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Der alte weiße Mann, der runde Ball und ein hilfloses Land

Der begnadete Fußballer Lionel Messi hat es mit 35 Jahren dem 24-jährigen Kylian Mbappe gezeigt und sich samt seiner argentinischen Nationalmannschaft zum Weltmeister gekürt. So manches deutet freilich darauf hin, dass der Triumph des alten weißen Mannes aus Argentinien über den farbigen Franzosen im wichtigsten Sport der Welt symbolisch auch einer der letzten Triumphe des alten weißen Mannes gewesen sein dürfte. Womit nicht nur Messi oder der Fußball gemeint  sind.

Der Sieg von Messis Mannschaft ist ein dramatischer Kontrast zum Zustand seiner argentinischen Heimat. So sehr dieser Sieg buchstäblich alle Argentinier in Ekstase versetzt, so wenig dürfte er dazu gut sein, für das schwer verarmte Land der nötige Zündfunke zu sein, den Argentinien für einen kompletten Restart so dringend bräuchte.

Angesichts der heutigen Zustände in Argentinien klingt die Erinnerung daran unglaublich, dass Argentinien nach dem zweiten Weltkrieg eines der reichsten Länder der Welt gewesen ist. Dorthin sind in ihrer damaligen Verzweiflung auch viele Österreicher ausgewandert. Von dort sind sie aber inzwischen fast alle wieder zurückgekehrt – verzweifelt über die Entwicklung, die in Argentinien immer schlimmer geworden ist:

  1. Heute hat Argentinien eine Inflationsrate von rund 100 Prozent pro Jahr.
  2. Die Staatsschuldenquote ist ähnlich hoch.
  3. Das reale Pro-Kopf-Einkommen der Franzosen, deren Nationalmannschaft Argentinien im WM-Finale gegenübergestanden ist, ist heute vier Mal so hoch wie das der Argentinier.
  4. Die Wirtschaft – insbesondere die für Argentinien einst so wichtige Landwirtschaft – wurde verachtet, heruntergemacht und mit Steuern ausgepresst.
  5. Zugleich wurden ständig Schulden gemacht, um jene gigantischen Sozialausgaben zu finanzieren, mit denen sich die diversen peronistischen Präsidenten bei den Wählern beliebt machten.
  6. Als Folge hat Argentinien immer wieder seine Gläubiger um Umschuldungen bitten müssen.
  7. Dennoch hat sich die ehemalige linksperonistische Vizepräsidentin Cristina Kirchner nicht entblödet, tief in die Staatskasse zu greifen. Das hat ihr jetzt eine Verurteilung zu sechs Jahren eingebracht. Da die Verurteilung wohl nicht zufällig mitten in die Fußball-WM placiert worden ist, hat sie kaum irgendwelche Proteste ausgelöst (die in Argentinien sonst vielleicht erwartbar gewesen wären).

Hauptschuld an dieser Entwicklung trägt eindeutig der Peronismus, der neben Phasen der kaum erfolgreicheren Militärdiktatur Argentinien während der meisten der Nachkriegsjahre regiert hatte. Der Peronismus ist zwar nach dem einstigen Herrscher des Landes benannt, im wirtschaftlichen Wesen aber dem europäischen Sozialismus engst verwandt.

Wenig Wunder, dass ein Land in einer so schweren Krise total über alle Parteigrenzen hinweg fußballbegeistert ist. Historiker könnten das mit dem verarmten Österreich der Zwischenkriegszeit vergleichen und der damaligen Begeisterung für das Wunderteam. Solche Begeisterung ist hierzulande auch dessen Nachfolgern in den frühen 50er Jahren noch entgegengebracht worden.

Argentinien ist so wie sein Nationalteam fast das einzige südamerikanische Land, das praktisch nur aus europäischen Auswanderern besteht. Das kann einen Europäer in Sachen Fußball auch durchaus stolz machen. Das ist ein gewaltiger Kontrast zu Frankreich, dessen Team von afrikanischen Emigranten dominiert wird.

