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Deutsche Prominente aus der sogenannten Kulturszene haben in einem offenen Brief an Bundeskanzler Scholz "Waffenstillstand jetzt!" für die Ukraine gefordert. Zu den – durchwegs von den Mainstreammedien angebeteten – Autoren gehören etwa der Modephilosoph Richard David Precht oder die ebenso gehypte Autorin Juli Zeh. Auf den ersten Blick werden auch manche andere meinen, diese Forderung wäre doch genau das Richtige.
Aber das ist sie ganz und gar nicht! Die Ukrainer wissen genau, warum sie erbittert weiterkämpfen und nicht auf solche Vorschläge eingehen. Und wir sollten ihnen ewig dankbar sein dafür. Precht und die anderen Briefschreiber aus der modischen In-Szene hingegen agieren mit dieser Forderung als nützliche Idioten des russischen Imperialismus. Denn in den allermeisten Fällen haben sich die Waffenstillstandslinien im Lauf der Zeit zu dauernden Grenzlinien verfestigt.
Die einzige offene Frage ist dabei: Sind sich die Briefschreiber dessen auch bewusst, welche infame Rolle sie mit dieser Forderung spielen – ohne gleichzeitig auch Freiheit, Unabhängigkeit und Sicherheit für die ganze Ukraine zu verlangen?
Ein Waffenstillstand jetzt würde bedeuten, dass Russland seine riesigen Eroberungen in der Ost- und Südukraine abgesegnet bekommt. Ab diesem Zeitpunkt würde selbst die kleinste Gegenoffensive der Ukrainer zur Befreiung einzelner Gebiete plötzlich zu einer von aller Welt verurteilten Waffenstillstandsverletzung, so etwa die jetzt gelungene Rückeroberung der sogenannten Schlangeninsel vor Odessa.
Ein "Waffenstillstand jetzt!" wäre aber nicht nur für die Ukraine eine absolute Katastrophe. Das würde vielmehr auch allen anderen Ländern mit Aggressionsplänen ein grünes Licht geben. Denn dann wissen sie: Maximal drei Monate ist mit Widerstand zu rechnen, dann wimmert die Welt um Ruhe, dann haben wir gewonnen.
Genau das wäre die Folge der Forderung, die jetzt ausgerechnet die angeblichen "Vordenker" der linken Mainstreammedien erhoben haben. Sie haben damit bewiesen, dass sie vieles tun, aber sicher nicht denken.
Die Genehmigung der jetzigen russischen Eroberungen in der Ukraine würde sogar mit großer Wahrscheinlichkeit sehr bald auch wieder zu weiteren Forderungen von Russland selbst führen. Man schaue sich nur an, wie einst Hitler Schritt für Schritt mit kurzen Atempausen eine Eroberung nach der anderen gesetzt hatte – Rheinland, Österreich, Sudetengebiete, Tschechoslowakei – während die feige Außenwelt jedes Mal gemeint hat: Diese eine Eroberung lassen wir ihm noch, dann ist aber Schluss. Jedoch kam dann immer noch eine Eroberung und noch eine.
Niemand sollte heute mehr zweifeln, dass Putin im Inneren von der nationalistischen Gier gepackt ist, alle jene Gebiete zurückzuerobern, wo Moskau einst einmal die Macht gehabt hatte. Das wäre nicht nur in der nächsten Etappe die ganze Restukraine. Das wären auch große Teile der EU, vom jahrhundertelang bis ins 20. Jahrhundert von den Russen beherrschten Finnland über das Baltikum und mehrere Nachbarn Österreichs bis zum Balkan. Das wäre aber nach der in Moskau jetzt herrschenden Logik auch der ganze Osten Deutschlands und ebenso – Österreich bis zur Enns. Überall hatten die Russen im vorigen Jahrhundert ja schon die Macht gehabt.
