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"Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!" Das, was in den letzten Tagen, aber auch schon in den letzten Wochen, Hunderttausende meist gut ausgebildeter junger Russen getan haben, erinnert lebhaft an den alten Spruch der einstigen linken – und, wie man heute weiß, damals von Moskau kräftig unterstützten – Antikriegsbewegung im Westen. Diese Bewegung der sogenannten 68er hat damals den Westen schwer erschüttert und den Verlauf des Vietnamkriegs mit entschieden. Heute könnte diese Reaktion auf Putins Mobilisierungsbefehl zur wichtigsten Entwicklung im gesamten Ukrainekrieg werden. Sie scheint aber auch die blamabelste Fehlentscheidung der Länder der Europäischen Union auszulösen.
Denn während Putin die verbrecherischen Annexionen von vier ukrainischen Provinzen feiert – die seine Truppen selbst am zeitweiligen Höhepunkt ihrer Offensiven gar nicht ganz erobern haben können –, stauen sich an den wenigen noch offenen Grenzübergängen ins Ausland lange Kolonnen mit jungen Russen, die alles wollen, nur nicht in seinen Krieg für eine ungerechte Sache ziehen und in dieser Armee dienen.
Diese Armee behandelt die Rekruten katastrophal schlecht und sadistisch, ist kaum besser organisiert als zu Zeiten der Zaren, ist in vielerlei Hinsicht – bis auf ihre Raketen – schlecht ausgerüstet, hat keine innere Motivation und steht einem modern aufgestellten und mit voller Entschlossenheit kämpfenden Gegner gegenüber. Nicht einmal die jungen Männer aus der Ostukraine wollen für Putin kämpfen, obwohl dort gerade angebliche Mehrheiten von weit über 90 Prozent bei einer Referendums-Farce den Anschluss an Russland verlangt haben.
So tragisch und verbrecherisch der Krieg auch ist, so erfreulich ist dieser passive Widerstand so vieler Russen dagegen. Freilich sollte man sich nicht täuschen: In der unermesslichen Tiefe Russlands, in den Dörfern jenseits der großen Städte findet Putin noch genug williges Kanonenfutter. Dort hat sein Krieg noch Unterstützung. Bei Teilen der wenig Gebildeten hat die Staatspropaganda eine Stimmung erwecken können, als ob Napoleon oder Hitler wieder vor den Toren Moskaus stehen würden.
Aber auch dort könnte sie sehr leicht kippen, wenn zu viele Leichen von der Front zurückkommen und wenn sich die vielen Signale des schweren Versagens dieser Armee bestätigen und mehren sollten.
Jedenfalls muss jetzt auch Putin die wachsende Kriegsunlust ernstnehmen. Er hat versucht, durch eine neuerliche Fernsehansprache zu beschwichtigen. Die Fehler bei der Einberufung müssten behoben werden, wie die Einberufungen von Vätern vieler Kinder (was "viel" ist, sagt der Diktator freilich nicht), von Kranken und von zu Alten. Ganz offensichtlich sind solche Fehler im russischen System, wo regionale Gouverneure einfach den Befehl bekommen, eine bestimmte Anzahl an Rekruten zu greifen und an die Front zu bringen, massenhaft passiert. Sonst würde der Weltmeister im Lügen diese Fehler niemals öffentlich zugeben.
Noch in einer anderen Hinsicht versucht Russland jetzt die Notbremse zu ziehen. Der offizielle Kreml-Sprecher Peskow tadelte öffentlich alle jene, die von einer atomaren Eskalation reden, als "sehr unverantwortlich". Das ist nicht zuletzt eine massive Ohrfeige für den kleinen Wichtigmacher Medwedew. Der Putin-Substitut als Präsident hatte sich durch mehrere solche Drohungen offenbar zurück ins Machtspiel bringen wollen. Peskow wies jetzt jedoch ausdrücklich auf die genaue Formulierung in der russischen Verfassung hin, die "sehr wichtig" sei. Dort steht, dass ein russischer Atomwaffeneinsatz nur dann möglich sei, wenn durch einen Angriff "die Existenz Russlands selbst" auf dem Spiel steht.
Das ist ein eindeutiger Hinweis, dass im Kampf um die vier frisch annektierten ukrainischen Provinzen kein Atomwaffeneinsatz geplant ist. Und dass Moskau dies auch klar kommunizieren will.
