Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (13 Euro pro Monat/130 pro Jahr) ist jederzeit beendbar und endet einfach durch Nichtzahlung.
Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (13 Euro pro Monat/130 pro Jahr) ist jederzeit beendbar und endet einfach durch Nichtzahlung.
Mehr als hundert Tage leidet die Ukraine schon unter dem russischen Angriff, unter den Terrorbombardierungen und darunter, dass die russischen Eroberer schon ein Fünftel des Landes gestohlen haben. Aber auch die Russen haben schwere, in keiner Weise erwartete Verluste erlitten und sind auf lange von einem schweren wirtschaftlichen Rückschlag sowie weitgehender Isolierung bedroht. Außer einer kompletten Niederlage einer Seite – die aber noch Jahre entfernt wäre – gibt es nur eine einzige Lösungsformel für einen Friedensschluss. Dieser könnte relativ rasch erzielt werden, mit ihm könnten am Ende beide Seiten leben und er würde auch keine Ermutigung für die anderen eroberungslustigen Diktatoren dieser Welt bedeuten, nach russischem Vorbild loszuschlagen. Dennoch will – noch – keine Seite diesen Weg gehen. Aber auch der Westen will aus Eigeninteresse nicht über diesen Weg reden.
Diese einzig gerechte Lösung wäre ganz eindeutig eine faire Selbstbestimmung für die Einwohner der Ostukraine, der Krim und aller von den Russen eroberten Gebiete. Fair ist aber natürlich nicht das, was die Russen in den eroberten Gebieten als Referenden inszenieren. Auch wenn einige korrupte westliche Persönlichkeiten dafür einen Persilschein ausgestellt haben. Aber diese Referenden erinnern lebhaft an Hitlers "Volksabstimmung" in Österreich im April 1938 .
Eine faire Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts müsste ganz anders aussehen und zumindest folgende Voraussetzungen erfüllen:
Die Selbstbestimmung wäre jedenfalls die einzige gerechte und unblutige Antwort auf die widersprüchlichen Rechtfertigungsbehauptungen beider Seiten über die Wünsche der jeweiligen Bevölkerung. Deren Wünsche sind aber auch über die Friedensperspektive hinaus moralisch viel wichtiger als alle völkerrechtlichen oder historischen Argumente, die da jeweils vorgebracht – und oft sofort wieder bestritten werden.
Warum müssen dennoch täglich und wohl noch lange so viele Menschen sterben? Warum droht Afrika dennoch eine Hungerkatastrophe? Warum zerstört Russland alle eigenen Perspektiven, sich in die Weltgemeinschaft zu integrieren, und kann lediglich auf eine internationale Perspektive im Klub der blutigen Diktatoren von Venezuela bis Nordkorea hoffen?
Das erklärt sich vor allem damit, dass es auf beiden Seiten für die Führungen extrem schwierig ist, von den Maximalpositionen abzurücken. Denn da wie dort steht eine klare Mehrheit der eigenen Bürger – noch? – voll hinter diesen Positionen.
Daher sind beide Seiten froh, dass sie ihre Ansprüche zwar weiterhin verbal behaupten können, aber nicht objektiv durch ein Bürgervotum abtesten lassen müssen. Lieber führen sie vorerst weiterhin Krieg.
Warum aber kommt auch von außen kein Engagement für die einzig friedliche Lösung, bei der beide Nationen und ihre Führungen gesichtswahrend überleben und daher vielleicht doch einen jahrelangen Krieg vermeiden könnten? Warum sehen wir nur Scheinaktionen wie die diversen Telefonate und für die Fernsehkameras veranstalteten Kiew- und Moskau-Besuche, die allesamt mehr für die heimische Bevölkerung gedacht sind, als dass sie einen echten Frieden näherbringen? Gar nicht zu reden von den peinlich lächerlichen Forderungen der Roten und Blauen aus Österreich, dass man doch endlich Wien als Verhandlungsort anbieten solle – als ob das Fehlen eines Verhandlungsortes das Problem wäre.
Während Österreichs Politiker in diesem Krieg freilich ohnedies völlig irrelevant sind, hängt die europaweite Vermeidung jedes Hinweises auf eine echte Selbstbestimmungslösung damit zusammen, dass viele in der EU dominierende Nationen panische Angst vor Selbstbestimmungsforderungen haben, die auch bei ihnen noch lauter werden könnten, als sie es ohnedies immer wieder sind. Wie einige Beispiele zeigen:
Weil Machthaber und Mehrheitsbevölkerungen vor einer rein demokratischen Entscheidung der von ihnen beherrschten Menschen Angst haben, beharren angeblich demokratische Staaten auf der Fortsetzung einer nur durch Gewalt und Eroberung herbeigeführten Situation. Daher können sie auch keine tauglichen Vorschläge zur Beendigung des Ukraine-Krieges machen und riskieren lieber selbst Gewalteskalationen. Wie wir sie etwa bei den Jugoslawienkriegen hautnah erlebt haben. Diese sind nach dem Ukraine-Krieg die zweitschlimmsten Auseinandersetzungen im Nachkriegseuropa – und ebenfalls Folge der Verweigerung von Selbstbestimmung gewesen.
Von den vielen Vertreibungen nach dem zweiten Weltkrieg sei erst gar nicht geredet, etwa von den zweieinhalb Millionen nach dem zweiten Weltkrieg aus Böhmen und Mähren Verjagten. Sie alle haben Brutalität statt Selbstbestimmung erlebt, sind also noch schlechter behandelt worden als Südtiroler und Einwohner Siebenbürgens.
Lediglich Großbritannien hat erkannt, dass man mit dem Angebot der Selbstbestimmung einen jahrzehntelang blutigen Konflikt unblutig lösen kann. Aber auch die Briten haben lange gebraucht, um Ulster/Nordirland das zuzugestehen, was in etlichen Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem friedlichen Wechsel des Nordens zur irischen Republik führen wird. Sofern die demokratische Mehrheit das wünscht. Es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade das Mutterland der Demokratie den Schritt zum Selbstbestimmungsrecht akzeptiert.
PS: Klar muss freilich sein, dass jede Selbstbestimmungslösung mit einem starken, auch international verankerten Minderheitenschutz verbunden sein muss. Denn es wird ja nach einer Entscheidung der Mehrheit für eine Sezession überall Bevölkerungsteile geben, die sich sprachlich, kulturell oder auch religiös dem bisherigen Staat eher zugehörig fühlen als der neuen Konstellation. Auch diese Menschen müssen unter Bewahrung ihrer Identität in die Zukunft blicken können.