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Putins und unsere Vorstellung von der künftigen Welt

Es sind zwei ganz unterschiedliche Konzepte von der Welt, die da aneinanderkrachen. Zwar scheint fast die komplette Menschheit – einschließlich vieler Russen – geschlossen gegen die Vorstellungen des Wladimir Putin zu stehen. Das täuscht aber. Denn das von ihm verkörperte Konzept ist bisweilen auch von etlichen Politikern im Westen für richtig gehalten worden. Henry Kissinger hat sogar dicke Bücher lobend dazu geschrieben.

Dieses Konzept besteht im Grund in der Aufteilung der Welt auf einige wenige Einflusssphären, auf Machtpole, denen alles andere zu- und untergeordnet ist. Solange sich diese Sphären im Gleichgewicht zueinander befinden, würden Frieden und Stabilität herrschen. Tatsächlich hat dieses Konzept in der Geschichte des öfteren eine Zeitlang funktioniert.

  • So hat der Wiener Kongress 1815 nach den verheerenden Napoleonischen Kriegen mit der genau abgezirkelten Machtaufteilung auf einige Großmächte etliche Jahrzehnte lang – man könnte auch von einem ganzen Jahrhundert bis 1914 sprechen – für Frieden gesorgt. Zwar hat es auch in dieser Zeit genug Kriege gegeben, von der Krim bis Königgrätz, von den 1848er Aufständen bis Solferino, um nur die für Österreich relevantesten zu nennen. Aber so blutig diese Feldzüge auch waren, so gibt es dennoch keinen Vergleich zu den verheerenden, viele Jahre dauernden und fast ganz Europa erschütternden paneuropäischen Kriegen davor und danach.
  • So hat der Kalte Krieg zwischen Ost und West in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg trotz der bedrohlichen sowjetischen Hochrüstung durch das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens den Ausbruch einer großen heißen Auseinandersetzung verhindert.
  • So hat zweifellos auch die Aufteilung der Dritten Welt in Kolonialimperien zeitweise eine konkfliktvermindernde Wirkung gehabt.

Russland ist zwar kein ideologisches Zentrum mehr, das eine Doktrin durch Machtausdehnung verbreiten will. Putins Russland hält aber auch ohne Ideologie (außer der eines kruden russisch geführten Panslawismus) am Konzept der Machtprojektion fest. Aber das hat die Konfrontation nicht weniger heftig gemacht.

Allein: Das, was als zweipoliges oder fünfpoliges Mächtegleichgewicht in geostrategischen Sandkastenspielen perfekt aussehen mag, und was historisch auch den Ausbruch mancher Kriege verhindert hat, hat einen nicht ganz unwesentlichen Faktor übersehen: Das sind die auf dieser Erde lebenden Menschen.

Diese sind nicht bereit, auf Dauer die Aufteilung der Welt in erstrangige und zweitklassige Völker und Nationen hinzunehmen. Irgendwann wird ihr Aufbegehren übermächtig, wobei sie auf ihre Fahnen die Worte Nation, Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung schreiben.

Alle drei erwähnten Beispiele eines mehrpoligen Kräftegleichgewichts unter einigen dominierenden Mächten sind letztlich von diesem Aufbegehren weggefegt worden. Das – am treffendsten als nationalliberal zu bezeichnende – Aufbegehren von unten war viel zerstörerischer als der direkte Zusammenprall der Machtzentren.

Die Welt der Machtsphären hatte auch Ähnlichkeiten mit der Geschichte des Römischen Reiches oder Chinas. Jahrhunderte, Jahrtausende haben mächtige Reiche der Mitte nur Vasallenstaaten rings um sich geduldet, die halb oder ganz abhängig sind. Ähnlichkeiten damit hat aber auch die US-amerikanische Monroe-Doktrin gehabt, die immer wieder zu Aktionen Washingtons gegen Einflussnahmen fremder Mächte auf dem amerikanischen Doppelkontinent geführt hatte.

Solche globalen oder kontinentalen Systeme können zu langen Phasen der Stabilität führen, zu einer Pax Romana, wo die jeweilige Zentralmacht als Polizei regionale Konflikte verhindert oder unterdrückt.

Aber solche Systeme können nicht auf Dauer wirklich stabil bleiben. Denn die vom Machtzentrum abhängigen, scheinbar zweitrangigen Völker begehren irgendwann auf und können dann oft gewaltige Explosionen auslösen. Diese wälzen bisweilen ganze Kontinente um – gleichgültig, ob sie dabei zentrifugale oder zentripetale Kräfte entwickeln.

