Nach einem Jahr Krieg hat die internationale Hektik ihren Höhepunkt erreicht. Der US-Präsident in Kiew und Warschau, hochrangige Kontakte mit Ankara, chinesische Drohungen einer Einmischung in den Krieg, die dann Stunden später wieder zurück genommen werden, Zusammentreffen fast der ganzen Welt (außer den Russen) bei der Sicherheitskonferenz in München, bei der es zweifellos amerikanisch-chinesische Unterredungen gegeben hat. Wir wissen nicht wirklich, was hinter dem Nebelvorhang an großsprecherischen Worten wirklich passiert. Aber umso klarer sind die Eckpunkte, wie ein Frieden aussehen muss, der mehr ist als eine Aufrüstungspause für noch schlimmeres Blutvergießen.
Eine solche Aufrüstungspause könnte von naiven Menschen für einen echten Frieden gehalten werden. Sie wäre genau das, was 1938 passiert ist: Die internationale Welt – die Westmächte wie die kommunistische Sowjetunion – haben damals um des lieben Friedens willen dem Aggressor Adolf Hitler zuerst Österreich und dann die Tschechoslowakei überlassen. Sie haben in einem kolossalen Selbstbetrug bei der Münchner Konferenz, auf der die Tschechoslowakei dem Berliner Diktator ausgeliefert worden ist, "Peace in our time" gejubelt. Und sie haben dann ein Jahr später dafür den ganz großen Krieg bekommen. Für den sich Hitler daher noch entscheidend aufrüsten konnte.
Wäre die internationale Welt Hitler schon 1938 mutig und entschlossen entgegengetreten, dann hätte es viel weniger Opfer gefordert, um ihn dann niederzuringen. Noch besser wäre diese Entschlossenheit im Jahr 1936 gewesen, als Hitler durch den Einmarsch im entmilitarisierten Rheinland seinen ersten Aggressionsakt gesetzt hat (wenn man den innerdeutschen Mord an der Demokratie und die anlaufende Judenverfolgung ignoriert).
Es ist frappierend und beängstigend, wie die damalige Entwicklung jener gleicht, die Wladimir Putin ausgelöst hat. Hitler wollte die Niederlage des deutschen Kaiserreiches 1918 ausmerzen; und Putin wollte und will den Zerfall der Sowjetunion rückgängig machen.
Putins Eroberungen in Georgien, in der Ostukraine und auf der Krim sind so wie bei Hitler von der Außenwelt zuerst als unbedeutende Salamischeibe hingenommen worden. Logischerweise schloss Putin daraus, dass er es immer weiter so treiben könnte, bis hin zur Eroberung eines großen Landes und darüber hinaus.
Es wäre falsch, die Schuld an den Geschehnissen jeweils nur auf die Führungsperson abzuladen. Putin wie Hitler haben beide bei ihrem kriegerisch-imperialistischen Denken auch große Teile ihrer Nation hinter sich gehabt. Gegen Hitler gab es den ersten ernstzunehmenden Widerstand erst im Juli 1944. Alle anderen Hitler-Gegner waren eingeschüchtert oder im KZ. Und im heutigen Moskau kommt die einzige vernehmbare Kritik gar von jenen, die für noch mehr Aggressivität eintreten. Die friedlich gesinnten Russen sind ebenfalls eingeschüchtert – und Hunderttausende von ihnen sind geflohen. Es gibt keine Anzeichen, dass Putin jemals von innen gestürzt wird. Diese Hoffnung sollten wir uns abschminken.
Was aber wäre die richtige Strategie, um zu verhindern, dass sich die Geschichte nicht auch in den weiteren Etappen wiederholt? Man kann nur hoffen, dass bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2023 auch intensiv an München 1938 und die verhängnisvollen Folgen des "Friedens um jeden Preis" gedacht worden ist.
