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Der Deutsche mit dem Rohrstaberl

Der Vertreter der EU-Kommission in Wien hat durch seinen "Blutgeld"-Sager nicht nur seine Unbildung enthüllt, sondern er ist mit elefantöser Rücksichtslosigkeit auch voll auf der sensiblen emotionalen Identität der Österreicher herumgetrampelt. Aber auch die Analyse seiner Attacke auf einer weiteren Ebene, also in Hinblick auf die Problematik der Importe russischen Gases nach Österreich, fällt zumindest zwiespältig aus – wobei zusätzlich die Haltung der SPÖ peinlich und widersprüchlich ist, die trotz beiläufiger Kritik an Martin Selmayrs Wortwahl zu seiner Unterstützung ausgerückt ist.

Einzige Klarheit besteht darin, dass der Anteil des russischen Gases an den Gasimporten nach Österreich zurückgegangen ist. Aber nur ein wenig. Dieser betrug vor dem Krieg 80 Prozent (in früheren Jahrzehnten sogar 90 Prozent). Derzeit beträgt er 66 Prozent.

Das ist zwar ein Rückgang gegenüber Vorkriegszeiten. Das ist aber dennoch noch immer – oder eigentlich schon wieder – bedenklich hoch: Diese 66 Prozent bedeuten eine deutliche Steigerung gegenüber den letzten Monaten. Nur ein einziger Monat in diesem Jahr hat einen höheren Anteil des Russengases an den Gasimporten nach Österreich gesehen. Die Steigerung wird noch viel deutlicher, wenn man die 66 Prozent des Juli 2023 (des letzten veröffentlichten Monats) mit dem Juli 2022 vergleicht. Denn damals betrug der russische Anteil nur 44 Prozent!

Es ist typisch für die Unsachlichkeit der Energieministerin Gewessler, dass sie und ihr Ministerium nicht – wie es bei jeder seriösen Analyse eigentlich üblich ist – die gleichen Monate vergleichen. Sie stellen vielmehr den Juli-Wert, wo der Russenanteil 66 Prozent gewesen ist, dem Februar 2022 gegenüber. Damals – also am Höhepunkt des Winters – hatte der russische Import sogar 79 Prozent betragen, während er im September des Vorjahres bloß 21 Prozent ausgemacht hat.

Den Trickser erkennt man an seinen Vergleichen. Mit diesem unguten Trick versucht Gewessler einen deutlichen Erfolg der Entrussifizierungspolitik zu verkaufen, obwohl seit einiger Zeit in Wahrheit wieder eine deutliche Zunahme des Gasimports aus Russland stattfindet.

Dabei könnte man dieses weitgehende Versagen bei der Entrussifizierung sogar damit verteidigen, dass die Gasspeicher jetzt zu 93 Prozent gefüllt sind. Das stellt einen Superwert und eine totale Entspannung gegenüber dem Vorjahr dar, in dem die Nervosität ob eines eventuell kalten Winters eines der dominanten politischen und medialen Themen gewesen ist.

Aber dieser österreichische Erfolg ist eindeutig damit verbunden, dass derzeit wieder deutlich mehr russisches Gas importiert wird. Die Russen machen keinerlei erpresserische Mätzchen mehr mit Unterbrechungen der Gasbelieferung. Sie unterbieten sogar deutlich den Weltmarktpreis, um im Geschäft zu bleiben. Sie tun dies ganz eindeutig zu dem Zweck, um damit ihren Krieg zu finanzieren, und die Wirkung der Sanktionen (die ja nie die Gaslieferungen selbst betroffen haben) zu konterkarieren.

Und Österreichs Gasimporteure – also vor allem die OMV – greifen zu. Das kritisieren jetzt neben Selmayr vor allem die heimischen Sozialdemokraten. Die SPÖ-Europaabgeordnete Regner: "Das Ziel ist, möglichst schnell aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu kommen, hier hat Österreich bisher wirklich zu wenig gemacht."

Theoretisch hat sie Recht: Österreich könnte den Import russischen Gases gesetzlich verbieten. Was aber hätte das für Folgen?

  • Erstens wäre damit die für Österreich so wichtige Versorgungssicherheit neuerlich gefährdet. Denn niemand kann sagen, in welchem Ausmaß russisches Gas rasch substituiert werden kann.
  • Zweitens könnten dadurch möglicherweise Schadenersatzforderungen von Gazprom in gigantischer Höhe entstehen. Österreich – konkret die OMV – hat ja sehr langfristige Verträge mit Russland mit Abnahmeverpflichtungen, über die letztlich von internationalen Handelsschiedsgerichten zu entscheiden ist. Allerdings sind die Erfolgschancen solcher Forderungen nicht sonderlich hoch, da ja auch Gazprom mehrfach vertragsbrüchig gewesen  ist.
  • Drittens – und vor allem – würde die Erfüllung der SPÖ-Forderung einen gewaltigen Sprung des Gaspreises nach oben auslösen. Der wäre mit Sicherheit auch höher als die derzeit kolportierten fünf Prozent. Denn jeder mit einer gewissen Kenntnis von globalen Marktentwicklungen weiß: Falls Österreich schlagartig den Gasimport aus Russland durch sonstige Lieferanten ersetzen will, werden diese mit Sicherheit ihre Preise erhöhen. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage wirkt immer, auch wenn es noch nie ein Gesetzgeber erlassen hat. Auch wenn das Hauptziel der Sozialisten, seit es sie gibt, darin besteht, die Wirksamkeit der Marktgesetze zu leugnen.

