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Das gelähmte Frankreich

Jahrzehntelang galt Frankreich dank der von Charles de Gaulle 1958 initiierten Verfassung als Inbegriff politischer Stabilität. Jetzt ist dieses System jedoch gegen die Mauer geknallt. Emmanuel Macron hat zwar die Wiederwahl als Präsident geschafft. Bei der unmittelbar anschließenden Parlamentswahl hat er die absolute Mehrheit jedoch deutlich verfehlt. Darauf war aber weder er noch Frankreich vorbereitet.

Kehrt Frankreich wieder in jene Zeiten zurück, da das Land mehrere Generationen lang von instabilen Regierungsmehrheiten, vorgezogenen Neuwahlen und Unregierbarkeit geprägt war? Der Jammer jener Chaoszeiten war kausal für die Schwäche Frankreichs in beiden Weltkriegen und für die Niederlagen in den Kolonialkriegen von Indochina bis Algerien gewesen. Die Franzosen haben deshalb meist dem von ihnen gewählten Präsidenten auch eine Parlamentsmehrheit gegeben. Zur Stabilität Frankreichs trug neben diesem Verhalten auch das Mehrheitswahlrecht bei, das lange zu einem Zweiparteiensystem geführt hatte, das über Jahrzehnte von den Gaullisten und Sozialisten dominiert gewesen ist.

Doch seit Macron ist alles anders. Heute sind gleich vier Parteien relevant. Heute hat der Präsident keine Parlamentsmehrheit bekommen.

Macron hatte vor fünf Jahren die Präsidentenwahl im Alleingang gewonnen, nachdem er sich von den Sozialisten getrennt hatte, deren Minister er früher gewesen ist. Er konnte danach auch rasch eine Partei aus dem Boden stampfen, die damals noch absolut gewann.

2022 haben ihm die Franzosen dies jedoch verweigert. Aus vielen Gründen. Sie waren – und sind – verärgert über all die Mühsal der Corona-Pandemie. Sie empfinden Macron als zu abgehoben und eingebildet. Sie leiden unter der Inflation. Einen Höhepunkt hat die Anti-Macron-Stimmung in den Gelbwesten-Protesten erreicht. Deren wichtigste Ursache waren die Benzinpreiserhöhungen, mit denen Macron das Klima retten wollte. Dies wurde aber von den unteren und mittleren Schichten als Attacke einer abgehobenen Elite empfunden, die nicht begreift, wie abhängig sie vom Auto sind.

Einen großen Anteil am Frust der Franzosen, der sie längst die Sorge vor der einstigen Instabilität vergessen hat lassen, hat aber auch die rasch wachsende Zahl der Moslems, auch wenn darüber offiziell nicht viel geredet wird. Die Moslems in Frankreich sind vor allem ein Relikt der französischen Kolonialherrschaft in Nordafrika. In den 50er Jahren übersiedelten vor allem jene Algerier nach Frankreich, die zu fürchten vorgaben, als Kollaborateure mit der Kolonialmacht nach deren Abzug verfolgt zu werden. Dennoch haben sich die meisten nie wirklich in Frankreich integriert, obwohl mit voller Staatsbürgerschaft versehen. Sie leben in den Vorstädten rund um die großen Städte mehr oder weniger unter sich und haben sich zum Teil intensiv dem Islam als Zeichen ihrer Identität zugewandt. Einige von ihnen sind für schlimme Terroranschläge von Nizza bis Paris verantwortlich.

Und sie vermehren sich rasch. Die Zahl der Moslems steigt von fünf Millionen im Jahr 2010 auf rund  sieben im Jahr 2040. Die der französischen Christen sinkt hingegen im gleichen Zeitraum von 40 auf 33 Millionen.

Diese Entwicklung macht vielen Franzosen Angst. Sie ist Hauptursache des erstaunlichen Erfolgskurses von Marine Le Pen. Sie konnte 2022 die Zahl ihrer Abgeordneten nicht weniger als verzehnfachen und hatte schon als Stichwahl-Gegnerin von Macron über 41 Prozent erzielt. Vor fünf Jahren waren es noch 34 Prozent – und auch das war damals ein großer Schritt eines scheinbar unaufhaltbaren Aufstiegs. Es zeigt sich: Die wüsten Kampagnen gegen die Rechtspopulistin als angebliche Extremistin ziehen nicht mehr. Und wenn Le Pen auf ihrem Kurs bleibt, so scheint es durchaus möglich, dass sie in fünf Jahren erste Präsidentin Frankreichs wird. Dieser Kurs lautet im Wesentlichen: Freundlich im Auftreten, aber klar migrations-, islam-, Nato- und EU-kritisch.

