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Die Ethik im Krieg oder: Wie mit Putin umgehen?

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wirft eine Reihe fundamentaler ethischer Fragen auf, bei denen unterschiedliche und widersprüchliche Werte und Perspektiven aufeinanderprallen. Sie müssen aber beantwortet werden, auch wenn sich von Washington bis Brüssel, von Kiew bis Berlin alle vor einer Antwort drücken. Kann und soll es die – von Kurz über Kickl bis zum Papst und Rendi – vage geforderten "Verhandlungen" geben, wobei aber keiner von ihnen sagt, was er eigentlich damit meint? Darf der Westen über den Kopf der Ukraine mit Russland verhandeln? Kann die Inbetriebnahme von Nordstream 2 noch jemals denkbar sein? Kann es eine akzeptable Lösung geben, die Putin an der Macht lässt? Welche Lösung ist moralisch und in Hinblick auf den künftigen Weltfrieden akzeptabel?

Verhandlungsbefürworter wie Sebastian Kurz liegen geschichtsfaktisch falsch mit der Aussage, dass jeder Krieg mit Verhandlungen geendet habe. Denn "Verhandlungen" im klassischen Sinn bedeuten immer einen Vorgang unter Gleichgestellten. Von den Weltkriegen bis zum Vietnamkrieg haben die größten Konflikte des letzten Jahrhunderts immer mit einem hundertprozentigen Sieg einer Seite geendet, der zwar bisweilen von Friedensverträgen begleitet worden ist. Diese Verträge sind jedoch immer von der Siegerseite diktiert worden, ohne dass es über die Inhalte echte Verhandlungen mit dem dafür typischen "Do ut des" gegeben hätte. Ich gebe etwas, damit du etwas gibst.

Umso wichtiger erscheint es, über die im ersten Absatz gestellten Fragen nachzudenken und eine sowohl sinnvolle wie ethisch vertretbare Antwort zu formulieren.

Soll es die – von Kurz über Kickl und den Papst bis Rendi – vage und ohne Inhalte angesprochenen "Verhandlungen" überhaupt geben?

Zu dem Zeitpunkt, da sie das vorgeschlagen haben, hätten Verhandlungen immer nur ein Diktat Moskaus, einen Sieg Putins bedeutet. Alles andere wäre naivste Illusion gewesen. Da sich aber inzwischen die Entwicklung im Kriegsgeschehen um 180 Grad zu wandeln scheint, macht es zum erstenmal einen Sinn, wenn die Ukraine und der sie unterstützende Westen über den möglichen Inhalt von Verhandlungen nachdenkt (jenseits des populistischen Rufes nach solchen).

Die notwendigen Bedingungen und möglichen Elemente für Verhandlungen

 

Der wichtigste, ja fast einzige Sinn von Verhandlungen kann nur in der Abkürzung eines in Wahrheit schon entschiedenen Krieges bestehen. In jedem anderen Fall wird der Krieg trotz Verhandlungen mit Sicherheit bald weitergehen oder bald wieder aufgenommen werden. Der Nutzen eines Verhandlungsfriedens kann in Wahrheit nur darin bestehen, dass dadurch einerseits die Niederlage Russlands nach außen nicht so klar ersichtlich wird und dass Russland andererseits dadurch schneller zur Hinnahme seiner Niederlage bereit ist. Nur aus diesem Grund sollte man es Moskau ermöglichen zu sagen: Es hat keine Niederlage, sondern einen ausverhandelten Frieden "auf Bitte der Türkei/der UNO/des Papstes" gegeben.

In jeder anderen Perspektive wären Verhandlungen eine Katastrophe. Keineswegs nur für die Ukraine, sondern für die Chance auf den künftigen Weltfrieden. Wer das nicht klar sagt, ist naiv (oder handelt gar bewusst im Interesse Russlands).

