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Was im Kopfe Putins vor sich geht

Ein intensiverer Blick in die Geschichtsbücher macht einen bisher kaum beachteten Aspekt dessen deutlich, was – zusammen mit einigen anderen Motiven – den russischen Herrscher Wladimir Putin zu seinem Eroberungskrieg gegen die Ukraine getrieben hat. Der Mann kämpft um seinen eigenen Platz in der Geschichte. Dass er dies mit einem brutalen Angriffskrieg tut, hängt nicht zuletzt auch mit der problematischen Sicht vieler Kulturvölker auf die Geschichte und die eigene Identität zusammen.

Denn praktisch all jene Herrscher, die bis heute in den Geschichtsbüchern – zumindest denen ihrer Heimatnation, aber meist auch darüber hinaus – als "der Große" gefeiert werden, haben Angriffskriege geführt, haben das Territorium ihrer Reiche signifikant (und ihren Tod überdauernd) ausgedehnt. Gewiss: Diese "Großen" haben zum Teil auch wichtige innere Reformen durchgeführt – diese waren für sie aber vielfach nur notwendige Voraussetzung, um erfolgreich Krieg führen zu können.

Faktum bleibt: Es ist ein schlimmes Verständnis von den Aufgaben eines Herrschers, wenn bis heute ausschließlich jene als "Große" gefeiert werden, die mit Kriegszügen viele fremde Länder erobert haben. Hingegen ist anderen Fürsten dieses zierende Beiwort versagt geblieben, die friedlich regiert und durch kluge Reformen Wohlstand und Bildungsniveau ihrer Untertanen erhöht haben. So ist kein Habsburger dauerhaft mit diesem Beiwort geziert worden ­– trotz der Länge ihrer Herrschaft. Aber sie haben (wenn man von Lateinamerika absieht) ihr Reich überwiegend durch Heiraten erworben und es dann in oft bitteren Kriegen verteidigen müssen.

"Groß" ist in der Geschichtsschreibung aber wohlgemerkt nur der dauerhaft erfolgreiche Eroberer. Also nicht ein Hitler oder Napoleon, die zwar beide zeitweise durch verheerende Kriegszüge große Teile Europas unter Kontrolle gebracht haben, diese aber dann wieder jeweils in einer Mega-Katastrophe verloren haben.

Allerdings wird Napoleon zumindest in Frankreich auch heute noch verehrt, etwa durch sein Grab im Invalidendom. Diese Verehrung gilt freilich nicht Napoleons kurzfristigen Eroberungen, sondern der Tatsache, dass er dem schlimmen Chaos-Jahrzehnt nach der französischen Revolution ein Ende bereitet hatte. Und auch den vielen dauerhaften Reformen, die aus Frankreich eine nationale Einheit gemacht haben. Diese Reformen reichen von der heute noch relevanten Verwaltungseinteilung Frankreichs bis zu den Gesetzbüchern, die ebenfalls bis heute durch ihre Klarheit, Sprache und naturrechtlich-aufgeklärte Sichtweise Bedeutung haben (in Österreich steht allerdings das gleichzeitig entstandene ABGB dem Code Civile Napoleons an Bedeutung und Qualität nicht nach).

Was sind nun die erfolgreichen Eroberer, die zu den "Großen" gezählt werden?