Das Friedenskonzept
Bei nüchterner Beobachtung kommt man zu folgenden Erkenntnissen und Eckpunkten der einzig möglichen Friedenslösung und des Weges zu ihr:
- Nach einem Jahr Krieg ist klar: Keine der beiden Seiten hat derzeit eine realistische Chance, militärisch auf dem Schlachtfeld zu gewinnen. Das haben vor einem Jahr alle ganz anders eingeschätzt. Dieses Patt ist eine sensationelle Leistung der Ukrainer, ihrer Tapferkeit, Entschlossenheit, Klugheit. Für Putin hingegen ist das eine schlimme Demütigung und die Summe vieler Fehlentscheidungen; der mangelnde Erfolg ist aber zweifellos auch Folge der Tatsache, dass er den russischen Soldaten keinen emotionellen Grund vermitteln hat können, warum sie diesen Eroberungskrieg eigentlich führen sollen.
- Ein Patt kann erst dann zu einer Lösung führen, wenn beide Seiten selbst erkennen, dass der Krieg für sie in absehbarer Zeit nicht zu gewinnen ist. Es ist eher fraglich, ob es diese Erkenntnis schon gibt.
- Die emotionale Entschlossenheit der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen, hätte bei weitem nicht ausgereicht, wenn nicht gewaltige und den Russen teilweise überlegene Waffenhilfe von außen gekommen wäre.
- Die Tatsache, dass ein Teil der Ukrainer Russisch als Muttersprache hat, hat sich als völlig irrelevant erwiesen in Hinblick auf ihre Einstellung. Das nicht zu erkennen, war ein Grund der schweren Fehleinschätzungen Putins. Ganz ähnlich wie im Falle der Entstehung der österreichischen nationalen Identität ist die ukrainische Identität vor allem durch die Infamie des russischen Imperialismus zusammengeschweißt worden. Österreich ist ja auch erst durch die Vorgänge der Jahre 1938 bis 1945 wirklich zur eigenständigen Nation geworden, als die Menschen merkten, wie wichtig für sie Österreich ist. 1918 haben sich die Österreicher noch keineswegs als Nation gefühlt. In der Verzweiflung des damaligen Kriegsendes glaubten ja alle großen Lager, dass der Anschluss an das Deutsche Reich das Beste sei. Heute wissen wir: Die gleiche Sprache zu sprechen, bedeutet noch lange nicht automatisch, dass man eine gemeinsame Nation sein will. Das wissen etwa die Schweizer, die Belgier oder US-Amerikaner schon lange.
- Jedenfalls gibt es Null Hinweise, dass sich die russisch sprechenden Ukrainer vom Krieg absentieren oder gar desertieren würden.
- Ein haltbarer Frieden kann niemals dadurch zustandekommen, dass die Ukraine einen Teil ihres Staatsgebiets, etwa die Krim gegen ihren Willen abgeben muss. Die Ukrainer würden dann ewig auf Rache sinnen, so wie die Deutschen nach 1918.
- Vor allem hätte es unglaubliche Beispielwirkungen, wenn in Europa wieder militärische Eroberungen abgesegnet würden. Es wäre eine Ermutigung für weitere russische Eroberungen, aber auch für türkische (um nur von Europa zu reden). Beide Großmächte sind in der Geschichte ja schon viel weiter im Westen gestanden und haben dort auf Grund ihrer Militärmacht viele andere Nationen unterjocht. Russische Nationalisten haben aber auch jetzt schon wieder gefordert, dass der Osten Deutschlands, die ehemalige DDR, wieder unter russische Oberherrschaft kommen müsse.
- Auf der anderen Seite gibt es einen großen Unterschied zwischen Putin und Hitler: Der russische Diktator hat Atombomben. Die hatte Hitler zum Glück nicht. Das verändert viel, auch wenn die aggressiv-zynische Paranoia beider Herren vergleichbar ist.
- Man weiß zwar nicht, ob und wann Putin diese Waffen einsetzt. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar deutlich weniger als 50 Prozent, aber es gibt sie.
- Daher sind alle juristischen und diplomatischen Überlegungen kontraproduktiv, Putin mit Strafverfolgung zu bedrohen. Denn wenn er nichts mehr zu verlieren hat, haben auch wir Europäer viel verloren.