Diese Aussagen sind die zweite sehr erfreuliche Nachricht aus Russland – auch wenn unklar bleibt, was eigentlich den Rückzug der russischen Drohgesten ausgelöst hat. Wahrscheinlich haben da mehrere Ursachen mitgespielt:
Dass das Atom-Rasseln quasi offiziell für beendet erklärt worden ist, ist jedenfalls die zweite eindeutig positive Nachricht aus Russland.
Bei den gebildeten und städtischen Russen ist zum Unterschied von der Landbevölkerung die Antikriegs-Stimmung jetzt schon mindestens so stark wie in Amerika während des Vietnam-Krieges. Da das Land aber keine Demokratie ist und keine Meinungsfreiheit hat, was es dort ja nur unter Gorbatschow und Jelzin voll gegeben hat, bleibt den jungen Russen nur die Flucht.
Den beiden guten Nachrichten steht jedoch eine entsetzliche und wahnwitzige aus Westeuropa gegenüber, die man kaum glauben kann: Ein EU-Land nach dem anderen hat die Grenzen für die anklopfenden Russen gesperrt. Der Vorwand dafür ist lächerlich: Es könnten sich auch Spione darunter befinden. Ja, eh. Aber bisher hat man Russen völlig ungebremst hereingelassen, obwohl früher eindeutig viel mehr Putin-Gefolgsleute dabei gewesen sind als jetzt.
So handelt die gleiche EU,
Man fasst es nicht. Wie dumm kann Europa eigentlich noch werden und die eigenen Interessen ignorieren und mit Füßen treten? Es missachtet die einmalige Chance, durch Hunderttausende gebildeter Russen viele Lücken von den Ärzten bis zu den Programmierern schließen zu können, die zu den besten der Welt zählen. Dabei geht es keineswegs nur um die aktuellen Kriegsdienst-Flüchtlinge der letzten Tage: Denn schon im August, also lange vor der Mobilisierung, hat der immer brillant informierte britische "Economist" von 150.000 bis 300.000 Russen gesprochen, die Putins Reich vor allem Richtung Georgien und Armenien, aber via Flugzeug auch Richtung Türkei und Golfstaaten bereits verlassen haben. Und jetzt hat eine russische Exilzeitung unter Berufung auf russische Geheimdienstler die Zahl von 261.000 Mann berichtet, die schon Russland verlassen hätten. Das sind alles potenzielle Soldaten.
Fazit: Die EU-Behörden und Gerichte gehen lieber auf die – meist erlogenen – Asylgeschichten der Afrikaner und Araber ein, als an die eigenen vitalen Interessen Europas zu denken. Diese Interessen würden zweifellos nahelegen, die hochgebildete Elite eines alten Kulturlandes aufzunehmen, um mitzuhelfen, im Westen die schlimmsten Lücken der geburtenfaulen Babyboomer-Generation zu schließen. Eine solche dringend benötigte Elite ist die bürgerliche Hälfte Russlands zweifellos, auch wenn Russland von einem Despoten regiert wird (Deutsche und Italiener sind schließlich ja auch immer trotz der schrecklichen Despotenzeit eindeutige Kulturvölker geblieben – und jene, die dort einst vor den Despoten geflüchtet sind, zählten oft überhaupt zu den allerwichtigsten Trägern der kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften).
Warum nur handelt EU-Europa so? Es ist ein Rätsel.
Eines ist jedenfalls absolut sicher: Es gibt zwar durchaus etliche Putin-Unterstützer im Westen. Aber das sind – neben den nicht ernst zu nehmenden Links- und Rechtsradikalen – nur solche Russen, die schon lange hier sind, die meist über Beziehungen zum russischen Regime verfügen, die hier bisweilen mit russischen Fahnen Mini-Demonstrationen veranstalten. Bei ihnen könnten und sollten die westlichen Sicherheitsbehörden tatsächlich genauer hinschauen, ob wir sie hier haben wollen.
Aber jene Russen, die vor Putins Krieg fliehen wollen, wären zu 99,9 Prozent eine positive Bereicherung für Europa. Von ihren Fähigkeiten her, von ihrem europäisch-christlichen Hintergrund her, von ihrem Anstand und von ihrer Anti-Putin-Einstellung her.
Sie wären eine Bereicherung, wie es etwa vor hundert Jahren auch jene Russen waren, die nach der Oktoberrevolution 1917 Richtung Westen geflohen sind (selbst wenn sie Van der Bellen hießen …).