Denn aus dem russischen, aber auch aus dem österreichisch-ungarischen und dem Machtbereich der Kolonialmächte wollten Völker zentrifugal hinaus in die nationale Freiheit. Das haben Österreicher und Briten relativ bald hingenommen – die Russen weniger. Beim alten Rom und dem historischen China können wir das Gegenteil beobachten: Da haben sich Völker von der Peripherie her die Macht im Zentrum erkämpft.

Putins Moskau will jedenfalls wieder zurück zu dieser alten Welt einer über das eigene Territorium hinausgehenden Machtsphäre einer Großmacht. Es hat offensichtlich aus der verheerenden Implosion seines früheren, des sowjetischen Imperiums in den Neunziger Jahren nichts gelernt.

Das Gegenkonzept zu Putins Welt

Das große alternative Weltkonzept zur multipolaren Welt der Machtsphären großer Imperien ist von den Begriffen Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung und souveräne, auf dem Völkerrecht beruhende Gleichheit aller Nationen geprägt.

Besonders im 19. Jahrhundert ist das nationale Freiheitsstreben stark geworden. Dieses ist in seinen Wurzeln freilich im Grund uralt. Man denke etwa an die Entstehung der Schweiz im 13. und 14. Jahrhundert. Man denke an die Freiheitskämpfe des jüdischen Volkes, die quer durchs Alte Testament dokumentiert sind.

Dieses Gegenkonzept ist spätestens seit der UNO-Charta eindeutig die völkerrechtlich geltende Weltordnung. Dazu  zählt auch das Recht der Staaten, sich zu Gemeinschaften welcher Art immer zusammenzuschließen, solange diese niemand anderen bedrohen. Das haben viele Staaten aus eindeutig freien Stücken und mit demokratischer Zustimmung einer großen Mehrheit ihrer Bürger etwa in der EU oder in der Nato getan. Es haben ja entgegen einer russischen Verschwörungstheorie nicht EU oder Nato ihre Ausdehnung gesucht, sondern viele Nationen haben den Weg in Nato und EU gesucht, die anfangs darüber gar nicht begeistert waren.

Dadurch aber kommt es zum großen Konflikt mit der alten Weltordnung: Denn Russland (wie auch unter etwas anderen Rahmenbedingungen China) will die souveräne Gleichheit der Staaten nicht akzeptieren. Es will weiter in einer über die Grenzen hinausgehenden Machtsphäre umgeben von möglichst vielen halb souveränen Pufferstaaten leben (die ja dank Gorbatschow und Jelzin aus früherer Totalabhängigkeit in die Freiheit entschlüpfen konnten).

Jedoch wollen die Völker rings um Russland, so wie die Ukrainer, ein Zurückstoßen in die Zweitrangigkeit gegenüber einem russischen Herrenvolk nicht mehr hinnehmen. Ähnlich haben in letzter Zeit auch die Bürger von Belarus und Kasachstan gegen die Herrschaft russlandhöriger Satrapen aufbegehrt. Moskau behauptet, dadurch in seiner Sicherheit bedroht zu sein, was ganz gewiss nicht stimmt. Nicht Russland ist durch diese Nachbarstaaten bedroht – das gilt nur für Putins Herrschaft. Diese ist durch die sich häufenden und auch für die Bürger Russlands anregenden Beispiele tatsächlich durch Völker bedroht, die gegen Diktatoren aufstehen.

Es kann keinen Zweifel geben, dass die neue Weltordnung freier und gleichberechtigter Staaten besser und gerechter ist als jene alte der Machtsphären – bei allen stabilisierenden Wirkungen, die diese zeitweise hatte. Wer aber die gleiche Würde aller Menschen akzeptiert, der kann nicht mehr einem Teil der Menschheit größere grundsätzliche Rechte zugestehen als dem anderen.

Das heißt übrigens noch keineswegs, dass jeder Mensch das Recht hat oder haben soll, überall zu leben, wo er will. Das glauben nur jene Linken, die nicht begreifen, dass das eine Welt der totalen Anomie und Gesetzlosigkeit wäre, die nicht begreifen, dass noch auf Lange, wenn nicht immer die Nationen eine unverzichtbare Rolle haben werden und müssen.

