Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (13 Euro pro Monat/130 pro Jahr) ist jederzeit beendbar und endet einfach durch Nichtzahlung.
Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (13 Euro pro Monat/130 pro Jahr) ist jederzeit beendbar und endet einfach durch Nichtzahlung.
Französische Kommentatoren kommen nicht aus dem Staunen heraus: Emmanuel Macron setze sehenden Auges einen Krieg fort, den er nur verlieren kann, dessen erste Schlacht er auch schon verloren hat. Internationale Ökonomen und Politikexperten zeigen sich hingegen beeindruckt: Der französische Staatspräsident ist derzeit fast der einzige Spitzenpolitiker in Europa, der sich mit voller Energie für etwas zwingend Notwendiges in den Kampf begibt, auch wenn er damit höchstwahrscheinlich massiv an Popularität verliert; während fast überall sonst politischer Populismus alles Unangenehme auf die lange Bank schiebt – und zwar so lange, bis es zu spät ist.
Es geht um Macrons neuerlichen Anlauf, das Pensionsantrittsalter deutlich hinaufzusetzen, nämlich (angesichts des überaus unübersichtlichen und komplexen Rentensystems Frankreichs) vereinfacht gesagt von 62 auf 64 bis 65 Jahre.
Das französische Altersversorgungssystem droht in wenigen Jahren unfinanzierbar zu werden. Diese Gefahr ist auch deshalb so groß, weil die französischen Pensionen einen deutlich höheren Prozentsatz der Aktivbezüge ausmachen als in vielen anderen Ländern. Das kümmert freilich die meisten Franzosen nicht. Sie lehnen mehrheitlich ganz klar eine Erhöhung des Antrittsalters ab. Ausländische Kritiker sehen darin eine massive Verdrängung der Fakten und eine Bestätigung des Images des Franzosen, dass ihnen das gute Leben wichtiger sei als die Frage, wie das denn finanziert werden kann.
Macron hat eine solche Reform schon einmal versucht, hat den Anlauf aber unter dem Druck massiver Proteste und dem Einsetzen der Corona-Pandemie abbrechen müssen. Damals war ein explosives Ansteigen der Arbeitslosigkeit zu fürchten. Da schien eine Maßnahme problematisch, welche die Anzahl der Menschen noch erhöht, die sich um die weniger gewordenen Arbeitsplätze balgen.
Inzwischen ist aber die Pandemie kaum mehr ein Thema. Inzwischen hat der Arbeitsmarkt fast europaweit ein ganz anderes und noch dazu rasch wachsendes Problem: zu wenige Arbeitskräfte. Für zahllose qualifizierte Jobs werden dringend Arbeitskräfte gesucht. Längst gibt es auch aus den südlichen EU-Ländern kaum noch Menschen, die auf der Suche nach einer interessanten Arbeit ihre Heimat zu verlassen und in ein fremdsprachiges Land zu ziehen bereit sind.
Auch in Osteuropa sind solche Menschen rar geworden. Haben doch die mittelosteuropäischen Länder einen eindrucksvollen wirtschaftlichen Aufstieg hinter sich. Wer dort doch noch ins Ausland zu gehen gewillt ist, um mehr zu verdienen, ist primär an Ländern interessiert, wo er die Sprache zumindest in der Schule gelernt hat. Und das ist natürlich Englisch und mit Abstand Deutsch (man erinnere sich an die britische Brexit-Kampagne, wo der "polnische Klempner" geradezu zum Symbol einer von vielen Briten kritisierten Überfremdung geworden ist). Französisch ist lediglich für Rumänen eine interessante Perspektive.
Die Migranten aus der arabischen Welt, die noch bereit wären zu kommen, werden in Frankreich zunehmend abgelehnt, auch wenn in den Maghreb-Staaten Französisch sehr verbreitet ist. Denn erstens gibt es jetzt schon – nicht zuletzt als Hinterlassenschaft der Kolonial- und Algerienkrieg-Zeiten – fünf Millionen von ihnen in Frankreich. Denn zweitens hat sich erwiesen, dass Moslems deutlich weniger bereit sind, sich in eine europäische Gesellschaft zu integrieren. Und drittens sind von ihnen überhaupt nur wenige imstande, einen qualifizierten Arbeitsplatz zu übernehmen.
