wie der liebe Gott (weshalb sich vor allem in vorchristlicher Zeit Herrscher auch gleich zu Göttern erklären konnten).

An diesem Zusammenhang ändert die Tatsache nichts, dass der Schritt von der allmächtigen Herrschaft eines Gottesgnaden-Fürsten zur Demokratie ein sehr zäher und langwieriger gewesen ist. Siehe etwa die Etappen in Österreich:1848/1867/1907/1918/1920/1945/1955.

Nach rund zweihundert Jahren war das Wort Demokratie so global dominierend geworden, dass im 20. Jahrhundert selbst die allergrässlichsten Diktaturen vorgaben, Demokratien zu sein. Dadurch wurde "Demokratie" auch eines der meist missbrauchten Wörter:

  • Die totalitären Diktaturen der Kommunisten gaben vor, "Volksdemokratien" zu sein.
  • Auch Hitler hat seine ebenso totalitäre Herrschaft als "wahre Demokratie" bezeichnet.
  • Umgekehrt wird gerne – besonders im 21. Jahrhundert – politischen Gegnern die Qualifikation abgesprochen, Demokraten zu sein. So wurde in den letzten Jahren hundertfach behauptet, dass in Polen die Demokratie zerstört worden wäre. Dabei haben dort jetzt perfekte Wahlen stattgefunden, bei der sich eine Regierung vom Volk problemlos abwählen ließ. Eine solche Abwahl aber ist der eindeutige Test, ob ein Land demokratisch ist.

In den letzten Jahrzehnten hat das Internet dann mit einem weiteren historischen Schritt, der in seiner Bedeutung nur mit der Kombination Buchdruck plus Allgemeine Schulpflicht vergleichbar ist, ganz neue Möglichkeiten der Kommunikation geschaffen. Erstmals können alle Menschen nicht nur passiv, sondern auch aktiv kommunizieren. Und das gleich weltweit.

Damit ist der nächste Schritt der politischen Staatenkonstruktion logisch und zwingend geworden. Das ist die direkte Demokratie. Auch wenn noch viele Kräfte versuchen, sie zu verhindern.

PS: Das Internet führt auch zwangsläufig zu einer Entmachtung der Journalisten. Sie sind nicht mehr die exklusiven Gatekeeper, die als "Vierte Staatsgewalt" total kontrollieren können, was das Volk erfährt und was nicht. Das erklärt aber auch, warum die traditionellen Journalisten die direkte Demokratie nicht sonderlich mögen, und warum sie so vehement Internet-Blogs und soziale Medien attackieren, weil es dort Fake News gebe. Als ob sie nicht selbst mindestens genauso Fake News am laufenden Band produzieren und Propaganda weitertragen, wie etwa zuletzt die der Hamas.

PPS: Die eigentlich fundamentalste Ausprägung des Demokratie-Prinzipes ist das Selbstbestimmungsrecht. Dieses wird heute noch von vielen Länder verwehrt, auch von solchen, die als Demokratie gelten. Zwar steht das Selbstbestimmungsrecht in der UN-Charta, wird aber weitgehend ignoriert, obwohl es zweifellos zusammen mit einem internationalisierten Minderheiten-Schutz die beste friedliche Methode zur Regelung der unendlichen Balkankonflikte wäre, aber auch des Ukraine-Krieges, ebenso wie der Basken-, Flamen-, oder Katalonien-Konflikte. Wie kann es Demokratie sein, wenn ich, wenn meine ganze Region zu einem Staat gehören müssen, zu dem eine Mehrheit von uns gar nicht gehören will?

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