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Wenn Österreichs Neutralität Beispiel sein soll, dann aber wirklich

Keine Frage: Russland hat sich bewegt. Die Versklavungs-Forderungen nach "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" der Ukraine sind vom Tisch. Stattdessen wird jetzt vage von einer Neutralität nach dem Beispiel Österreichs oder Schwedens geredet. Diese Mäßigung der russischen Forderungen ist zweifellos ein Erfolg des heldenhaften Widerstandes wirklich des gesamten Volkes, der Russlands Vorstoß deutlich verlangsamt hat. Aber ist das auch eine Friedenslösung – einmal abgesehen davon, dass es nicht nur für die Ukraine extrem schwierig ist, einem Kriegsverbrecher, Lügner und Aggressor auch nur irgendetwas zu glauben. Dennoch ist die Österreich-Formel etwas, wo die Ukraine erstmals die Andeutung eines Vorschlags vorgelegt bekommen hat, der ernst zu nehmen sein könnte, bei dem sie versuchen sollte, Putin beim Wort zu nehmen. Auch wenn sie gewiss nie mehr das Bewusstsein verlieren wird, es mit dem zynischsten Politiker der Gegenwart zu tun zu haben.

Deshalb will die Ukraine statt einer Neutralitätslösung lieber "absolute" Sicherheitsgarantien, wo sich die Unterzeichner verpflichten, im Fall einer Aggression auf der Seite der Ukraine einzugreifen. Kiew meint dabei natürlich, dass nicht nur Russland, sondern eben auch westliche Mächte solche Garantien ablegen sollten.

Diese Haltung der Ukraine deckt sich nicht mit den österreichischen Erfahrungen und der Wiener Politik vor 1955. Diese war damals sogar strikt gegen irgendwelche ausländische Garantien. Denn diese würden ja gleichzeitig den Garantiemächten, zu denen ja auch die Sowjetunion gehören würde, das Recht zum neuerlichen Einmarsch geben. Die österreichische Regierung war daher wohl zu Recht besorgt, dass ein Diktator in Moskau viel schneller einen Vorwand für einen solchen Einmarsch behaupten könnte, während der Westen mit seinen demokratischen Entscheidungssträngen diesbezüglich immer viel schwerfälliger ist.

Daher ist es eher fraglich, ob Kiew mit seinem Wunsch nach zum Einmarsch berechtigenden Garantien durch andere Mächte gut beraten ist. Es täte vielmehr gut daran, sich den von Moskau vorgeschlagenen Modellfall Österreich durchaus näher anzuschauen.

Dies kann freilich nur in einer ganz klaren Perspektive geschehen: Die Österreich-Formel kann für die Ukraine und all ihre Freunde nur dann akzeptabel sein, wenn eine Ukraine-Lösung wirklich in allen Aspekten dem Beispiel der Alpenrepublik folgt. Und nicht nur in jenen Aspekten, die Putin taugen. Und schon gar nicht, wenn die diesbezüglichen russischen Andeutungen sich bloß als ein neuer Versuch einer Versklavung der Ukraine mit einer neuen, nett klingenden und nur zur Verwirrung ausgestreuten Überschrift erweisen sollte.

In den entscheidenden Wochen des Ringens um den Abzug der russischen Truppen 1954/55 hat gerade auch die (heute sicherheitspolitisch so weltfremde) SPÖ sehr konkret darauf geachtet, dass Österreich in seinem Ringen um die Wiedererlangung der Freiheit nicht in eine neue Abhängigkeit gerät.

Das Beispiel Österreich bedeutet nämlich im Konkreten nicht nur den (von Moskau angestrebten) Verzicht auf die Mitgliedschaft in Militärbündnissen und die Zusage, in künftigen Kriegen militärisch neutral zu bleiben. Ein solcher Verzicht müsste für die Ukraine – trotz der derzeit noch von einem Nato-Beitritt träumenden Verfassung – eigentlich akzeptabel sein, allerdings nur dann, wenn auch die anderen (für den russischen Imperialismus gar nicht so angenehmen) Aspekte der österreichischen Neutralität voll umgesetzt werden sollten:

1. Österreich war seit 1955 in jeder politischen und wirtschaftlichen Hinsicht ein freies Land, in dem alle Regierungen und fast alle Bürger (bis auf ein paar Extremisten am linken und rechten Rand) seither sehr prowestlich eingestellt sind. Das hat sich auch in zahllosen Verträgen, Aktionen und Kontakten niedergeschlagen, wie etwa in der Teilnahme an der "Nato-Partnerschaft für den Frieden".

