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Neutralität: die hinterwäldlerische Illusion

Es ist ganz gefährlich, was da Herbert Kickl seit einiger Zeit tut: Er versucht aus der historisch immer rein militärischen Neutralität Österreichs eine politische Neutralität zu machen, einen Neutralismus, wie er einst bei Tito&Co praktiziert worden ist. Das ist die österreichische Neutralität aber nie gewesen. Selbst in den gefährlichsten Zeiten der Ost-West-Konfrontation, selbst als Tausende russische Panzer rund um Österreich gestanden sind, selbst als sowjetische Truppen in Ungarn oder der Tschechoslowakei einmarschiert sind, hat die gesamte Republik politisch und medial und auf zwischenmenschlicher Ebene ganz klar Stellung bezogen: mit heftiger Kritik an Moskau und mit Tausenderlei nichtmilitärischen Solidaritätsaktionen für seine Opfer. Es gab lediglich eine einzige kleine Partei, die das so wie heute Herbert Kickl gesehen hat, während sich die damaligen Freiheitlichen sogar immer ganz besonders Russland-kritisch positioniert haben.

Und jene einzige kleine Partei hat genau wegen dieser Linie viele Wähler und Mitglieder verloren, und ist nach dem Einmarsch der sowjetrussischen Truppen in Ungarn sogar aus dem Parlament hinausgewählt worden. Das war die Kommunistische Partei Österreichs. Kickl aber steht an der Spitze jener Partei, die heute bei Umfragen deutlich an der Spitze liegt.

Daher hätte gerade seine Partei alle Gründe, auf sichtbare Distanz zu Aggressor Putin zu geben. Denn nur so könnte sie die behauptete Kündigung ihres einst mit Putins Partei abgeschlossenen Freundschaftsvertrags glaubhaft machen. Nur so könnten die peinlichen Bilder vom Putin-Besuch bei der Hochzeit der damaligen FPÖ-Außenministerin Kneissl endlich aus der Welt geschafft werden, die rund um den Globus regelmäßig abgedruckt werden. Nur so wäre das FPÖ-Dementi überzeugend, dass es die in durchgesickerten Chats angesprochenen Zahlungsflüsse aus Russland an die FPÖ nicht gegeben hat. Nur so wären die unglaublichen Informationen zu widerlegen, dass noch immer Ibiza-Dummkopf Gudenus und sein (früherer?) Freund Hübner, der sogar den tschetschenischen Schlächter Kadyrow besucht und seine Propaganda weitergetragen hat, in der FPÖ den außenpolitischen Ton angeben.

Aber ganz offensichtlich ist da noch immer viel mehr Freundschaft mit Putin im Spiel, als man uns glauben macht. Egal, ob Geld oder bloßes Hinterwäldlertum dahintersteckt. Das ist angesichts der vielen russischen Kriegsverbrechen und des von Moskau geführten Angriffskrieges überaus traurig.

Damit rückt Kickl sich und seine Partei in eine gefährliche Isolation. Gegenüber der FPÖ-Tradition und gegenüber den in Europa erfolgreichsten rechtspopulistischen Parteien.

  • Denn Italiens neue Ministerpräsidentin Meloni ist nicht nur zu einem Solidaritätsbesuch in Kiew gewesen, sondern kämpft im Parlament auch vehement gegen eine Cinque-Stelle-Linkspopulistin, die Italiens Hilfe für die Ukraine kritisiert hat.
  • Denn auch die französische Le-Pen-Partei hat sich seit einiger Zeit deutlich von Putin abgewendet und spricht sich ebenfalls für Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Ihr Vorsitzender bedauert nun öffentlich, Putins "Expansionsdrang" falsch eingeschätzt zu haben. "Es gab eine kollektive Naivität in Bezug auf die Absichten und Ambitionen von Wladimir Putin." Die Öffentlichkeit habe sich lange nicht vorstellen können, welche Absichten der Kremlherrscher gegenüber Europa hatte. Es wäre ein "moralischer Fehler, dies nicht zuzugeben".
  • Denn in Finnland wie in Schweden haben sich alle Parteien rechts der Mitte – etwa die besonders starken "Schwedendemokraten" – als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg für die Aufgabe der Neutralität und den Beitritt zur Nato ausgesprochen.
  • Denn in der ersten schwarz-blauen Regierung in Österreich und in der Epoche Jörg Haider war die Partei noch vehement im Lager jener, die für die Aufgabe der Neutralität gewesen sind.

