Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (13 Euro pro Monat/130 pro Jahr) ist jederzeit beendbar und endet einfach durch Nichtzahlung.
Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (13 Euro pro Monat/130 pro Jahr) ist jederzeit beendbar und endet einfach durch Nichtzahlung.
Zwei der weltweit prominentesten Unterstützer Wladimir Putins haben sich jetzt ganz demonstrativ von ihm abgewandt. Dafür gebührt ihnen absoluter Respekt, auch wenn sie ein paar Tage dafür gebraucht haben. Der Respekt wird umso größer, als sie das getan haben, noch bevor am Samstagabend das überhaupt grässlichste Kriegsverbrechen der russischen Truppen bekanntgeworden ist, das sie – bisher – in der Ukraine begangen haben. Die Russen haben in den letzten Stunden vor ihrem Rückzug aus der Umgebung Kiews in einem der Vororte 280 Männer im wehrfähigen Alter gefesselt und aus nächster Nähe erschossen.
Das erinnert vehement an das Massaker von Srebrenica, bei dem 8000 gefangene Männer und Buben der Gegenseite von den bosnischen Serben einfach umgebracht worden sind. Dies ist das weitaus schwerste Verbrechen der gesamten Jugoslawien-Kriege gewesen. Man kann auch die Vergleiche mit den Kriegsverbrechen der Nazis nicht mehr ganz vom Tisch wischen. Lediglich die Größenordnung war damals – noch? – eine andere.
Gewiss, Moskau hat noch die Chance, diese Tat in die Verantwortung eines lokalen Kommandeurs zu schieben, diesen zu verhaften und verurteilen. Geschieht das nicht, dann trifft die volle Verantwortung Wladimir Putin, der ohnedies in diesen Wochen schon so viel Schuld auf sich geladen hat. Bisher konnte aber immer noch irgendwie (wenn auch wenig glaubwürdig) behauptet werden, dass im Krieg nicht genau zwischen zivilen und militärischen Zielen, zwischen Krankenhäusern und Kasernen unterschieden werden könne. Das geht nach diesem furchtbaren Verbrechen nicht mehr.
Man muss es wohl inzwischen als Fehler einsehen, wenn man – so wie dieses Tagebuch – lange für ein Lösung plädiert hat, die Putin noch irgendwie einen gesichtswahrenden Rückzug ermöglicht hätte. Irgendwann sind aber Grenzen überschritten, die die Menschheit nicht mehr tolerieren kann.
Das muss man wohl auch dann tun, wenn man ziemlich sicher ist, dass der russische Rückzug aus der gesamten Region Kiew nicht als Vertreibung durch die ukrainische Armee angesehen werden kann. Fast alles deutet vielmehr darauf hin, dass die Russen den Norden der Ukraine freiwillig und – zumindest vorerst? – primär deshalb aufgeben, um mehr Kräfte für ihre Angriffe im Osten und Süden zu haben. Aber jedenfalls zeigt das, dass Putins Armee nicht so stark ist, dass sie seine ursprüngliche Kriegsplanung eines Blitzsieges zur Gänze umsetzen kann.
Damit konzentriert Moskau seine Kriegsziele ganz auf die schwerindustriellen Zentren der Ukraine und gleichzeitig auf die Kontrolle der gesamten nördlichen Schwarzmeer-Küste. Ob sich dahinter auch schon der Plan eine Teilung der Ukraine abzeichnet, bei der Moskau im Gegenzug auf den eher landwirtschaftlich und kulturell wichtigen Teil der Ukraine verzichten würde, muss vorerst offen bleiben. Ganz abgesehen davon, dass die große Mehrheit der Ukrainer keinesfalls zur Hinnahme einer solchen Teileroberung bereit ist und sicher weiterkämpfen wird. Nach dem Bekanntwerden solcher Massaker erst recht.
Aber dennoch zeigt die historische Erfahrung, dass Waffenstillstandslinien immer wieder langjährige Grenzlinien geworden sind. Auch wenn es nie einen Friedensvertrag oder Ähnliches gegeben hat, geschweige denn die formelle Anerkennung von Eroberungen. Siehe etwa China-Taiwan, siehe Nord- und Südzypern, siehe die letzten sieben Jahre in der Ostukraine.
Zurück zu Anna Netrebko und Gérard Depardieu. Beide sind begnadete Künstler von absolutem Weltrang, ob nun auf der Opernbühne oder vor der Filmkamera. Beide haben sich aber einst auch durchaus freiwillig in die Propaganda und Selbstdarstellung des Putin-Regimes einspannen lassen. Netrebko als geborene Russin und Depardieu als einer, der freiwillig Russe geworden war, um gegen die zu hohen Steuern in Frankreich zu protestieren und wohl auch, um irgendwie auf Distanz zu seinen oft extremen Jugendjahren zu kommen.