  1. Dazu gehört der griechisch-mazedonische Alexander der Große, der im vierten Jahrhundert vor Christus einen völlig unbedeutenden Balkan-Kleinstaat durch seine Kriegszüge bis nach Indien ausgedehnt hat. Er blieb bis zu seinem Tod erfolgreich, hatte allerdings keinen geeigneten Nachfolger, sodass das Reich unter seinen Generälen, den "Diadochen", bald zerfiel. Aber jedenfalls streiten sich bis heute zwei Völker voll Eifersucht um die "Rechte" auf Alexander. Dieser war kulturell sicher ein Grieche; den Namen seines Reichs, also "Mazedonien", trägt aber ein anderes Land. Besonders auffallend ist, dass die heutigen Griechen an ihm viel mehr hängen als am späteren zweiten großen Reich der Geschichte, das griechisch geprägt gewesen ist. Und das ganz im Unterschied zu Alexander sogar mehr als tausend Jahre existiert hat: Das war das oströmische Reich, das von Byzanz/Konstantinopel/Istanbul aus regiert worden ist, und das für die Ausbreitung des orthodoxen Christentums ganz entscheidend gewesen ist. Aber dieses Ostrom war eben nur ein Nachfolge-Teil des von den Römern geschaffenen Reiches und es kollabierte sukzessive unter dem Ansturm der türkischen Osmanen, was sich beides weniger für Heldengeschichten eignet. Also bleibt Alexander mit seinen Eroberungs-Feldzügen der einzige "Große".
  2. Das ist Karl der Große, der ein neues gewaltiges Reich erobert und eine danach tausend Jahre existierende Kaiserwürde geschaffen hat. Mit zum Teil unglaublich verlustreichen Feldzügen hat der Frankenkönig ein Land nach dem anderen erobert, etwa das der Sachsen, das der Baiern, das der Langobarden (in Italien). Gewiss hat er auch viele Reformen umgesetzt. Aber zum "Großen" ist er eindeutig durch seine Eroberungen geworden, welche die Entstehung Deutschlands überhaupt erst möglich gemacht haben (während der französische und burgundische Teil seines Reiches nach ihm bald wieder getrennte Wege gingen).
  3. Das ist der preußische König Friedrich II., der oft als Friedrich der Große bezeichnet wird. Er hat zwar gewiss viele positive Reformen und Modernisierungen umgesetzt hat, er hat aber vor allem einen völlig unmotivierten Eroberungskrieg gegen Österreich geführt. Nur weil er geglaubt hat, in Wien regiere eine schwache Frau, die sich eh nicht wehren kann. Er hat dadurch Schlesien auf die nächsten 200 Jahre unter die Herrschaft Berlins gezwungen (bis dann Stalin dieses Schlesien – verbunden mit einer gewaltigen Bevölkerungs-Vertreibung – an Polen gegeben hat, dem er selbst wieder Land abgenommen hat). Jedenfalls wird Friedrich bis heute von allen Deutschen völlig unkritisch als "der Große" benannt. Und sie verstehen gar nicht, wenn ein Österreicher bei dieser Bezeichnung schmerzhaft zusammenzuckt. Dieser Ausdruck verbreitet sich freilich bisweilen auch schon in Österreich. So war er unlängst im (Un-?)Kultursender Ö1 ständig zu hören, als Kompositionen Friedrichs vorgeführt wurden.
  4. Und das ist der russische Zar Peter der Große. Auch er war – weit jenseits aller "Zar und Zimmermann"-Verklärung – ein beinharter Kriegsherr und Eroberer. Gewiss hat auch Peter viele wichtige Reformen (aus dem Westen) nach Russland gebracht. Aber entscheidend wurde er vor allem durch seine Brutalität nach innen und außen, die sich unter anderem in der eigenhändigen Hinrichtung von Gegnern zeigte und dadurch, dass er für Russland gleich zu zwei Meeren Zugang zu erobern versuchte. An den Ufern der bis dahin rein schwedischen Ostsee gründete er mit "Sankt Petersburg" auf sumpfigem Gelände die heute viertgrößte Stadt Europas. Es ist alles andere als Zufall, dass sofort nach Beseitigung der Kommunisten die Stadt Leningrad wieder diesen für Russlands Identität so entscheidenden Namen Peters zurückerhielt. Und es ist auch kein Zufall, dass Putin gerade in dieser Stadt geboren ist.

Besonders klar wird die prägende Rolle der Geschichte für das Denken und Handeln von Wladimir Putin aber, wenn man sich bewusst macht, dass Zar Peter für Russland auch den Zugang zum Schwarzen Meer zu erobern versucht hat! Schon damals ging es speziell um die Krim und die Stadt Asow. Aber Peter scheiterte am osmanischen Widerstand und musste sich nach einer Niederlage wieder vom Schwarzen Meer zurückziehen, wo die Russen dann erst unter seinen Nachfolgern einen Zugang eroberten.