Mit anderen Worten: Le Pen ist im bürgerlichen Wohnzimmer angekommen. Das weiß jetzt auch Macron. Er ist mangels eigener Mehrheit bereit – und das ist die wahre Sensation –, auch die Hilfe Le Pens in Anspruch zu nehmen, wenn er für einzelne Gesetze eine Mehrheit sucht. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu Deutschland, wo es noch als völlig undenkbarer Tabubruch behandelt wird, irgendeine Abstimmung mit Hilfe der AfD zu gewinnen. Siehe etwa das einstige Drama um die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen (für das jetzt Angela Merkel vom Verfassungsgericht nachträglich ein Kopfstück bekommen hat).

Noch erfolgreicher bei der Parlamentswahl war das Linksbündnis NUPES unter Jean-Luc Melenchon. Während die Le-Pen-Fraktion drittstärkste Fraktion ist, ist NUPES auf den zweiten Platz gekommen. Interessanterweise behandelt Macron, immerhin Ex-Mitglied einer sozialistischen Regierung, aber NUPES völlig gleich mit Le Pen: Er schließt mit beiden Koalitionen aus, hält aber sowohl Kooperationen bei einzelnen Gesetzen für möglich wie auch die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, wo alle dabei sind. Letzteres ist realpolitisch freilich undenkbar – höchstens als kurze Zwischenstufe zu Neuwahlen.

Das ist für Le Pen ein Triumph, für Melenchon hingegen eine Demütigung. Er hat sich ja schon als Premier gesehen. Aber Macron weiß: Le Pen kann für ihre ganze Partei sprechen. Auf der Linken geht das ganz und gar nicht. Denn NUPES ist eine wilde Mischung von Grünen und Sozialisten mit Kommunisten (was im Übrigen auch deren demokratische Gesinnung ein wenig fragwürdig macht).

Nur die Konservativen kommen für Macron als echte Koalitionspartner in Frage. Die einst wichtigste Gruppierung Frankreichs – von de Gaulle über Chirac bis Sarkozy – lehnt das aber ab. Sie fürchtet wohl zu Recht, dass ihr als bloßes "Reserverad" bald ganz die Luft ausgehen wird, und dass die letzten Wähler zu Le Pen wechseln würden.

Denkbar ist höchstens eine "Cohabitation", wo die Konservativen vom vierten Platz aus den Ministerpräsidenten stellen. Ein solches Angebot würde sie wohl umdenken lassen.  Das zu machen wäre aber für Macron ziemlich hart. Denn dann müsste er jenseits aller großen europäischen Krisen viel Energie nur in die Beziehung zu einem profilierungsbedürftigen Premier investieren.

Jetzt ist Ratlosigkeit angesagt. Macron kann von Neuwahlen nur wenig erhoffen. Frankreich hat aber auch keine Tradition wie die USA mit ihren oft unterschiedlichen Mehrheiten einerseits im Weißen Haus und andererseits in einer Kongresskammer. Dort aber ist der Präsident zugleich auch Regierungschef. Dort kann er sich einzelne Abgeordnete mit durchaus legalen Gegengeschäften kaufen. Beides ist in Frankreich ganz anders.

So lernt Frankreich, dass De Gaulles Verfassung vielleicht doch nicht so schlau ausgetüftelt ist, wie es sechs Jahrzehnte lang schien.

So wird Europa lernen, dass es mit einem halblahmen Frankreich, mit einem angesichts einer mühsamen Dreierkoalition bestenfalls humpelnden Deutschland und ohne sonstige Führungspersönlichkeit nur sehr langsam unterwegs sein kann, wenn überhaupt.

Und das während der größten Sicherheitsbedrohung im Nachkriegseuropa.

Ein Text mit ähnlichem Inhalt ist in der europäischen Wochenzeitung "Epoch Times" erschienen.

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