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1914 – 2022: Wie sich die Bilder gleichen

Hinter den Deutschen und den kriegerischen (und völkermordenden) Verbrechen der Nationalsozialisten sind es vor allem zwei Nationen, die im 20. wie 21. Jahrhundert die Hauptschuld an großen Kriegen in Europa tragen. Und die beiden sind noch dazu eng miteinander verbündet und emotional verbunden. Es sind die Russen und Serben, die immer wieder versuchen, nationale Fragen und imperialistische Aspirationen mit Waffengewalt zu lösen. Das wird einem in diesen Tagen wieder bewusst, da in Serbien mobilisiert und die Kriegstrommel geschlagen wird – auch wenn Belgrad in den allerletzten Stunden vorerst ein wenig eingelenkt hat; auch wenn an der verfahrenen Situation auf dem Balkan die EU ein gehöriges Stück Mitschuld trägt.

Es würde zu weit führen, alle Aspekte des militanten russischen und serbischen Imperialismus im Detail zu analysieren, wie er sich 1914 und 2014/15, aber auch bei der Ausdehnung der Sowjetunion nach 1945 und in den Balkankriegen beim Zerfall Jugoslawiens gezeigt hat. Es sei nur an die historischen Arbeiten des Christopher Clark erinnert, der bewiesen hat, dass Serbien 1914 ohne die hetzerische Rolle Russlands viel konzilianter auf das Ultimatum Österreichs reagiert hätte, welches die Auslieferung aller an der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand Schuldigen verlangt hatte.

Es sei aber auch an die von wehleidigem Selbstmitleid durchtränkte Sicht von Russen wie Serben auf die eigene Geschichte erinnert. Diese Geschichtssicht führte sie zum Grundgefühl, dass alle Territorien eigentlich russisch oder serbisch sein sollten, die irgendwann seit dem Mittelalter russisch oder serbisch gewesen sind, oder wo heute ein paar russisch oder serbisch sprechende Menschen leben (so als ob Österreich zu Deutschland gehören müsste, nur weil Deutsch gesprochen wird). Dazu kommt die üble chauvinistische Rolle der jeweiligen nationalen orthodoxen Kirchen, die Sprachverwandtschaft und die emotionalen Folgen der regelmäßigen gegenseitigen Unterstützung.

Was für ein Unterschied zu Deutschland! Denn was dort seit 1945 wohl zu viel an ununterbrochener Vergangenheitsbewältigung und neurotischer Selbstbezichtigung getan wird, ist bei diesen beiden slawischen Nationen zu wenig erfolgt. Nämlich gar nicht. Russen wie Serben (mit Ausnahme einiger weniger Intellektueller) sehen keinen einzigen eigenen Fehler in der Geschichte. Sie sehen sich immer nur als Opfer, das alle Rechte hat, zurückzuschlagen (sie sind damit, sei am Rande vermerkt, auch enge geistige Verwandte der gegenwärtig vor allem in den USA tobenden Woke-Verrücktheiten, wo sich ständig irgendwelche Gruppen brüsten, wer denn das noch ärmere Opfer der Geschichte wäre).

Mit den Folgen all dieser gefährlichen Fehlentwicklungen in Russland und Serbien ist Europa seit langem konfrontiert – ohne jemals eine geeignete Antwort gefunden zu haben.

So ist im Westen erst mit großer Verspätung und das auch nur bei historisch hochgebildeten Briten die selbstkritische Frage aufgetaucht, ob man sich 1914 nicht auf der falschen Seite im Krieg engagiert hat. Siehe etwa Niall Fergusons Buch "Der falsche Krieg". Siehe etwa Winston Churchills Erkenntnis: Der Zweite Weltkrieg "wäre nie ausgebrochen, wenn wir nicht unter dem Druck der Amerikaner und neumodischer Gedankengänge die Habsburger aus Österreich-Ungarn und die Hohenzollern aus Deutschland vertrieben hätten. Indem wir in diesen Ländern ein Vakuum schufen, gaben wir dem Ungeheuer Hitler die Möglichkeit, aus der Tiefe der Gosse zum leeren Thron zu kriechen."

Aber auch heute begreift Europa – unter führendem Einschluss der Österreicher – nicht, welche Antwort auf dem Balkan zu geben wäre, nachdem man sich dort unweigerlich mitverantwortlich gemacht hat, seit der Westen (an sich zu Recht) gegen das völkermörderische Vorgehen der Serben eingeschritten war.

Wie auch in zahllosen anderen Krisen, die zu Kriegen geführt haben oder führen könnten, würde die einzige richtige Antwort in einer friedlichen Selbstbestimmung umstrittener Regionen und in gleichzeitiger totaler Ablehnung jedes Versuchs liegen, territoriale Fragen statt dessen durch Gewalt und Terror zu lösen.

