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Was ist der Unterschied zwischen Kosovo und Berg-Karabach?

Wenn alle Polizisten außer Dienst sind, dann haben bald Gauner und Verbrecher, also das Faustrecht, das Sagen. Diese Erfahrung haben in der Geschichte schon viele Städte gemacht. Derzeit macht sie bald die ganze Welt. Die Weltpolizisten wollen oder können nicht mehr. Die Reservepolizisten begnügen sich mit dem Ruf "Seid brav!" oder gar mit dem infamen Verlangen, dass sich Opfer und Rechtsbrecher halt einigen sollen. Immer mehr Banditen und Gewalttäter entdecken das so entstandene globale Vakuum. Und die Bürger dieser Welt fragen sich immer besorgter nicht nur: "Wo ist die Polizei?", sondern auch: "Was ist eigentlich die Rechtsgrundlage, auf der wir gut und friedlich zusammenleben können?".

Um die Entwicklung an einem konkreten Vergleich zu zeigen: Im Grunde gibt es keinen Unterschied zwischen dem gegenwärtigen Drama im (fast gänzlich) von Armeniern bewohnten Berg-Karabach und dem, was einst in dem (fast gänzlich) von Albanern bewohnten Kosovo passiert ist. Beide Gebiete waren staatsrechtlich von anderen Ländern beansprucht und beherrscht worden: das eine von Serbien/Jugoslawien, das andere von Aserbaidschan. In beiden Gebieten wurden die jeweiligen Freiheitsbestrebungen von der Staatsmacht brutal niedergeschlagen und es kam zur Vertreibung, zur "ethnischen Säuberung" der Gebiete von ihren alteingesessenen Bewohnern.

Erst ab dieser Phase kam es zum dramatischen Unterschied: Die begonnene Vertreibung der Kosovo-Albaner wurde aus humanitären Gründen durch eine militärische Intervention der Westmächte gestoppt; und der Kosovo wurde – wenn auch von Serbien nie anerkannt – unabhängig. Vertreibung und Flucht der Armenier aus Berg-Karabach werden hingegen von niemandem gestoppt und sind binnen weniger Stunden zum irreversiblen Faktum geworden.

Nichts zeigt die schlimme Verschlechterung des Zustands der Welt klarer als dieser Vergleich. Dazu kommen die immer deutlicher werdenden Versuche Belgrads, die vom Westen geschaffene Unabhängigkeit des Kosovo wieder rückgängig zu machen.

Die nach 1945 weitgehend akzeptierte wichtigste Rechtsgrundlage der gesamten Welt ist de facto abgeschafft und nur noch in Völkerrechtshörsälen zu hören: Das war das allgemeine Gewaltverbot, das in der UN-Charta und vielen internationalen Verträgen genauso zu finden ist, wie es hinter der "Friedlichen Koexistenz" und dem "Kalten Krieg" gestanden ist, der durch den Gewaltverzicht nie ein heißer geworden ist. Dieses Gewaltverbot war global gültig, auch wenn es regional immer wieder durchbrochen worden ist, meist als "Bürgerkrieg" getarnt.

Ein schlimmes Menetekel für das Irrelevant-Werden des globalen Gewaltverbots waren freilich schon sehr früh die Überfälle des kommunistischen Nordens auf den Süden in Korea und Vietnam. Die Weltpolizei der letzten Jahrzehnte waren vor allem die Amerikaner – in diesen beiden und vielen anderen Konflikten. Heute aber haben sie in einem wachsenden Ausmaß genug davon. Donald Trump hat vor allem deshalb Siegeschancen, weil er seinen Landsleuten eine isolationistische Zukunft verheißt, in der sie angeblich gut leben können, wenn sie nur auf sich schauen und das ignorieren, was sonst in der Welt passiert. Nicht nur politisch und militärisch, sondern auch wirtschaftlich sollen die USA das über Bord werfen, was insbesondere unter Ronald Reagan das nationale wie internationale Erfolgsrezept gewesen ist, also den möglichst freien Welthandel.

Dazu kommt, dass die Amerikaner von Vietnam bis Afghanistan bei ihren Polizeieinsätzen für das internationale Recht und die Freiheit anderer Länder schlimme Blessuren davongetragen haben und erfolglos geblieben sind. Das alles hat die Bereitschaft der USA dramatisch reduziert, sich international militärisch zu engagieren. Für die ebenfalls aus dem (ex-?)kommunistischen Norden überfallenen Ukrainer gab es als Folge des um sich greifenden Isolationismus aus dem Westen nur noch Geld, Waffen und Geheimdienstinformationen. Aber auch diese Hilfe ist vom Auslaufen bedroht, weil ein Teil der Amerikaner wieder einmal wie am Ende des Vietnamkriegs, aber auch am Beginn der Weltkriege, zur Auffassung gekommen ist: "Was geht das uns an? Wir wollen unsere Ruhe haben."