Eine Erhöhung der Gaspreise würde aber mit Sicherheit auch einen gewaltigen Auftrieb für die Inflation bedeuten, jedenfalls gleich um mehrere Prozentpunkte. Das wäre ein Riesenkatastrophe für das ganze Land mit Auswirkungen auf alle Sektoren. Das wissen die Österreicher und bezeichnen die Inflation derzeit als das größte Wirtschaftsproblem. Für die SPÖ ist sie das offensichtlich jedoch nur an jedem zweiten Tag, an dem sie sich maßlos über die Teuerung aufregt. An den anderen Tagen fordert sie Dinge, die die Inflation wieder anheizen.

Diese Hinweise sollen keineswegs bedeuten, dass Österreich nicht verstärkt an der weiteren Substitution des russischen Gases – durch eine Vielzahl(!) von Lieferanten – arbeiten soll. Diese Hinweise sollten aber noch mehr dazu ermutigen, dass in Österreich endlich an der Nutzung des unter dem eigenen Boden ruhenden Gases gearbeitet wird.

Aber jedenfalls sind die Österreicher verärgert. Verärgert darüber, dass in der Politik verlogen argumentiert wird. Zuerst von Gewessler, und dann von der SPÖ (von der Russlandliebe der FPÖ gar nicht zu reden).

Selmayr hätte nur dann recht, hätte er lediglich sachlich auf dieses Problem hingewiesen und gleichzeitig aber auch wahrheitsgemäß hinzugefügt, dass es keinen EU-Beschluss gibt, wonach ein Mitgliedstaat kein Gas aus Russland beziehen dürfe. Dass auch andere EU-Länder je nach Pipeline-Lage das tun.

Selmayr hat es aber vorgezogen, Österreich plump zu rügen. Und er hat sich noch dazu zu einer beleidigenden Wortwahl hinreißen lassen.

Ganz unabhängig von all diesen Zusammenhängen hat Selmayr mit dieser Wortwahl aus offensichtlicher Unwissenheit auch noch sprachlich einen kapitalen Bock geschossen. Beide auffindbaren Bedeutungen von "Blutgeld" machen seine Bemerkung noch viel beleidigender, als sie wahrscheinlich gemeint war. Denn dieses Wort bedeutet:

  • entweder eine Art Sühnegeld, das ein Mörder als Entschädigung an die Angehörigen des Opfers zahlen muss (solche Sühnegelder gab es im alten germanischen Recht und gibt es auch heute noch relativ häufig in der islamischen Welt, meist zur Anwendung von Blutrache),
  • oder eine Belohnung für die Anzeige eines Mörders oder Verbrechers (in dieser Bedeutung wird "Blutgeld" aber viel seltener verwendet).

Welche der beiden Bedeutungen immer durch Selmayrs Kopf geschwirrt sein mag: Sie treffen nicht auf die Bezahlung von Russengas zu.

Die schlimmste Bedeutung dieses Auftritts wird aber bisher nirgendwo offen angesprochen. Das ist die in historischer Erfahrung wurzelnde hohe Sensibilität der Österreicher, wenn sie jemand von außen herumkommandieren will. Diese Sensibilität ist dann ganz besonders hoch, wenn das noch dazu ein Deutscher tut. Auch wenn er das vielleicht nicht aus Absicht tut, sondern weil er von daheim einfach einen forscheren Umgangston gewohnt ist. Aber die Österreicher halten diesen Ton oft nicht aus.

Es ist daher geradezu hirnrissig und entbehrt jedenfalls jedes politischen Gespürs, wenn Brüssel ausgerechnet einen Deutschen als Repräsentanten nach Wien schickt. Noch dazu einen Deutschen, der schon in seiner früheren Funktion als Kabinettschef des EU-Präsidenten machtgierig bis präpotent aufgetreten ist. Präpotenter, als wir es ohnedies von deutschen Freunden gewohnt sind.

Die EU hat nämlich zu ihrem eigenen Schaden die einstige Tradition aufgegeben, nur Bürger des betreffenden Mitgliedstaats als "Botschafter" der EU-Kommission zu entsenden. Das hat der Union automatisch eine sympathischere Ausstrahlung gegeben. Das hat jeden eventuellen Fehltritt automatisch in seiner Wirkung relativiert.

Gleichzeitig wird durch die Selmayr-Causa neuerlich der ganz schlimme Eindruck bestätigt, dass sich in Brüssel manche wie selbstverständlich als Oberbehörde sehen, die die Staaten herumkommandieren kann. Da ist der Selmayr-Eklat nur ein Beispiel von vielen. Diese Machtanmaßung hat schon viele andere Staaten getroffen. Siehe Ungarn, siehe Italien, siehe Polen. Diese Anmaßung ist daher wohl jener Faktor, der das Image der Union bei den Europäern am stärksten beschädigt hat.

Gewiss, die EU-Kommission kann beim Gerichtshof ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ein Mitgliedsland beantragen. Aber da gewinnt sie keineswegs immer. Aber da stehen beide Seiten eigentlich auf gleicher Ebene einander als Parteien gegenüber.

Als Lehrmeister mit dem Rohrstaberl ertragen die Österreicher hingegen weder die Kommission noch einen EU-Repräsentanten noch etwa andere Botschafter, selbst wenn sie aus Washington oder Moskau kämen. Und einen Deutschen am allerwenigsten.

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