(mit einer so klaren prowestlichen Identität wäre die Ukraine für Putin angesichts der vielen sprachlichen und familiären Verbindungen ein dauerhafter Stachel im Fleisch, weil die Russen dann fast tagtäglich ein in ihrem eigenen Sprach- und Kulturkreis funktionierendes Beispiel einer freien Demokratie vor Augen geführt bekämen. Das ist für seine Diktatur viel bedrohlicher als die behaupteten Angriffspläne der Ukraine).

2. Österreich hat schon im ersten Jahr nach dem Neutralitätsgesetz ganz klar Stellung gegen den russischen Einmarsch in Ungarn bezogen und Hunderttausenden ungarischen Flüchtlingen geholfen.

(Wenn die Ukraine diesen Weg geht, wäre das ziemlich genau das Gegenteil dessen, wozu die Russen etwa ihren Satellitenstaat Belarus zwingen).

3. Österreich ist voll berechtigtes Mitglied der EU, auch wenn die in den EU-Verträgen stehende und in österreichischen Tagträumen gerne angesprochene EU-interne Beistandspflicht militärisch nicht ernstzunehmen ist; baut doch der ganz große Teil der EU-Länder seine Sicherheit ausschließlich auf die Nato auf, die aber zu 80 Prozent von Nicht-EU-Ländern wie den USA, Großbritannien, Kanada und Norwegen getragen wird.

(ein EU-Beitritt als logischer Teil der Österreich-Formel wäre für die Ukraine nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch symbolisch essentiell, ist doch der russische Einmarsch in der Krim gerade deshalb erfolgt, weil die Ukraine damals einen Assoziierungsvertrag mit der EU abschließen wollte, also etwas weit weniger Wertvolles als eine Mitgliedschaft).

4.Die österreichische Neutralität steht politisch und kausal – freilich nicht formalrechtlich! – in engem Zusammenhang mit dem Staatsvertrag, wo auch drei westliche Staaten auf gleicher Augenhöhe unterzeichnet haben.

(das hieße in Hinblick auf die Ukraine heute, dass es einen Vertrag gibt, wo die EU und die USA, vielleicht auch Großbritannien gleichberechtigter Partner wie Russland sind, wo aber keiner ein Interventionsrecht hat).

5. Österreich (wie auch die Westmächte) haben 1955 Staatsvertrag und Neutralität nur unter der Bedingung akzeptiert, dass die russischen Truppen komplett abziehen; die Befreiung Ostösterreichs war für die Regierungen Figl und Raab überhaupt zehn Jahre lang das wichtigste außenpolitische Ziel.

(das heißt aber übersetzt auf die Ukraine zwangsläufig, dass diese ihr ganzes Staatsgebiet zurückbekommt und dass die Russen aus den seit sieben Jahren besetzten Gebieten abziehen: Hier wäre als einzige Abweichung vom österreichischen Modell eine – saubere!! – Volksabstimmung unter allen – auch vertriebenen!! – Einwohnern der besetzten Gebiete denkbar, wo sich diese mehrheitlich zwischen Russland und der Ukraine entscheiden könnten und müssten).

7. Nicht im Neutralitätsgesetz, aber im Staatsvertrag stand auch der Verzicht auf einige bestimmte Angriffswaffen.

(das müsste für die Ukraine und den Westen akzeptabel sein – freilich nur, wenn auch auf russischer Seite ähnliche Schritte erfolgen, etwa die Rücknahme aller Atomraketen aus der Enklave Kaliningrad/Königsberg, von wo in weniger als fünf Minuten Berlin ausgelöscht werde könnte).