Im schon jahrelang schwelenden Berg-Karabach-Konflikt hat sich immerhin auch Russland etliche Jahre in positiver Hinsicht als Weltpolizist betätigt. Es hat die dortigen Armenier ähnlich gegen die Bedrohung der islamischen Aserbaidschaner geschützt wie die Westmächte unter Führung der Amerikaner den Kosovo. Jedoch ist seit einiger Zeit alles anders – und das keineswegs nur, weil Russland durch seinen Angriffskrieg in der Ukraine militärisch schwer belastet ist. Es gibt noch viele andere und triftige Gründe, weshalb sich die Russen mit Aserbaidschan ausgesöhnt und die Armenier fallen gelassen haben. Denn:

  1. Aserbaidschan ist ethnisch, politisch und militärisch ganz eng mit der Türkei verbunden, mit der sich niemand gerne anlegt.
  2. Russland ist überdies durch den Ukraine-Krieg sehr von der wohlwollenden Neutralität der Türkei und ihrer Kontrolle über den Schwarzmeer-Zugang abhängig.
  3. Russland braucht die Schmuggel-Wege über die Türkei und Aserbaidschan dringend, um die internationalen Sanktionen zu umgehen.
  4. Die angeblich christliche Solidarität der Russen mit den Armeniern ist für einen zynischen Machtpolitiker wie Wladimir Putin nie ein echtes, sondern nur ein propagandistisches Anliegen gewesen.
  5. Vor allem würde das öl- und gasreiche Aserbaidschan zum gefährlichen Konkurrenten Russlands werden, wenn es seine Bodenschätze in Konkurrenz auf den Weltmarkt bringen würde. Für beide ist es daher viel profitabler, kartellartig zusammenzuwirken.
  6. Aber auch die Europäer, nicht zuletzt die Österreicher, setzten zuletzt immer mehr auf künftiges Gas aus Aserbaidschan – um der Abhängigkeit von Russland zu entkommen – und ignorieren die christlichen Armenier.

Auch rund um den Golf hat sich Russland neuerdings gut mit wichtigen Teilen der islamischen Welt arrangiert, während der Westen einerseits mit dem Iran unheilbar verfeindet ist und mit der arabischen Welt nie sonderlich warm wird, weil da der Palästina-Konflikt im Weg steht und weil die westlichen Regierungen immer wieder unter vor allem medialen Druck stehen, sich wegen dortiger Menschenrechtsverletzungen kritisch zu äußern. Diese Menschenrechtsverletzungen kümmern jedoch Russland und das immer mehr zur alliierten Führungsmacht gegenüber Russland werdende China keine Sekunde.

Europa versucht bisweilen, sich als dritte Macht ins Spiel zu bringen, die Ordnung in der Welt schaffen möchte. Jedoch meist nur rhetorisch. Denn wir sehen in der Realität:

  1. Das Engagement europäischer Friedenstruppen in den Sahelstaaten (wo es vor allem um den Schutz gegen islamistische Banden geht) war beim ersten Gegenwind wie weggeblasen. Dort hat der rasche europäische Truppenrückzug einem schlimmen Amalgam aus Gaunern, Islamisten, russischen Söldnern, putschenden Offizieren, Warlords und Korruptionisten Platz machen müssen.
  2. In die Ukraine liefern die Europäer zwar ähnlich wie die Amerikaner Waffen. Aber auch hier wächst die Unlust, damit weiterzumachen, siehe etwa das slowakische Wahlergebnis (das allerdings noch keine parlamentarische Mehrheit für einen prorussischen Kurs des auch sonst unter üblem Verdacht stehenden Sozialdemokraten Fico bedeuten muss).
  3. Ansonsten benimmt sich Europa der Dritten Welt gegenüber wie eine präpotente Gouvernante eines Mädchenpensionats. Das geschieht vor allem unter Druck der in Brüssel derzeit dominierenden Linksparteien und wird von den außereuropäischen Staaten massiv als paternalistische Einmischung empfunden. Siehe etwa die Lieferkettengesetze, bei denen man den Handelspartnern alle möglichen Vorschriften in Hinblick auf innere Gesetze machen will (etwa über Sozialgesetze von der Kinderarbeit bis zur Sozialversicherung, etwa über Korruption, etwa über Klimapanik-Gesetze, etwa über die Regenwälder).

Ansonsten schaut Europa selbst bei Kriegen in seiner unmittelbaren Umgebung wie etwa in Libyen krampfhaft weg – obwohl das dortige Chaos eine der Hauptursachen für die wachsenden Migrationswellen Richtung EU sind.

Kann eine Welt gut funktionieren, in der es keine Weltpolizisten gibt? Oder ist es eine gute Alternative, wie manche Rechte und Linke meinen, einfach die Welt in Einflusszonen aufzuteilen, die dann jeweils unter Oberaufsicht von Amerikanern, Russen und Chinesen stehen, wo Europäer und Inder Nebenrollen haben, und wo Afrika wie einst beim Kolonial-Wettlauf zwischen Briten und Franzosen für einen wilden Kampf aller Weltmächte um möglichst große Einflusssphären freigegeben ist?