Ethisch ruft ansonsten zweifellos alles danach, dass es keinen Friedensschluss geben darf, bei dem Wladimir Putin im Amt bleibt. Wer so grundlos und verbrecherisch einen als Genozid zu charakterisierenden Angriffskrieg geführt hat, wer wie seit der letzten Woche flächendeckend Raketen auf zivile und Infrastruktur-Ziele in der Ukraine schickt (Dieser Beschuss nimmt offenbar nur deshalb etwas ab, weil Putin die Raketen ausgehen und die Ukrainer zu viele abschießen können), der sollte in einer zivilisierten Welt, die die Lehren aus den letzten hundert Jahren gezogen hat, nicht mehr als Staatschef amtieren dürfen.

Noch viel mehr: Putin muss als Kriegsverbrecher, als Schuldiger an einem eindeutigen Angriffskrieg vor ein internationales Gericht gestellt werden. Ebenso verlangt jede Idee von Gerechtigkeit, dass Russland Reparationen für die angerichteten Schäden zahlt. Die Welt hat schon wegen viel – relativ! – kleiner dimensionierter Kriegsverbrechen in den letzten Jahren Staats- und Militärführer vor den genau zu diesem Zweck geschaffenen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gestellt.

In dieser Perspektive scheint es also unabdingbar, dass alles getan wird, damit Putin vor einem solchen Gerichtshof endet. Vom Völkerrecht her, von der Wirkung auf potentielle künftige Übeltäter in anderen Weltregionen her, von der Glaubwürdigkeit der internationalen Weltordnung her, von den ethischen Prinzipien her.

Jedoch: Ein einziger ethischer Grundsatz spricht dagegen. Fiat iustitia pereat mundus. Es kann doch nicht sein, dass formale Gerechtigkeit auch dann zu geschehen habe, wenn dadurch die Welt untergeht, atomar oder auch "nur" konventionell. 

Das heißt im Konkreten: Wenn es einen Weg geben sollte, der einerseits Putin das Weltstrafgericht erspart und den Russen die Demütigung von Reparationsverpflichtungen, der andererseits den Menschen der Ukraine wie Russlands dafür Hunderttausende weitere Tote und millionenfaches weiteres Leid erspart, dann muss man diesen Weg ethisch trotz allem bejahen und versuchen – auch wenn sein Gelingen unwahrscheinlich ist.

Das ersparte Leid ist mehr wert, ist wichtiger als die Befriedigung, dass ein Verbrecher der Gerechtigkeit zugeführt wird.

Dieser Weg ist aber nur unter klaren Voraussetzungen und Bedingungen akzeptabel:

  1. Putin oder andere Führer Russlands (die es etwa dann gibt, wenn jemand dem derzeitigen Diktator im Interesse Russlands die Macht aus der Hand zu nehmen geschafft hat), müssen bereit sein, den Krieg schon deutlich vor der totalen Niederlage der russischen Armee beenden. 
  2. Eine Lösung, bei der nicht mehr Putin und seine derzeitigen Hintermänner an der Spitze stehen, ist in jeder Hinsicht zu bevorzugen. Daher sind Richtung Russland schon vor Friedensverhandlungen klare Signale (gemeinsam aus Kiew, Washington, London und den Hauptstädten der EU-Länder) zu senden, dass die Friedensbedingungen in diesem Fall deutlich besser sein werden.
  3. Für den Fall, dass Russland wirklich demokratisch und rechtsstaatlich wird (was noch deutlich mehr bedeutet als den Ersatz Putins durch einen anderen Machthaber), sind dem Land jetzt schon von Europa verbindliche und massive Unterstützungen zuzusagen; es darf sich nicht mehr das Schicksal des Boris Jelzin wiederholen, der mit seinen demokratischen Ansätzen komplett allein gelassen worden ist (und dessen demokratische Bemühungen von den Bürgern Russlands als negativ eingestuft werden, weil diese nicht nur unter den Schmerzen einer Systemumstellung, sondern auch denen fallender Öl- und Gaspreise gelitten haben). Uns muss schon aus Eigeninteresse die friedliche Zukunft Russlands mindestens genauso viel wert sein wie die Unterstützung von Jahrzehnten italienischer Schuldenwirtschaft.
  4. Es darf keinerlei territoriale Konzessionen an Russland geben – es sei denn, diese beruhen auf einer sauberen, also international überwachten Volksabstimmung unter allen(!), also auch den vertriebenen Bewohnern eines Gebiets.
  5. Alle von Russland verschleppten Ukrainer müssen sofort heimkehren.
  6. Eine Inbetriebnahme von Nordstream 2 kann zwar mit Zustimmung der Ukraine und Polens denkbar werden. Das erfordert aber zweifellos klare vertragliche Regelungen, dass diese beiden Länder keinen wirtschaftlichen Schaden durch den Betrieb dieser bisher nie aktiv gewordenen Pipeline erleiden, dass sie also von Deutschland und Russland entschädigt werden.
  7. Bei solchen Friedensverhandlungen können als Konzession, damit Moskau sein Gesicht wahren kann, auch – auch! – die USA mit am Tisch sitzen.
  8. Bei diesen Verhandlungen darf kein einziger formeller oder informeller Vorschlag gemacht oder gar akzeptiert werden, der nicht die volle Unterstützung der Ukraine hat.
  9. Als motivierende Konzession an Russland (die Putins vorgeschobenen Kriegsgrund ernst nehmen)  können begleitende internationale Verträge angeboten werden, denen zufolge es in einem breiten Streifen zu beiden(!) Seiten der Grenze nur verdünnte Truppenstrukturen, keine Raketen und Panzer geben darf und dass keine ausländischen Truppen dort dauerhaft stationiert werden dürfen.
  10. Ganz sicher aber muss die Ukraine wie jeder souveräne Staat weiterhin das Recht haben, der EU oder Nato beizutreten.

