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Der österreichische Bundeskanzler reist nach Moskau. Das ist sensationell. Das bringt für ihn freilich das 95-prozentige Risiko, nachher von Medien und Oppositionsparteien als weltpolitischer Wichtigmacher, als ahnungsloser Adabei, als nützlicher Idiot eines Aggressors in der Luft zerrissen zu werden. Das bringt für ihn aber auch die 5-prozentige Chance, mit genau den richtigen Worten der einzigen noch möglichen Lösung für die Ukraine den Weg gewiesen zu haben. Dazu müsste Karl Nehammer freilich in den letzten Tagen sehr intensiv seine Lektionen in Sachen österreichischer Neutralität nachgelernt haben, wo er ja bisher total blinde Flecken gezeigt hat. Dazu müsste er auch brauchbare außenpolitische, historische und völkerrechtliche Berater um sich gefunden haben, von denen bisher keine Spur zu sehen gewesen ist. Diese kleine Chance hat sich deshalb geöffnet, weil Wladimir Putin selbst Österreich als mögliches Beispiel für eine Ukraine-Lösung angesprochen hat. Und weil das zweifellos der Grund ist, weshalb Putin jetzt ausgerechnet den österreichischen Regierungschef sehen will (mit nachträglicher Ergänzung).
Zwar ist durchaus möglich, dass Putin das nur in dem Glauben getan hat, mit dem außenpolitischen Anfänger aus Wien leichtes Spiel zu haben, während ihm überall sonst in der demokratischen Welt total die Gesprächspartner abhanden gekommen sind. Hat er sich doch mit Österreichern früher immer schon leicht geredet, ob Wolfgang Schüssel, ob Alfred Gusenbauer, ob Karl Schranz, ob Sebastian Kurz, ob Karin Kneissl.
Putin vergisst nur, dass das in Zeiten eines sich noch halbwegs benehmenden Russlands gewesen ist. Deshalb muss sich aber auch Nehammer jetzt völlig anders verhalten als die Genannten. Deshalb kann Nehammer nicht aus Moskau abreisen, ohne das Wort "Kriegsverbrechen" ausgesprochen zu haben. Tut er das nicht, steht Österreich international total blamiert da. Und Nehammer wird zur peinlich-lächerlichen Figur, die sich aus Eitelkeit instrumentalisieren hat lassen, damit Putin der Welt zeigen kann, dass er doch nicht als kriegsverbrecherischer Neohitler international isoliert ist, in der er nur noch von anderen blutrünstigen Diktatoren akzeptiert wird.
Lässt Nehammer sich wirklich dazu missbrauchen, ohne irgendeine Gegenleistung zu erhalten?
Winzige Hoffnung ist, dass Putin doch zu mehr bereit ist, dass Nehammer schon vorher diesbezügliche Signale bekommen hat. Es ist zumindest denkbar, dass Putin Unterstützung für den von ihm selbst angesprochenen österreichischen Weg für die Ukraine sucht, dass er erkannt hat, der Krieg sollte in seinem eigenen Interesse möglichst bald beendet werden. Dieser Krieg läuft für ihn ja lange nicht so gut und einfach, wie er am Anfang angenommen hatte. Und er schadet zugleich Russland auf Grund der ebenfalls unerwartet heftigen Sanktionen ganz enorm. Da könnte der Regierungschef aus Österreich der richtige Katalysator sein, aus all dem noch irgendwie herauszukommen.
Für den winzigen Fall dieser winzigen Möglichkeit hat Nehammer die winzige Chance, zur großen historischen Persönlichkeit zu werden. Aber dazu müsste er jedenfalls kristallklar machen, was das österreichische Beispiel konkret bedeutet, soll es auf die Ukraine angewandt werden, soll aus dem Gerede von der österreichischen Neutralität eine konkrete Friedensperspektive erwachsen.
Das müsste ein Friedensplan mit folgenden Eckpunkten ganz in Analogie zu Österreich werden:
A) Die Ukraine erklärt aus freien Stücken ihre immerwährende Neutralität, verzichtet auf den Beitritt zu einem militärischen Bündnis und die Stationierung fremder Truppen und notifiziert das allen Staaten.
B) Russland bekommt in einem Friedensvertrag keine Sonderstellung, sondern ist wie im österreichischen Staatsvertrag nur einer von mehreren gleichberechtigten Partnern, von denen keiner das Recht zur Intervention in der Ukraine bekommt.
C) Entscheidend ist vor allem der Abzug der russischen Truppen aus ALLEN Gebieten, die völkerrechtlich zur Ukraine gehören, also auch aus der Krim und allen anderen Territorien, die seit acht Jahren von Russland besetzt gehalten werden – so wie 1955 Staatsvertrag und Neutralität den Abzug ALLER Besatzungstruppen aus Österreich bedeutet haben.
D) Alle Beteiligten erklären, dass die Ukraine in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht völlige Freiheit hat, dass sie also etwa auch der EU beitreten kann. Ebenfalls wie Österreich.
Was könnte den Russen dafür angeboten werden?
E) Verzicht der Ukraine auf bestimmte Angriffswaffen wie insbesondere weitreichende Raketen und Atomwaffen.
F) Inbetriebnahme der Ostsee-Gaspipeline Nordstream 2.
G) Eine international überwachte Volksabstimmung NACH Abzug der russischen Truppen, in der die Bürger jedes umstrittenen Territoriums – also einschließlich der aus diesem Territorium Geflüchteten und Vertriebenen! – darüber befinden, ob das Gebiet lieber zu Russland oder zur Ukraine gehört (das wäre zwar keine Analogie zu Österreich 1955, aber zu Österreich 1920, als in Südkärnten die Bürger in einer Volksabstimmung über ihre Zukunft frei entscheiden konnten – eine Lösung, die auch für viele andere altösterreichisch-deutschsprachige Gebiete damals wichtig gewesen wäre, aber nicht zustande kam, was dann entscheidend zum nächsten Weltkrieg beigetragen hat).