Das ist alles nicht mehr im heutigen Kirchturmshorizont des Herbert Kickl relevant – oder vielleicht auch gar nicht bekannt.

Dabei wäre überhaupt statt der unhistorischen und schädlichen Uminterpretation der rein militärischen Neutralität Österreichs zu einer geistigen Neutralität heute mehr denn je der Gang in die andere Richtung im Interesse des Landes notwendig. Also in Richtung Aufgabe der Neutralität und Eingliederung in eine europäische oder atlantische Verteidigungsstruktur. Nicht nur um das endgültige Abschwimmen Österreichs in die Rolle eines ultramontanen Sonderlings zu vermeiden. Sondern vor allem aus ureigenstem Interesse an der Sicherheit Österreichs.

Denn Russland ist heute viel imperialistischer und gefährlicher, als es das Land in den Jahrzehnten nach Stalin gewesen ist. Gleichzeitig wird dort die Sehnsucht nach Stalin immer größer. Und immer öfter wird in Russland auch die Rückkehr überall dorthin verlangt, wo im vorigen Jahrhundert einmal russische Truppen gestanden sind. So ist sogar schon ein Zurück nach Ostberlin verlangt worden. Was das für Ostösterreich heißt, sollte sich auch ein Kickl ausrechnen können. Wenn Russland in der Ukraine siegt, dann muss sich Europa jedenfalls sehr warm anziehen.

Vor allem aber geht es um die Umsetzung der uralten Regel: Wenn sich viele Kleine entschlossen zusammenschließen, dann sind sie auch gegen einen Großen stark. Genau das hat ja im letzten Jahr auch die Ukraine brillant vorgezeigt. Vor allem mit Hilfe der vielen kleineren Staaten Osteuropas, und dann erst der Hilfe aus Großbritannien und dann den USA hat sie wider alle Erwartungen Russland stoppen können.

Wenn sich jedoch das eine oder andere Land dauerhaft aus den Reihen der kollektiven Sicherheitsstrukturen verabschieden kann, weil es sich für etwas Besseres, weil Neutrales hält, in Wahrheit aber, weil es die Drecksarbeit nicht gerne selber machen will, dann werden sich im Lauf der Zeit auch immer mehr andere von der Drecksarbeit distanzieren. Womit die letzten Sicherheitsstrukturen kollabieren würden.

In Europa hat die Neutralität aber auch deshalb – zu Recht – einen so schlechten Namen, weil sie sich historisch immer als unwirksam erwiesen hat. Weil etwa in Belgien trotz der Neutralität sowohl 1914 wie 1940 ein Aggressor einmarschiert ist.

An dieser Stelle werden wohl manche sagen: "Aber die Schweiz!" Dieser scheint die Neutralität tatsächlich geholfen zu haben. Aber in Wahrheit waren auch bei der Schweiz ganz andere Faktoren entscheidend, dass das Land frei von Aggressionen blieb: Es war der hohe Grad an Rüstung und Landesverteidigungsstrukturen, der weit über alle vergleichbaren Länder hinausgeht ("Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee"). Es war der hochalpine Charakter des ganzen Landes, mit dem in Österreich in Wahrheit nur vier Bundesländer zur Gänze vergleichbar sind. Und es war zweifellos auch der viele Jahrhunderte alte Mythos der Siege der Schweizer über die mächtigen Habsburger.

Neutralität ist also sicher kein positiver Beitrag für die Sicherheit Österreichs. Aber sie ist doch als Erfolgsgeschichte bei den Österreichern so unglaublich beliebt, wird daraufhin gerne eingewendet (was auch wieder zunehmend das Handeln der österreichischen Politik bestimmt).