Ruft man sich diese Schlaglichter ins Bewusstsein, dann wird auch die Einschätzung dessen ziemlich eindeutig, was sich an Gedanken im Kopf Putins entwickelt hat. Der Mann hat in den Geschichtsbüchern, die er in den letzten Jahren (besonders in seiner strikt eingehaltenen Corona-Isolation) nach mehreren Angaben intensiv studiert hat, gelernt:

  • Jeder Herrscher, der auch lange nachher als "der Große" gegolten hat, war ein erbarmungsloser und erfolgreicher Eroberer.
  • Also musst Du das auch sein, um ein "Großer" zu werden.
  • Die Geschichtsschreibung belohnt nicht die friedlichen Regierungen, die statt auf Größe auf das Wohl ihrer Untertanen geschaut haben (wer das bezweifelt, möge aus dem Stegreif die Namen irgendwelcher Politiker etwa der Schweiz aufzählen: Ihm wird nichts einfallen, obwohl diese eines der für die Bürger erfolgreichsten und besten Länder der Welt ist …).
  • Selbst der von Putin verehrte und sonst so erfolgreiche Peter der Große ist dabei gescheitert, den Zugang zu Schwarzen Meer zu erobern. Wie viel größer muss da einer sein, der jetzt für Russland ein ganz, ganz langes Stück der Schwarzmeerküste erobert! So kann auch der – buchstäblich – kleine Putin mit seinen 1,66 Metern größer werden als der großgewachsene Peter mit seinen 2,03 Metern.

Nicht gelernt hat Putin hingegen in den russischen Geschichtsbüchern irgendetwas über Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat. Die Aufklärung hat ganz offensichtlich in Russland jetzt schon 300 Jahre Verspätung – zumindest in Hinblick auf die herrschende Clique von KGB-Agenten.

Diese historischen Schlaglichter machen auch die Chance sehr klein, dass ein ehrenvolles Rückzugsangebot der Außenwelt an Putin Europa noch einen ganz großen Krieg ersparen könnte. Zwar bekenne ich mich weiter zu meinem gestrigen Plädoyer, diese Chance offen zu halten. Aber groß ist sie wirklich nicht. Denn so motivierte Typen wie Putin können in aller Regel Kompromisse nicht akzeptieren.

PS: Abbitte muss ich Otto Habsburg tun, der schon rund um die Jahrtausendwende ganz heftig vor Putin gewarnt und ihn schon damals mit Hitler verglichen hat, als alle Welt noch russlandbegeistert war und glaubte, Putin wäre ein würdiger Nachfolger von Gorbatschow und Jelzin, der beiden wirklich großen Männer in der Geschichte Russlands (allerdings auch der einzigen). Ich nahm damals den Kaisersohn nicht wirklich ernst; ich dachte, er teile die Welt allzu stereotyp nur danach in Gut und Böse ein, wo die einzelnen Nationen im ersten Weltkrieg gestanden waren. Dabei hatte er einfach recht.

PPS: Da die russischen Wehrpflichtigen ganz offensichtlich gar nicht begeistert sind, in einen kriminellen Eroberungskrieg zu ziehen, heuert Russland nun zu Zehntausenden ausländische Söldner an. Dabei sucht es für ihre besondere Grausamkeit bekannte Kämpfer – und findet diese ausschließlich in islamischen Kulturen, in Tschetschenien und Syrien. Das ist ein auffälliges Zeichen für den Zustand der russischen Armee. Das muss aber eigentlich auch ziemlich ernüchternd sein für all jene aus dem ganz rechten Spektrum, die noch immer in diversen Chat-Foren auch die schwachsinnigste russische Propaganda verbreiten. So findet man dort noch immer die infame Behauptung, dass die Ukraine ein Nazi-Problem hätte, dass jeder, der seine Heimat verteidigt, ein böser Nationalist sei, dass ja in Wahrheit die Amerikaner den Krieg begonnen hätten. Aber wahrscheinlich sind die – nur lautstarken, aber zahlenmäßig unbedeutenden – Russland-Freunde in ihrem Putin-Rausch nicht mehr zu Ernüchterung imstande. Und begreifen nicht einmal, dass das heutige Russland alles andere als ein Bollwerk gegen die islamische Migration nach Europa ist. Dabei hätte ihnen das ja eigentlich spätestens klar werden müssen, als Putins Marionette in Belarus in großen Mengen moslemische "Flüchtlinge" nach Europa zu schleusen versucht hat.

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