Oder gibt es sonstwo Grundsätze und Rechtsregeln, die Basis einer guten Weltordnung sein könnten, die für Frieden sorgen könnten?

Der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen ist de facto kollabiert. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Grenzen oft Produkt von einstiger Willkür sind, von historischen Zufällen, von Kriegen, von den wilden Entwicklungen aristokratischer Erbfolge und Heiratspolitik, von Kolonial-Kompromissen, wo Grenzen einfach mit dem Lineal gezogen worden sind. Diese Grenzen als oberstes Gebot sind nur dann haltbar, wenn man Demokratie und Menschenwürde erstens nicht wirklich ernst meint, wenn zweitens ganze Volksgruppen bereit sind, sich willenlos dem Diktat der Herrschaftsmacht zu beugen, und drittens, wenn es eine internationale Polizei gibt, die für strikte Einhaltung dieses Prinzips sorgt.

Das Selbstbestimmungsrecht

Der einzige alternative Rechtsgrundsatz, der eine Basis für eine globale Friedensordnung sein könnte, wäre das Selbstbestimmungsrecht. Also das Recht jeder Region, in jenem Staat zu leben, auf den sich eine Mehrheit der dort lebenden Menschen festlegt. Dafür bräuchte es gewiss klare völkerrechtliche Regeln, damit nicht Zufallsmehrheiten für ständige Ungewissheiten sorgen können. Aber sonst wäre es der gerechteste und am wenigsten blutige Weg, der die relativ beste Grundlage für einen Frieden darstellt.

Jedoch: Das Selbstbestimmungsrecht steht zwar in der UN-Charta für die ganze Welt. Aber absurderweise wurde seine Anwendung dann auf eine einzige Situation reduziert: auf die einstige Befreiung von Kolonien vom Joch europäischer Herrscher. Aber auch dabei gab es keine Rücksicht darauf, ob die Menschen in den von den einstigen Kolonialherren und sonstigen Zufällen der Geschichte gezogenen Grenzen zusammenleben wollen oder nicht. Für alle anderen Konflikte meint die UNO ziemlich frech, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht zutreffe.

Hunderte, fast alle Konflikte dieser Welt beruhen aber auf Verletzung dieses Grundsatzes. Und damit auch auf einem direkten Gegensatz zu Demokratie und fundamentalen Menschenrechten.

Aber solange nicht einmal die sich ethisch für so hochstehend haltenden Europäer diesen Grundsatz akzeptieren, solange besteht keine Chance, dass dieses Prinzip global an Bedeutung gewinnt, solange gibt es keine Chance auf Weltfrieden.

Dieses Prinzip realisieren zu wollen, hieße konkret freilich auch für manche Zentralstaaten Unangenehmes und Unpopuläres. Nämlich, dass:

  • in Spanien Katalanen und Basken entscheiden könnten, ob sie Teil Spaniens bleiben wollen;
  • in Belgien Flamen und Wallonen, ob sie zusammenleben wollen;
  • Südtiroler, ob sie bei Italien bleiben wollen;
  • die Bewohner Siebenbürgens (Transsylvaniens), ob sie bei Rumänien bleiben wollen;
  • die Bewohner der "Republika Srpska", ob sie bei Bosnien bleiben wollen;
  • die Bewohner des Kosovo, ob sie Teil Serbiens sein wollen;
  • die Bewohner der von Serben bewohnten Randgemeinden im Kosovo, ob sie Teil des Kosovo oder zurück zu Serbien wollen;
  • oder die Kurden, ob sie etwa Teil der Türkei (und anderer Staaten) sein wollen.

Es gibt keine Rechtsregel, deren globale Anerkennung bessere Chancen für einen Weltfrieden böte als das Selbstbestimmungsrecht. Doch viele Rechte lehnen es ab, weil sie Zentralstaatsnationalisten sind.  Doch viele Linke lehnen es ab, weil es im (weitgehend aus christlichen Wurzeln kommenden) Naturrecht wurzelt und mit marxistischen Ideen absolut nichts zu tun hat.

Auch für den Ukraine-Krieg böte es die besten, fast die einzigen Friedenschancen (abgesehen von einem totalen Sieg), wenn die Bevölkerung der fünf teilweise besetzten Provinzen (oder von Teilregionen) in fairer Weise darüber abstimmen könnte, ob sie zur Ukraine oder Russland gehören will. Daran müssten natürlich auch alle Menschen unter internationaler Aufsicht teilnehmen, die in den letzten Jahren von dort vertrieben worden oder geflohen sind.

Aber wir steuern lieber auf einen neuen Weltkrieg zu, als darüber nachzudenken. Der droht fast unvermeidlich zu werden, ohne

  • funktionierende Weltpolizei;
  • und ohne Selbstbestimmungsrecht.

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