Nur unter diesen oder ähnlich klaren Bedingungen darf es Verhandlungen geben, wenn die demokratische Welt nicht den größten Fehler seit den 30er Jahren begehen will, als man Hitler immer wieder durch faule Kompromisse zu neuen Untaten ermutigt hat. Wer hingegen nur ständig vage und ohne klare Darlegung dieser oder ähnlicher Rahmenbedingungen nach "Verhandlungen!" ruft, der spielt das Spiel Putins. Auch wenn er es nur aus billigem Populismus tun sollte. Egal ob er Franziskus, Pamela, Herbert oder Sebastian heißt.

Ein solches Mitspielen bei Putins Eroberungsspiel wäre nicht nur für die Ukraine fatal. Ein direktes oder indirektes Absegnen selbst der kleinsten Gebietseroberung Putins etwa in der Krim oder im Donbas würde ein katastrophales Signal um die Welt senden. Denn:

  • Verhandlungen ohne die oben skizzierten Bedingungen würden einen klaren Triumph für Putin bedeuten.
  • Dieser selbst hat schon öfter signalisiert, dass seine großrussischen Träume noch viel weitergehen, auch gegen andere Länder gerichtet sind.
  • Aber auch zahllose andere Aggressoren – von der Türkei bis China – würden durch den Sieg Putins massiv ermutigt und zur Erkenntnis kommen, die Proteste der Weltgemeinschaft und ihr Widerstand gegen einen Eroberungskrieg sind ohnedies nur papieren und nicht weiter ernst zu nehmen. Denn man bekommt sie schon dadurch in die Knie, dass die Preise wegen des Krieges ansteigen.
  • Eine Vielzahl von Staaten wird in diesem Fall zum klaren Schluss kommen: "Wir müssen uns Atomwaffen besorgen; denn nur dann sind wir vor Aggressoren sicher – beziehungsweise: Denn nur dann können wir unsere geplanten Gebietseroberungen  umsetzen."

Solche Verhandlungen wären also mit absoluter Gewissheit nur der Startschuss für viele neue Kriege. Wissen Franziskus, Pamela, Herbert und Sebastian das nicht? 

Wobei – nochmals sei es gesagt – ohnedies schon das Zugeständnis extrem schwer fällt, ein Weiteramtieren Putins und eine Inbetriebnahme von Nordstream 2 hinzunehmen, wenn dafür den Krieg abgekürzt wird.

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