Das heißt auch nicht, dass es egal wäre, ob Staaten nach innen demokratisch aufgestellt sind, und ob alle Regionen eines Staates auch diesem mehrheitlich zugehören wollen. Das heißt aber umgekehrt ebensowenig, dass die Außenwelt das Recht hätte, mit Gewalt in einen Staat einzudringen, um dort für Demokratie oder Selbstbestimmung zu sorgen. Freilich macht es schon einen großen Unterschied, welches Ziel eine dennoch stattfindende Intervention von außen hat: die selbstbestimmte Demokratie der dortigen Bürger oder deren Unterjochung.

Die Außenwelt hat neben den Fällen, wo von einem Staat ein Angriff ausgeht (ob dieser nun ein bewaffneter oder ein unbewaffneter ist, wie ihn eine unwillkommene Massenmigration jedenfalls darstellt), nur in einer einzigen Situation das Recht einzugreifen – darüber besteht zumindest mehrheitlicher Konsens: Wenn irgendwo ein Völkermord in Gange ist.

Klar ist freilich, dass die Definition schwer ist, was denn eigentlich ein Völkermord ist. Reichen doch die historischen Exempel vom Nazi-Holocaust an den Juden über die osmanischen Massenmorde an den Armeniern bis zur Massenvertreibung der Kosovo-Albaner durch die Serben und zu den chinesischen Verbrechen an Uiguren und Tibetanern, deren gesamte kulturelle Identität ausgelöscht wird. Unabhängig von der richtigen Definition wird die Außenwelt in aller Regel immer nur dann eingreifen, wenn sie das ohne zu großes eigenes Risiko tun kann. Das war bei den aufgezählten Beispielen lediglich im Kosovo der Fall.

Licht und Finsternis

Freilich ist es nicht so, dass Licht und Finsternis eindeutig und schwarz-weiß zwischen West und Ost verteilt wären. Denn es gibt auch in der freien Welt große Abweichungen etlicher Staaten vom Ideal, auch wenn diese an sich eindeutig in viel höherem Ausmaß als Putin dem Prinzip von Demokratie und Recht verbunden sind.

  • Dazu zählt die Entwicklung der EU zu einem Großen Bruder, der in autoritärer Art einzelnen Mitgliedsstaaten immer mehr die nationale Freiheit und Selbstbestimmung nehmen will. Siehe etwa die ungeheuerlichen EU-Versuche, Ungarn zu zwingen, in den Schulen Schwulenpropaganda zu erlauben (was Ungarns Führung zu einer prorussischeren Haltung getrieben haben, als sie im Rest Europas vorherrscht).
  • Dazu zählt die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts durch viele westliche Staaten. Damit erweisen sich auch diese dem alten Denken in imperialen Machtsphären verhaftet. Opfer sind etwa die Basken und Katalanen, die Südtiroler und Auslandsungarn, die Kurden und Flamen. Um nur die wichtigsten zu nennen.

In all diesen Fällen sind die Beweise sehr stark, dass die Einwohner ganzer Regionen nicht zu dem über sie herrschenden Staat gehören wollen. Daher wäre in all diesen Konflikten nur ein wirklich unabhängiges Referendum mit freier Wahlwerbung für beide Seiten eine gerechte und zukunftsweisende Lösung. Nur das würde zeigen, dass allen westlichen Staaten Menschenwürde und Menschenrecht wichtiger wären als atavistische imperiale Machtansprüche.

Es schadet daher der Glaubwürdigkeit von EU und Nato, so verdienstvoll sie auch sonst meist sind, dass sie Staaten aufgenommen haben, bei denen sehr fraglich ist, ob ihre staatliche Identität in all ihren Regionen von den Untertanen mehrheitlich akzeptiert wird. Das heißt aber gewiss nicht, dass man heute angesichts ihrer persönlichen Freiheit die nationale Unfreiheit der Südtiroler mit der totalen Unfreiheit der Tibetaner gleichsetzen dürfte (bis Ende der 60er Jahre war das freilich ziemlich anders).

Zugleich sollte man offen sagen, dass auch die Einwohner der Krim und aller anderen ukrainischen Regionen unabhängig von den offiziellen Staatsgrenzen den moralischen Anspruch auf Selbstbestimmung haben. Es ist freilich von außen nicht wirklich zu sagen, wie ein solches freies(!) Referendum ausgehen würde. Eine prorussische Entscheidung dürfte es spätestens nach der jetzigen Invasion wohl höchstens auf der Krim geben.