Wie die Selbstbestimmung, also ein faires Referendum, ausgegangen wäre oder ausgehen würde, ist natürlich eine hypothetische Frage. Aber es gibt etliche Indizien:

So wäre 1914 wahrscheinlich eine Mehrheit der Menschen in Bosnien-Herzegowina gegen eine Zugehörigkeit zu Serbien statt zu Österreich-Ungarn gewesen. Aber eine solche Lösung war natürlich nicht das Ziel der Serben. Und für die Habsburger wäre die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts umgekehrt Gift gewesen. Mussten sie doch fürchten, dass dann auch andere Nationalitäten nach Selbstbestimmung rufen würden.

Der Gedanke einer Konfliktlösung durch das Selbstbestimmungsrecht ist freilich überhaupt erst im Laufe des Krieges vom amerikanischen Präsidenten Wilson entwickelt worden. Und auch er hat nach dem Krieg eine völlig einseitige Anwendung dieses Rechts toleriert, was dann haargenau zum zweiten Krieg geführt hat. Wilson ließ die Selbstbestimmung nur sehr teilweise und nur zu Lasten Österreich-Ungarns zu, aber nicht zugunsten von Millionen Ungarn (etwa im Rumänien zugeschlagenen Siebenbürgen/Transsylvanien oder in der Südslowakei) und von Millionen deutschsprachigen Österreichern (von Südtirol über die Untersteiermark rund um Marburg – heute Maribor genannt –  bis zu großen Gebieten in Böhmen und Mähren).

In Hinblick auf 1914 ist die Diskussion über das  Selbstbestimmungsrecht natürlich längst vergossene Milch (oder genauer: eine Frage von sehr viel vergossenem Blut). In Hinblick auf den Balkan und die jugoslawischen Nachfolgestaaten ist sie hingegen eine Frage der Gegenwart – wenn auch schon eine 30 Jahre anstehende. Heute ist die Antwort auf den hypothetischen Ausgang eines Selbstbestimmungsreferendums eine viel gewissere als für 1914/18:

  • Der allergrößte Teil der im Kosovo lebenden Menschen will eindeutig die Unabhängigkeit (mit offener Perspektive eines Anschlusses an Albanien).
  • Ebenso eindeutig ist aber auch, dass es relativ geschlossene serbische Gebiete im Kosovo gibt, bei denen kein Argument zu finden ist, warum sie sich nicht – nach Abhaltung eines sauberen und international streng überwachten Referendums – Serbien anschließen dürfen. Das wäre zumindest für die an Serbien angrenzenden Ortschaften logisch.
  • Genauso sollten drei südserbische Ortschaften, die mehrheitlich von Albanern bewohnt werden, sich an das Kosovo anschließen dürfen.
  • Genauso wären die bosnischen Nationalitätenkonflikte (die seit langem zwischen Serben, Kroaten und muslimischen Bosniaken virulent sind) nur auf diese Weise zu regeln.

Warum legt nicht der Westen – der unter gigantischen Kosten seit drei Jahrzehnten die militärische und auch rechtliche Kontrolle in Teilen jener Gebiete aufrechterhält – endlich einen solchen Friedensplan vor und übt zugleich den zu seiner Implementierung notwendigen Druck aus?

Die Antwort ist klar: Im Westen glaubt man, dass solche Selbstbestimmungsreferenden samt der Möglichkeit von Grenzänderungen eine Büchse der Pandora wären, deren Öffnung unabsehbare Folgen hätte. In Wahrheit jedoch ist das Gegenteil der Fall: Das zwanghafte Aufrechterhalten eines dem Willen der betroffenen Menschen widersprechenden Status Quo ist viel, viel gefährlicher und ständige Quelle neuer Konflikte.

Zugleich stößt im Westen jedes Abgehen von einem krampfhaften Status-Quo-Denken auf den energischen Widerstand einiger Staaten, die selbst fürchten müssen, dass ein Teil der von ihnen beherrschten Menschen und Regionen dann ebenfalls (oder genauer: noch lauter als bisher) nach Selbstbestimmung und Sezession rufen werde. Etwa die Katalanen in Spanien, die Südtiroler in Italien, die Flamen in Belgien oder die Ungarn in der Slowakei und Rumänien.

Diese Staaten haben mit der Annahme Recht, dass das wahrscheinlich passieren wird. Sie haben aber mit dem Glauben Unrecht, dass das eine nationale Katastrophe wäre. Das ist es nur für chauvinistisches Denken, das glaubt, die eigene Wichtigkeit, das eigene Glück sei von der Menge der kontrollierten Quadratkilometer oder der unterjochten Völker abhängig. Das ist vielmehr genau das Denken, das jetzt so schlimm die Russen in die Katastrophe geführt hat.

Die Geschichte zeigt das Gegenteil: Die Tschechen von heute sind gewiss nicht unglücklicher oder minderwertiger, weil die Slowaken heute nicht mehr zu ihnen gehören (die aber dafür inzwischen ihre besten Freunde sind!). Und ich kenne auch keinen Österreicher, der sich danach sehnt, wieder all die Probleme eines Vielvölkerstaates zu haben …

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