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Twitter und das falsche Gewicht

44 Milliarden Dollar soll der Kurznachrichtendienst Twitter wert sein. Elon Musk wollte das zuerst zahlen, besann sich dann aber eines Besseren und wird deshalb jetzt von den Twitter-Gewaltigen geklagt. Aber Twitter ist mehr als ein Milliarden-Thema. Es ist ein demokratie-politisch bedenkliches Phänomen, weil dort eine durch nichts legitimierte lautstarke Minderheit die Mehrheit zu dirigieren versucht.

Wie das in Zeiten des Internet üblich ist, nimmt sich die 2006 gegründete Plattform als weltweites Forum wahr. Mittlerweile soll der Dienst 330 Millionen aktive Nutzer in aller Herren Länder zählen.

Was nach sehr viel klingt, ist aber nur ein winziger Teil der Weltbevölkerung (4,2 Prozent). Und – wie man aus der Auseinandersetzung um den geplatzten Kauf durch Elon Musk weiß – ob die Zahl überhaupt stimmt, lässt sich nicht sagen. Denn der Rückzugsgrund des reichsten Menschen des Planeten war, dass die Betreiber nicht offenlegen wollen, wie viele von den Twitter-Accounts Bots sind – also nicht Menschen, sondern automatisierte Accounts, die programmierte Aktionen abarbeiten.

Davon einmal abgesehen, muss man sich die Definition eines "aktiven Nutzers" genauer ansehen: Das ist jeder, der mindestens einmal im Monat seinen Twitter-Account anschaut. Nur weniger als zwei Prozent dieser "Aktiven Nutzer" – ungefähr 6,25 Millionen Menschen – tun das täglich.

Noch weniger Twitter-Nutzer sind mehr als nur Leser und posten irgendwelche Inhalte. Das renommierte Pew Research Center fand heraus, dass 80 Prozent der Inhalte auf Twitter von nur 10 Prozent der Twitter-Nutzer gepostet werden.

Und dieser winzige Teil eines ohnehin kleinen Prozentsatzes beeinflusst Wahlen, lässt Börsenkurse krachen, ruiniert Karrieren?

Wahrscheinlich liegt eine Erklärung für so viel Einfluss darin, dass alles auf dieser Plattform sehr laut, sehr wild, sehr übertrieben ist. Das liegt auch daran, dass die "Tweets" (also die Wortmeldungen) in der Länge äußerst beschränkt sind (280 Zeichen). Erzwungene Kürze führt meist zur Überpointierung und im Kampf um das kostbare Gut Aufmerksamkeit wird das noch in negative Höhen getrieben. Wie der englische "Guardian" es einmal formulierte: Auf Twitter versammeln sich die ärgerlichsten Menschen dieser Welt und schreien sich von früh bis spät mit ihren am wenigsten durchdachten Meinungen an. Twitter wird auch als Super-Megaphon für eine großmäulige Minderheit bezeichnet.

Die sozialen Medien haben eine neue Maßeinheit für Erfolg geschaffen. Bei Facebook waren es noch "Freunde", von denen man viele haben wollte, bei "Instagram" und "Twitter" sind es "Follower". Man misst seine Popularität an ihren "Likes" und "Re-Tweets". Und diese Gefolgschaft muss riesig sein, wenn man etwas darstellen möchte. Da kommen dann die von Musk inkriminierten Bots ins Spiel: Es gibt "Click farms", die die Zugriffszahlen künstlich steigern. Fake Accounts, die von automatisierten Programmen betrieben werden, retweeten. Aber es gibt auch ganz menschliche Manipulation: So soll etwa der Internet-Gigant Amazon Twitter-Nutzer dafür bezahlt haben, dass sie gegen Angriffe auf Amazon-Gründer Jeff Bezos "retweeten".

Und bei uns?

Zuletzt betrug die Nutzerzahl hierzulande 160.000 (wobei, siehe oben, nicht alle für Inhalte sorgen) – es ist mit Abstand das kleinste soziale Netzwerk in unserem Land (2 Prozent Marktanteil) – Facebook hat 3,9 Millionen österreichische Nutzer (44 Prozent Marktanteil) und Instagram 2,4 Millionen (28 Prozent). Ein Winzling eigentlich.

Trotzdem ist er allgegenwärtig. Vor jeder Wahl werden die "Follower" der Kandidaten gezählt und verglichen. Wie reell diese Zahlen sind, sei dahingestellt. Wenn man bedenkt, dass auf dem zweiten Platz der Hitliste der populärsten Twitterer ein weithin unbekannter Rock-Musiker – ein Peter Box von einer Gruppe namens Radiotabu – mit angeblich 565.000 Followern liegt, dann liefert auch die Tatsache, dass 55 Prozent der Twitter-User zwischen 20 und 40 jung sind, keine Erklärung. Da beginnt man Elon Musks Bot-Vermutung zu teilen. Es werden unter den Hunderttauseden (auch bei den Spitzenpolitikern) wohl viele Fakes sein. (Der populärste Twitter-Account gehört übrigens keiner Person, sondern dem Streaming-Dienst Netflix.)

Was diesen Marktplatz der Eitelkeiten aber besonders einflussreich macht, ist die Tatsache, dass sich viele Medienvertreter dort tummeln und Meinung machen. Wer sich anschaut, wie das Quartett Armin Wolf und Manfred Thür (ZiB2), Florian Klenk (Falter) und Norbert Kappacher (ORF-Radio-Information) sich die Bälle zuspielt, wird sich über manch unerklärliche Einschätzung der Wichtigkeit einer Nachricht nicht mehr wundern.

Wie oft Zeitungen ihre Stories aus kopierten Tweets zusammenstoppeln, lässt zwar an der Seriosität manches Artikels zweifeln, aber es weitet die Einflusssphäre des Kurznachrichtendiensts aus, obwohl er an sich nicht mehr ist als ein Nischenprodukt. Die Bereitwilligkeit, Tweets als "Information" zu verwenden, nutzen auch Politiker geschickt aus: Ein flapsiger Tweet und man erhält größere Resonanz als durch eine inhaltlich durchdachte Wortmeldung.

Es ist also ein sehr künstliches Gewicht, das Twitter da zugewachsen ist. Und neben all den vom Tagebuch schon mehrfach kritisierten bedenklichen Entwicklungen der Einschränkung der Meinungsfreiheit – teils erzwungen durch Gesetzgebung gegen sogenannte "Hasspostings", teils freiwillig-autoritär wie beim Sperren des Accounts von Donald Trump – ist es erschreckend, wie leicht sich gerade Politiker von sogenannten "Shitstorms" auf Twitter einschüchtern lassen. Würden sie sich vergegenwärtigen, wie wenige das sind, die auf dem Minderheitenprogramm Twitter herumgeifern, dann würden sie sich weniger fürchten.

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