Dieses Ja zu einem moralischen Anspruch auf das Selbstbestimmungsrecht bedeutet aber keinesfalls, dass Russland das Recht gehabt hätte, diesen Anspruch auch mit Gewalt durchzusetzen, oder gar diese Gebiete zu erobern. Die von Moskau nachgeschobene Begründung, dass da ja ein Genozid stattfinden würde, ist geradezu lächerlich und empörend. Ebenso haben von Russland einseitig, ohne internationale Beobachtung, ohne Propagandamöglichkeiten für die Gegenseite durchgeführte Referenden absolut Null Relevanz.

Nun sind die Eroberungen aber einmal passiert. Der Menschheit bleibt nicht viel anderes über, als sich damit zu befassen. Nun sollte es nur darum gehen, möglichst bald eine friedliche und gute Lösung zu finden.

Das hängt natürlich primär von Russland ab. Die entschlossene und in ihrer Empörung alle Erwartungen übertreffende Reaktion der gesamten Weltöffentlichkeit bis hin zu sämtlichen Sportverbänden, Kulturkontakten und vielen wirtschaftlichen Kooperationen (bis auf die weiterlaufende, aber nun ebenfalls genau auf ihre Notwendigkeit geprüfte Gasversorgung) kann da vielleicht etwas bewirken. Noch wirkungsvoller dürften der hohe russische Blutzoll, der wachsende Unmut der russischen Bevölkerung und die mutige Gegenwehr wirklich aller Ukrainer sein.

Aber dennoch sollten im Westen kluge Staatsmänner (sofern vorhanden) dringende Überlegungen für eine solche Lösung anstellen. Diese Überlegungen können freilich nur dann Erfolgschancen haben, wenn die Hinweise nicht stimmen, dass Putin wahnsinnig geworden ist.

Ein kluger Lösungsvorschlag könnte und sollte folgende Elemente haben:

  1. Wirklich freie und international überwachte Referenden mit geordneter Propagandamöglichkeit für beide Seiten in jeder Region der Ukraine, wo das Russland will. Dabei sind alle Armeen abzuziehen und die Polizeifunktionen vorübergehend während der Abstimmung durch UNO oder OSZE zu übernehmen. Alle Seiten verpflichten sich, den Ausgang zu respektieren, ob der nun Zugehörigkeit zu Russland oder zur Ukraine oder Unabhängigkeit einer Region bedeutet.
  2. Internationale Verträge regeln, dass weder in der Ukraine noch in Belarus Angriffs-, Atom- oder Raketenwaffen stationiert werden dürfen.
  3. Ähnliche Regelungen könnten oder sollten auch symmetrisch für einen gleich breiten Streifen jeweils westlich und östlich der Grenzlinien vereinbart werden, wo Nato und Russland aneinanderstoßen.
  4. Ansonsten haben die Ukraine – und alle anderen Staaten der Region – völlige souveräne Freiheit, ohne dass sich von außen bewaffnete Kräfte einmischen dürfen.
  5. Im Gegenzug erhält Russland die volle und gleichberechtigte Rückkehr in alle internationalen Organisationen und Kooperationen.

Gewiss, es würde extrem schwerfallen, den nun eindeutig zum Kriegsverbrecher gewordenen Putin wieder wie einen zivilisierten Staatschef zu behandeln und seine angeblichen Sicherheitssorgen zu berücksichtigen. Aber dennoch sollte man aus der Geschichte lernen. Es gibt nämlich nur zwei Möglichkeiten, mit solchen Typen umzugehen:

  • Entweder Versöhnung ohne Rache oder Vergeltung für alle Verbrechen, aber auch ohne Unter-den-Tisch-Wischen des Geschehenen (wie es in Südafrika oder in Spanien nach Francos Tod recht gut gelungen ist),
  • oder aber blutiges Niederringen, bis ein kompletter Neuanfang möglich ist (wie es gegen den deutschen Nationalsozialismus notwendig geworden war) und bis man den Haupttätern einen Kriegsverbrecherprozess machen kann.

Es kann keinen Zweifel geben, welcher Weg für alle Ukrainer der humanere, wenn auch nicht hundertprozentig befriedigende ist. Auch die Außenwelt sollte sich bewusst machen, dass jener Kriegsverbrecher, den man ansonsten niederringen müsste, jederzeit auf den Atomknopf drücken kann. Klar muss freilich auch sein, dass man sich die Nase zuhalten wird müssen, solange man mit diesem zu verkehren hat.

Aber der Umsturz in Moskau kann nur von innen erfolgen.

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