H) Verzicht des Internationalen Strafgerichtshofs und aller anderen Gerichtshöfe auf Strafverfolgung von Kriegsverbrechen. Dieser letzte Punkt wird besonders schwer zu realisieren sein. Können es doch Gerichte – und auch viele westliche Politiker – in ihrer inneren Denklogik nicht wirklich verstehen, dass es in der Weltpolitik bisweilen besser ist, Verbrecher laufen zu lassen, obwohl sie Schuld an Zehntausenden Toten tragen, wenn man im Gegenzug dadurch den Tod weiterer Hunderttausender verhindern und die Gefahr reduzieren kann, dass es zu neuen Verbrechen kommt.
Und wie könnte man dafür wiederum die Ukraine entschädigen?
I) Dem österreichischen Beispiel sollte man noch das südafrikanische hinzufügen: Das wäre einerseits der komplette Verzicht auf juristische Aufarbeitung jenes blutigen Konflikts, den man beenden will, andererseits aber auch die Einsetzung einer Wahrheitskommission, in der alle vorgebrachten Kriegsverbrechen – zu denen ja an oberster Stelle Putins Angriffsbefehl zählt – offen aufgearbeitet und festgehalten werden, aber straflos bleiben.
J) Der ukrainischen Seite ist nicht nur ein möglichst rascher EU-Beitritt, sondern auch ein großangelegter Marshall-Plan zu offerieren, laut dem die EU und viele andere einen raschen Wiederaufbau finanzieren.
Würde Nehammer einen Friedensplan mit diesen oder ähnlichen Eckpunkten vortragen oder vielleicht auch voranbringen, würde aus der Peinlichkeit ein gigantischer Erfolg.
Wieweit er das zumindest unter vier Augen tut, werden wir wohl erst in den nächsten Tagen und Wochen wissen. Etwa wenn wir wissen, ob Putin jetzt wirklich zur großen Schlacht um die Ostukraine ansetzt.
Lassen wir die Hoffnung leben, so winzig klein sie auch ist.
Solange aber völlig unklar ist, wie Nehammer es in Moskau anlegen will, ziehe ich vorerst viel lieber vor Kardinal Schönborn den Hut als vor dem Bundeskanzler.
Denn Schönborn hat völlig klare und deutliche Worte zum Ukraine-Krieg gefunden. Er hat vor allem den juristischen Ausdruck "Notwehr" verwendet und der Ukraine jedes moralische Recht zugesprochen, sich gegen die Aggression zu verteidigen.
Zu diesen Worten kann man dem Kardinal nur gratulieren. Weil er nicht die bei manchen Kirchenexponenten üblichen verwaschenen Formulierungen verwendet, die bei einem Konflikt keinen Unterschied zwischen Täter und Opfer machen; weil er klar sagt, die russische Aggression könne nicht geduldet werden; weil er ausdrücklich darauf hinweist, dass der Westen der Ukraine helfen müsse (was eindeutig die von manchen naiven und linken Katholiken so verteufelten Waffen einschließt!); weil er sich nicht in dem hierzulande so populären Neutralitätsgefasel verstrickt.
Fast noch größerer Respekt gebührt Schönborn, weil er auch klar den Unterschied zwischen den 2015 aus anderen Erdteilen gekommenen und den jetzigen Flüchtlingen aus der Ukraine herausgearbeitet hat. Das wird man zwar bei Christian Konrad & Co nicht gerne hören. Dafür wird Schönborn umso mehr Zuspruch bei den Gläubigen gefunden haben.
(Nachträgliche Ergänzung: Nach allem, was man nach Nehammers Besuch bei Putin erfahren konnte, ist die 95-prozentige Wahrscheinlichkeit eines völlig sinnlosen Besuches eingetroffen. Was soll man auch in den Stunden der Eroberung der ganzen Schwarzmeerküste durch Russland, des Bekanntwerdens immer neuer Massaker und des Hinauswurfs russischer Diplomaten anderes erwarten, wenn man in der wirklichen Welt lebt? Hat Nehammer ernsthaft geglaubt, dass sein erhobener Zeigefinger oder seine bloßen Worte Putin zu irgendetwas bewegen? Aber immerhin: Wenigstens gibt es keine Fotos des Zusammentreffens, mit denen Putins Propaganda den Ausbruch aus der Isolation feiern könnte. Und ebenso positiv ist, dass Nehammer mit keinem Satz die gemeinsame EU-Linie durchbrochen hat. Aber sonst bleibt die Nehammer-Reise im Kapitel betuliche Wichtigmacherei abzulegen, die Putin aus der internationalen Isolation auszubrechen hilft. Ohne irgendeine Gegenleistung. Zwar bleibt die winzige Chance, dass es bei den vertraulichen Gesprächen doch irgendeinen uns unbekannten und relevanten Aspekt gegeben haben könnte. Doch viel wahrscheinlicher ist, dass der außenpolitisch ahnungslose Nehammer, aber auch das restliche politische Österreich sich schlicht überschätzen. Denn auch die von der blau-roten Opposition dauernd gemachte Behauptung, Österreichs internationale Rolle wäre die eines Vermittlers, ist für alle 70 Jahre der Vergangenheit durch kein einziges Beispiel belegbar. Sie ist lediglich Ausrede, um die unmoralische Haltung der Neutralität zwischen Mörder und Opfer und die völlig unzureichende Landesverteidigung zu bemänteln).