Umso gewichtiger ist, dass gerade auch der freiwillige Russe Depardieu jetzt offen Putins "verrückte, inakzeptable Entgleisungen" attackiert und drei Konzerte veranstaltet, deren Einnahmen er für die ukrainischen Kriegsopfer spendet. Bei ihm hat nicht einmal die Putin-Propaganda bisher Argumente gefunden, um ihn im Gegenzug zu attackieren.
Das tut sie umso mehr bei Netrebko. Diese wurde vom Präsidenten des russischen Scheinparlaments sogar als "Verräterin" attackiert, die aus "Drang nach Bereicherung" handeln würde.
Nun mag sogar richtig sein, dass Netrebko ihre Auftritte auf westlichen Bühnen wichtiger sind als die auf russischen. Aber erstens ist das noch kein Widerspruch dazu, dass sie es auch ehrlich meinen könnte, wenn sie ihre bisherige Haltung als Fehler bezeichnet. Zweitens zeigt das jedenfalls, dass der Westen, die freie Welt weit attraktiver ist als das immer dunkler werdende Russland. Drittens kann man Netrebkos Kurswandel auch als Indiz werten, dass von Tag zu Tag der allgemeine Glaube an einen großen Putin-Sieg kleiner wird. Und viertens ist stark anzunehmen, dass Netrebko keine sonderlich politisch denkende Frau ist.
Genau deswegen hat es ja einst auch zweifellos ihrer Eitelkeit geschmeichelt, als sich die russische Staatsspitze an sie herangedrängt hatte. Aber genau diese mit Putin aus eitler Naivität ausgetauschten Freundlichkeiten haben sie ja auch in große Probleme im Westen gebracht. Ihr hat dort wohlgemerkt nicht geschadet, dass sie Russin ist. Ihr hat vielmehr nur geschadet, dass sie sich einst von Putins Propagandamaschine einspannen hat lassen. Daher war es völlig richtig, von ihr nun eine Distanzierung zu verlangen.
Eine solche ist auch bei allen Westeuropäern am Platz, die einst zu eng mit Putin geworden sind. Das ist ihnen zwar ebensowenig wie Netrebko nicht vorzuwerfen – hat sich doch der Großteil der Welt im jetzigen Kriegsherrn getäuscht, hat seinen späteren Persönlichkeitswandel nicht ahnen können. Das erlegt ihnen aber die Pflicht auf, jetzt umso deutlicher die Handlungen Putins zu kritisieren, wollen sie nicht als seine Komplizen gelten. Wie auch dem deutschen Exkanzler Gerhard Schröder. Wie der FPÖ. Wie Ungarns Viktor Orbán.
Wäre Netrebko hingegen immer politisch neutral oder schweigsam geblieben, dann wäre sie nie unter Druck gekommen. Ich selbst habe allein in den Wochen seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine zwei russische Künstler in Wien erlebt, die weder vom Management noch vom Publikum Probleme bekommen haben – sondern viel Beifall, einen jungen Bariton in der Staatsoper und einen alten Dirigenten im Musikverein.
Offen mag die Frage bleiben, ob nicht auch die österreichische Regierung ein wenig über den österreichischen Pass von Frau Netrebko nachdenken hätte sollen. Natürlich müssen auch Neo-Österreicher volle Meinungsfreiheit haben – die es ja dann erst gibt, wenn auch ganz unsinnige und widerliche Positionen folgenlos bezogen werden können. Aber österreichische Staatsbürger, die den Pass ja geschenkt bekommen haben, als Propagandisten eines kriegsverbrecherischen Neohitlers auftreten zu sehen, das war schon ein starkes Stück.
Zumindest ein Halbsatz des Befremdens durch ein Regierungsmitglied wäre daher vielleicht am Platz gewesen (oder sollte dieser Halbsatz ohnedies in einem privaten Kontakt gefallen sein?). Aber jetzt jedenfalls ist ohnedies wieder alles gut. Wir können uns weiterhin an einer noch immer tollen Stimme erfreuen. Und Netrebko sich an unserem Jubel.
PS: Politische Neutralität und parteipolitische Abstinenz ist etwas, was auch sonst jedem Künstler, jedem Sportler dringend zu empfehlen ist. Nicht nur um sich spätere peinliche Entschuldigungsnotwendigkeiten zu ersparen. Auch wenn sicher kein österreichischer Politiker zum kriegsführenden Aggressor werden wird, so muss doch klar sein, dass absolut jeder Politiker, jede Partei jeweils eine Mehrheit der anderen Parteien gegen sich hat. Daher sollte schon im Eigeninteresse jeder Sportler, jeder Künstler parteipolitisch den Mund halten, weil er alle Andersdenkenden sonst tief verärgert. Was in der Regel schlecht für den eigenen Marktwert ist. Auch wenn es Typen à la Krassnitzer mit seinen unzähligen ORF-Auftritten offenbar nicht geschadet hat, dass er bei der SPÖ angedockt hat.