Irgendwelche Schmähs, warum es wichtig sei, gerade im jeweils angegriffenen Land "Nazis" zu vertreiben, lassen sich für die russischen Propagandisten leicht finden. Sind sie doch Weltmeister im Lügen und Erfinden. Notfalls setzen sie einen elektronischen Avatar ein, der mit Geistesgrößen wie Michael Ludwig telefoniert und diesen alles Mögliche beibringt ...
Die Gefahr einer Ermutigung von potenziellen Aggressoren und die Beispielswirkung eines russischen Sieges ist zweifellose der Hauptgrund, warum es letztlich auch für uns so wichtig ist, dass es den Ukrainern gelingt, die Russen wieder aus ihrem Land zu vertreiben.
Diese sonst drohende Wirkung kann aber auch bei anderen Ländern eintreten. Insbesondere in Asien schaut man genau hin, ob die Kräfte der Freiheit noch den Willen und die Ausdauer haben, auch längerfristig einem Eroberer Widerstand zu leisten. Am genauesten schauen zweifellos die Taiwanesen hin, die schon seit Jahrzehnten vor einem chinesischen Angriff bangen. Aber auch Vietnam, Indien und Südkorea wissen, dass in China ein seit Jahrtausenden immer wieder aufflackerndes Suprematsdenken in Hinblick auf große Teile Asiens herrscht. Das entspricht genau dem Denken Putins, der die Welt in großen Einflusszonen der Großmächte weit über ihre heutigen Landesgrenzen hinaus aufgeteilt sieht. Für den die Freiheit anderer Staaten, deren Unabhängigkeit und das Völkerrecht unbekannte Fremdwörter sind.
Vielleicht haben Precht und Genossen zumindest so viel Geschichtswissen, um sich vorstellen zu können, wie verheerend es gewesen wäre, hätten vor 80 Jahren andere Modephilosophen einen "Waffenstillstand jetzt!" verlangt und durchsetzen können. Also zu einem Zeitpunkt, da Adolf Hitlers Truppen vor, in oder rund um Moskau, Stalingrad und Leningrad gestanden waren; da die Nazis von Athen bis Norwegen, von Paris bis zum Balkan, von Rom bis Amsterdam mit ihrem blutigen Terrorregime geherrscht hatten.
Hätten sich damals "Waffenstillstand Jetzt!"-Rufer durchgesetzt, könnten die Erben Hitlers wahrscheinlich heute noch über diesen ganzen Raum herrschen. Selbst wenn es in einem solchen Nazi-Imperium später einen Gorbatschow und einen Jelzin gegeben hätte, die den Völkern ihre Freiheit zurückgegeben hätten, wäre es dann sehr leicht möglich gewesen, dass ein paar Jahre später wieder ein neuer Machtgieriger auf den Thron kommt, der diese Rückgabe als schwerste Katastrophe der Geschichte bezeichnet und mit Gewalt rückgängig zu machen versucht. Wie Putin jetzt den Zerfall und die Demokratisierung der Sowjetunion.
Gewiss, Briefeschreiber sollen wie jeder andere in einer freien Gesellschaft frei ihre Meinung äußern können. Aber es wäre abgrundtief dumm zu glauben, dass Künstler, Philosophen und Konsorten in irgendeiner Hinsicht als Vordenker legitimiert wären, dass sie in der Demokratie eine privilegierte Stimme haben sollten. Denn sie produzieren genauso viel Unsinn wie die meisten Provinz-Stammtische.
Übrigens: Auch Putin hat seine Hausphilosophen, die ihm vermittelt haben, dass Russlands Oberhoheit über andere Völker legitim und berechtigt wäre.
PS: Die Notwendigkeit, dass Putin seine Eroberungen wieder hergeben muss, sollen nicht die oben skizzierten Folgerungen passieren, scheint es zunehmend auszuschließen, dass man ihn gleichzeitig sein Gesicht wahren lässt. Dennoch gilt es, immer wieder auch darüber nachzudenken. Wichtig ist ja nicht seine Demütigung oder gar Bestrafung, sondern die Lektion an alle Welt, dass kriegerische Eroberungen keinen Platz mehr haben dürfen.