Trotz des argentinischen Sieges, trotz des dritten Platzes der Kroaten ist Fußball längst kein "weißer" Sport mehr, wie er es in seinen ersten hundert Jahren gewesen ist. Er ist es von Jahr zu Jahr weniger. Das wird nicht nur durch die Zusammensetzung der französischen (oder englischen) Nationalmannschaft deutlich. Das wird auch durch den eindrucksvollen Aufstieg Marokkos auf den vierten Platz deutlich. Auch wenn dessen Anhänger (aus Marokko und anderen arabischen Ländern) in den Stadien zweifellos die unfairsten der ganzen WM gewesen sind, so war dennoch Marokkos Erfolg alles andere als ein Zufall.

Mit anderen Worten: Auch im Fußball wird Europa Schritt für Schritt marginalisiert. In diesem Sport passiert genau dasselbe wie in der Weltwirtschaft oder Politik. Die regelmäßigen Anläufe vor allem der EU und ihres Parlaments, moralistische Zuchtgouvernante der restlichen Welt zu spielen, sind längst nur noch lächerlich oder selbstbeschädigend. Diese Selbstbeschädigung Europas reicht von den Lieferkettengesetzen bis zur sogenannten Klimapolitik. Und angesichts des Bestechungsskandals in einer der ganz besonders moralistischen EU-Fraktionen, also bei den Sozialisten, wird die Lächerlichkeit Europas besonders deutlich.

Diese Lächerlichkeit hat sich auch bei den Spielen gezeigt. Es hat dem globalen Stellenwert der Spiele keinerlei Abbruch getan, dass vor allem in den deutschsprachigen Ländern eine absurde "Wir-bestrafen-die korrupten-Kataris"-Kampagne bei ein paar Prozenten der Bevölkerung zu einem "Boykott" der Weltmeisterschaft geführt hat, also zu einem (zumindest angeblichen) Abdrehen der Fernsehapparate. Ganz im Gegenteil: Die stolzen Wüstenscheichs haben nur einmal kurz angedeutet, dass sicher jene Länder kein Gas von ihnen haben wollen, die sie kränken – und schon waren viele kritische Stimmen verstummt.

Die Proteste sind auch objektiv zu Recht verstummt. Katar ist zwar sicher keine Musterdemokratie wie die Schweiz und einige EU-Länder. Sie ist aber in Summe besser und fairer  zu Bürgern und Gastarbeitern als zwei Drittel der restlichen Länder.

Ein weiterer Vergleich mit Frankreich zeigt, wie wichtig den Argentiniern dieses Spiel gewesen ist: Aus dem reichen Frankreich, das noch dazu um rund 50 Prozent größer ist als Argentinien, und das näher zu Katar liegt als Südamerika, kamen rund 10.000 Zuschauer zum Finale angereist; aus dem armen Argentinien waren es hingegen 50.000.

Es war gewiss diese Begeisterung, die mitgeholfen hat, die argentinischen Fußballer trotz etlicher banger Momente zum Sieg zu tragen. Denn die am internationalen Vereinsmarkt begehrtesten Spieler sind auf französischer Seite angetreten. Ihr sogenannter Marktwert beträgt zusammen rund eine Milliarde Euro. Jener der Argentinier – trotz Messi – "nur" rund 650 Millionen.

Kann dieser kollektive Sieg des Willens unter einem genialen Chef dazu beitragen, dass die Argentinier auch auf anderen Gebieten wieder geeint bereit sind, die tiefe politische Kluft zwischen den Peronisten und den Moderat-Konservativen zu schließen? Und allen 45 Millionen Argentiniern zu vermitteln, dass ihnen nur ein gemeinsamer Kraftakt der Anstrengungen aus der Dauerkrise helfen kann, aber sicher keine Fortsetzung der bisherigen Lizitationspolitik?

Man darf zweifeln. Denn Fußball bleibt trotz allem nur die wichtigste Nebensache der Welt und kann ein so hinuntergewirtschaftetes Land nicht retten. Auch wenn es jetzt eine nationale Aufbruchsstimmung rund um Messi gibt. Für zwei Wochen, wie etwa der "Economist" schätzt …

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