Macron versucht ein Problem zu lösen, mit dem so gut wie alle europäischen Nationen konfrontiert sind: Das ist die demographische Katastrophe, die sich derzeit insbesondere im Mangel an Arbeitskräften mit brauchbarer Ausbildung zeigt. So werden in Deutschland derzeit nicht weniger als zwei Millionen qualifizierte Mitarbeiter gesucht. Und nicht gefunden.
Diese Katastrophe hat zwei Hauptursachen, die alle rund um das Stichwort "Babyboomer" festzumachen sind:
Aber nicht nur, dass diese Boomer (die auch als 68er Generation bezeichnet werden) zu wenige Kinder haben und jetzt in Massen in Pension gehen. Sie haben auch eine weit höhere Lebenserwartung als alle früheren Generationen. Um nur zwei Zahlen zu nennen: am Beginn des 19. Jahrhunderts betrug – so wie in der gesamten Geschichte davor– die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa 36 Jahre. Aus jenem Jahrhundert stammt aber in vielen Ländern die Grundkonzeption des Pensionssystems mit einem Antrittsalter, das die meisten Menschen damals ohnedies nie erreichten. Heute beträgt die fast alljährlich (mit Ausnahme der Corona-Jahre) steigende Lebenserwartung jedoch 82 Jahre. Das ist an sich erfreulich. Das hat dazu geführt, dass heute rund zwei Aktive einen Rentner erhalten müssen, während sich noch vor 40 Jahren vier die Last aufgeteilt haben. Deshalb ist auch eine weitere drastische Erhöhung der Pensionsbeitragszahlungen der Aktiven politisch völlig undenkbar, die das Überalterungsproblem lösen könnte.
Daher ist eigentlich völlig klar, dass das System kollabieren muss, wenn die Menschen trotz viel besserer Gesundheit weiterhin gleich früh in Pension gehen wie ihre Vorfahren. Jedoch für die Gewerkschaften ist das gar nicht klar. War es doch für sie Teil ihrer Kernidentität, sogar immer wieder eine Senkung des Antrittsalters erkämpft zu haben.
Macron wirkt mit seinen Plänen, den Pensionsantritt von 62 auf 64 oder 65 zu erhöhen, für viele Franzosen jedenfalls provozierend, obwohl das ohnedies nur in langsamen Schritten erfolgen soll, obwohl sein Ziel im internationalen Vergleich durchaus noch milde und wohlfahrtsstaatlich ist. Siehe die Liste aller Industrieländer, die jetzt schon ein allgemeines Antrittsalter von mindestens 66 Jahren haben: Dänemark, Griechenland, Island, Italien, Niederlande, Portugal, Australien, USA, Spanien, Irland und Großbritannien (würde man nur das Antrittsalter für Männer hernehmen, wäre die Liste noch länger).
Als ob der Widerstand von Gewerkschaften und einer reformunwilligen Bevölkerung nicht groß genug wäre, muss Macron auch mit einem politischen Problem fertig werden: Seine Regierung hat im Gegensatz zu seinem ersten Anlauf keine Mehrheit mehr im Parlament. Wohl wären die konservativen Republikaner nicht abgeneigt, mitzumachen – aber sie wollen ihren Kaufpreis für Macron naturgemäß sehr hoch ansetzen. Stehen sie doch jetzt schon massiv unter Druck der Le-Pen-Nationalisten von rechts. Da wollen sie sich nicht als billige Mehrheitsbeschaffer bei unpopulären Beschlüssen blamieren.
Frankreichs nächste Wochen werden also noch sehr spannend: auch deshalb, weil viele andere Länder vor der gleichen Herausforderung stehen.
Dieser Text ist in ähnlicher Form in der Wochenzeitung "Epoch Times" veröffentlicht worden.