Man darf sehr gespannt – und muss sehr skeptisch sein, ob Putin wirklich begreift, was das österreichische Beispiel alles bedeutet, das er jetzt in den Raum gestellt hat. Sollte er aber dieses Beispiel tatsächlich in all seinen Dimensionen verstehen, muss man vorerst zumindest davon ausgehen, dass das Gerede vom österreichischen Beispiel gar nicht wirklich ernst gemeint ist, sondern nur eine weitere Lüge und der Versuch sind, Verwirrung zu stiften – oder Zeit zu gewinnen, um neuen Nachschub in die Ukraine zu bringen.

Aber neuerlich gilt: Diese, wenn auch kleine Chance sollte die Ukraine unbedingt wahrnehmen. Und eigentlich sollten Österreichs Bundeskanzler und/oder Außenminister unbedingt und umgehend – anderen mutigen Regierungschefs folgend – nach Kiew reisen und all diese Aspekte erläutern. Eben samt allen Chancen und samt allen zu vermeidenden Fallen. Aber es fehlt ihnen wohl nicht nur der Mut, sondern auch das detaillierte zeitgeschichtliche und völkerrechtliche Wissen, um das zu schaffen.

Noch überraschender ist, dass Moskau im gleichen Atemzug – ähnlich vage – auch Schweden als Vorbild für eine ukrainische Neutralität genannt hat.

  • Denn Schweden ist rechtlich überhaupt nicht gebunden, sondern es verfolgt die Neutralität nur als politische Linie.
  • Denn in Wahrheit ist Schwedens militärische Integration in die Nato schon sehr weit vorangeschritten.
  • Denn Schweden diskutiert derzeit angesichts des Ukraine-Überfalls sehr intensiv, der Nato komplett beizutreten, um die eigene Sicherheit zu erhöhen.
  • Denn der russische Überfall auf die Ukraine war dafür nur der letzte Anstoß, hat doch Russland auch schon früher in der Ostsee durch Flugzeuge und U-Boote immer wieder üble Provokationen gegen die schwedische Souveränität gesetzt.

Kein Zweifel: Völkerrechtlich könnte auch Österreich jederzeit die Neutralität aufgeben und der Nato beitreten. Freilich kann es das rechtlich nur,

  1. Wenn die Nato ein neues Mitglied überhaupt aufzunehmen bereit ist, was alles andere als selbstverständlich ist, wie ja gerade die Ukraine und einige andere Länder in den letzten Jahren erfahren mussten. Und was die Nato-Mitglieder noch viel weniger gern tun, wenn ein Land fast gar nichts für die eigene (oder dann gemeinsame) Verteidigung tut.
  2. Wenn Österreich innerstaatlich ein Verfassungsgesetz über ein Ende der Neutralität beschließt, das dann wie 1955 allen anderen Nationen notifiziert, bekanntgemacht wird.

Zwar haben ÖVP, FPÖ und Neos zumindest zeitweise sehr positiv über einen solchen Schritt diskutiert. Aber angesichts des Widerstands von SPÖ und Grünen (und heute auch der Kickl-FPÖ) und des Fehlens jedes außenpolitischen Sachverstandes in der Staatsspitze gibt es keine Chance auf die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit.

Für diesen Weg gibt es freilich auch in der Bevölkerung keine Mehrheit. Verwechselt man dort doch die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes sprachlich und ideell mit der Neutralität (als ob nichtneutrale Länder nicht frei wären); und glaubt doch eine Mehrheit allen Ernstes, dass die Neutralität Österreich Freiheit besser sichern würde als ein gemeinsames Bündnis (dabei ist das mit der Neutralität verbundene Alleinsein ganz im Gegenteil in der Stunde der Not eine Riesengefahr, wie etwa die Ukraine jetzt erfahren muss). An der großen Verbreitung dieser unsinnigen Theorien sind nicht nur die auflagenstarken Medien, sondern auch die jahrzehntelange Staatspropaganda schuld.

PS: Der einzige Punkt, wo Österreich kein Beispiel sein sollte, ist zweifellos der katastrophale Zustand der Landesverteidigung. Aber dieser ist keine Folge der Neutralität, sondern gerade ein Verstoß gegen sie.

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