- Schon jetzt hat der Krieg gezeigt, wie lächerlich viele der internationalen Waffenverbots-Pakte sind, die von Minen bis zu Streubomben reichen. Sie werden von Moskau ständig ignoriert. Und es ist ziemlich unfair, diese Waffen gleichzeitig der Ukraine verbieten zu wollen. Wenn man mit Streubomben attackiert wird, sollte es moralisch dem Angegriffenen eindeutig zustehen, diese auch einzusetzen. Und Landminen sind nun einmal ein sehr wirksames Verteidigungsmittel – vor allem in einem Krieg, in dem von den Europäern, vor allem den Deutschen, lange viel zu wenig Unterstützung gekommen ist.
- Die zentrale Aufgabe ist, eine Friedensformel zu finden, die die Quadratur des Kreises bedeutet. Einerseits darf die russische Invasion nicht belohnt werden, weil das schockierende Wirkungen auf andere Folgetäter haben würde, weil dann die Ukraine ewige Rache hegen würde. Andererseits darf Putin nicht persönlich so sehr in die Ecke getrieben werden, dass er dann doch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen anordnet, weil er für sein persönliches Überleben keine Chance mehr sieht.
- Essenziell ist zweifellos, dass die Außenwelt ein solches Konzept entwickelt, bevor es dann Moskau und Kiew serviert wird. Das können nur starke Vermittler tun. Sinnvollerweise hat ein Friedenskonzept folgende Punkte:
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- Putin kann ungehindert an der Macht bleiben.
- Es gibt auch sonst keine Kriegsverbrecherprozesse, höchstens eine Geschichtskommission.
- Die Truppen beider Seiten ziehen komplett aus den umkämpften und von Russland beanspruchten Provinzen ab.
- Befristet übernimmt eine UNO/EU-Polizeitruppe das Kommando.
- Ihre Hauptaufgabe ist die Vorbereitung einer sauberen Volksabstimmung in allen von Russland formal annektierten Provinzen, bei der beide Seiten ungehindert in Fernsehen und via Post ihren Wahlkampf veranstalten können.
- Wahlveranstaltungen dürfen nur in geschlossenen Räumen stattfinden und nur nach Genehmigung durch die internationale Verwaltung.
- Die wichtigste und schwierigste Aufgabe der internationalen Überwacher wird zweifellos die Erstellung der Wählerlisten. Es dürfen ja nicht nur die gegenwärtigen Bewohner wahlberechtigt sein, sofern diese überhaupt Ukrainer sind, sondern auch alle, die früher in dem betreffenden Gebiet ansässig gewesen sind.
- Wem auch immer die Mehrheit in den Abstimmungsgebieten zufällt: Alle Beteiligten haben sich schon vorher bereit erklärt, das Ergebnis des Referendums für ihr Gebiet anzuerkennen.
- Völkerrechtlich muss auf beiden Seiten ein breiter Grenzstreifen weitgehend entmilitarisiert werden.
- Die Ukraine verzichtet auf Langstreckenraketen (um der russischen Paranoia entgegenzukommen).
- Die Ukraine kann als souveräner Staat jeder Organisation beitreten, wie sie es will.
- Sie bekommt vom Westen massive, an den Marshallplan nach dem zweiten Weltkrieg erinnernde Unterstützung beim Wiederaufbau.
Klingt kompliziert? Gewiss. Aber ich sehe weit und breit keine bessere Formel, um zu einem dauerhaften und echten Frieden zu kommen, mit dem beide leben können, und der die Gefahr einer atomaren Eskalation niedrig hält. Aber vorerst scheinen noch alle weit entfernt zu sein von einem solchen Konzept. Was noch ein paar hunderttausend Opfer fordern dürfte.
Und auch noch aus einem weiteren Grund sollte man sich beeeilen: Denn Russland arbeitet emsig an einer globalen Allianz der kriminellen Diktaturen. Vor allem mit dem Iran, mit China, mit Nordkorea. Von Venezuela bis zur Türkei sind da etliche weitere Länder wahrscheinliche Ansprechziele für eine solche russische Diplomatie. Keine Frage, dass die Zwecke einer solchen Allianz über Diplomatie hinausgehen wird …
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