Es stimmt: Beliebt ist sie, aber der Erfolg Österreichs in den letzten 70 Jahren hängt nicht mit ihr zusammen. Dieser ist vielmehr Folge der Marktwirtschaft, des starken Schillings, der US-Marshallplan-Hilfe, des Rechtsstaats, der noch immer großen inneren Stabilität, der intensiven wirtschaftlichen und politischen Anbindung an den Westen und gewiss auch des Fleißes, des Zusammenhalts und der Disziplin der Österreicher.

Die Neutralität fällt zeitlich zwar mit diesem Erfolgsweg zusammen, war aber nicht kausal für ihn. Bis Russland jetzt und davor der serbische Herrscher Milosevic daran gerüttelt haben, war es der 1945 hergestellte Status Quo, der für friedliche Verhältnisse gesorgt hat. Das Glück eines Landes war davon abhängig, ob es diesseits oder jenseits des Eisernen Vorhangs zu liegen gekommen ist. Das Versprechen, die österreichische Neutralität zu erklären, war zwar kausal für den Abzug der sowjetrussischen Truppen aus Ostösterreich, weil Moskau dadurch einen Köder für Deutschland auslegen wollte. Aber danach hat etwas ganz anderes Österreichs Sicherheit gewährleistet: Das militärische Ost-West-Gleichgewicht und die Angst Moskaus, dass der Westen nicht untätig bleiben wird, wenn es seine Truppen wieder in Österreich einmarschieren lässt.

Ansonsten erfüllt die Illusion Neutralität nur noch einen Zweck: Sie gab der Bequemlichkeit der Österreicher einen gut klingenden Tarnnamen, die es nie für notwendig gehalten haben, etwas auch nur halbwegs Ausreichendes für die eigene Landesverteidigung zu tun. Und die sogar dann – von der SPÖ bis zu den linken Staatsanwälten – eine riesige und lange Staatskrise entfachen, wenn eine Regierung das einzige Mal etwas Relevantes für die Landesverteidigung angeschafft hat, nämlich die Eurofighter.

Zurück zum konkreten Ukraine-Krieg: Wer jetzt einen Waffenstillstand fordert, der gibt Russland die Sicherheit, all seine Eroberungen behalten zu können. Das ist so, wie wenn die Welt einen Waffenstillstand gemacht hätte, als Hitler seine größten territorialen Erfolge hatte. Dann wäre von der kompletten Atlantik- und Mittelmeerküste bis knapp vor Moskau alles unter der Herrschaft der Nazis geblieben. Dann hätten der Westen und die Nato keinerlei Abschreckungswirkung mehr. Dann wäre überdies die Wahrscheinlichkeit am geringsten, dass Russland unter irgendeinem Vorwand nicht noch weitere Eroberungskriege beginnt.

Letztes Argument der Russlandfreunde ist dann oft Ungarn, das – obwohl Nato-Mitglied – in Sachen Ukrainehilfe einen kritischen Standpunkt einnimmt. Das hat aber einen ganz anderen Grund, den man freilich hierzulande nirgendwo zu lesen bekommt: Budapest sorgt sich um die in der Karpathoukraine lebenden rund 150.000 Ungarn. Es will von Kiew mehr Rechte für diese Minderheit erpressen, die in einem bis 1920 zur ungarischen Reichshälfte der Monarchie gehörenden Gebiet leben (das dann nacheinander tschechoslowakisch, sowjetisch, ukrainisch geworden ist). Und seine Bremsversuche gegen den Nato-Beitritt der Schweden sind erklärtermaßen Revanche für die vielen überheblichen Kommentare der ja immer recht moralistischen Schweden, dass in Ungarn kein Rechtsstaat und keine Demokratie bestehen würden.

PS: Noch lächerlicher ist, wenn man als Kritik an der Video-Rede des ukrainischen Staatspräsidenten im Wiener Parlament sagt: Aber Auftritte des ungarischen Ministerpräsidenten Nagy oder des Tschechoslowaken Dubcek im österreichischen Parlament habe es nicht gegeben. Gewiss nicht. Aber Video-Übertragungen hat es damals noch nicht gegeben und Auslandsreisen in die freie Welt haben die beiden in den entscheidenden Wochen schon gar nicht unternehmen können, da sie Angst hatten, danach nicht mehr zurückkehren zu können, oder ihre Bewegungsfreiheit überhaupt schon verloren hatten.

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