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Putin, home alone

Es ist wie im zweiten Weltkrieg: Angesichts des überwältigenden Schocks durch einen offenen Kriegsausbruch in Europa werden alle anderen Bedrohungen und Gefahren zweitrangig. Werden Feinde über Nacht zu Freunden und Alliierten. Diese Entwicklung ist damals wie heute gar nicht so sehr bewusste Wahl vieler Nationen zwischen zwei Übeln gewesen, sondern ihnen durch Hitlers wie Putins einseitigen und massiven Kriegsbeginn aufgezwungen worden. Heute löst Wladimir Putins Krieg fast noch mehr Bewegung in der gesamten Welt aus als einst der des Adolf Hitler. Dessen sind wir uns zum Teil noch gar nicht richtig bewusst geworden. Geschichtsbewussten kommt da jenes "Renversement des alliances", jene totale Umkehrung der Allianzen in den Sinn, die sich Mitte des 18. Jahrhunderts abgespielt hatte (als Frankreich, Österreichs jahrhundertelanger Erbfeind, entdecken musste, dass die Preussen, ihre früheren Verbündeten, viel gefährlicher geworden sind – was dann für zwei Jahrhunderte zum dominanten Antagonismus Europas geworden ist). Diese Umwälzung hat sich auch damals schon auf mehreren Kontinenten abgespielt.

Jedenfalls sind als Reaktion auf die russische Invasion gleich in mehreren Weltregionen signifikante Neupositionierungen und Entspannungssignale in jahrelang, jahrzehntelang erbittert tobenden Konflikten zu sehen. Dahinter stecken zwei fundamentale Motive:

  • Die Einsicht, dass man angesichts einer großen Bedrohung auch mit ungeliebten Nachbarn das Auskommen suchen und zusammenrücken muss.
  • Die intensive Suche nach Ersatz für die russischen Gas- und Ölexporte.

Zwar ist noch nicht eindeutig, ob sich jetzt alle tief eingefressenen Konflikte lösen lassen, in die plötzlich Bewegung gekommen ist. Ebenso ist offen, ob diese Bewegung auch langfristige Folgen haben wird, sollte es (was freilich wider jedes Erwarten wäre) relativ bald zu einer Entspannung im Ukraine-Krieg kommen. Tatsache ist aber jedenfalls, dass insbesondere die USA – die nach außen bisher angesichts des russischen Angriffs recht hilflos gewirkt haben – ganz offensichtlich hinter den Kulissen der Hauptfaktor bei den Versuchen einer Beruhigung vieler Konflikte sind. Zugleich scheint es den Amerikanern und Briten gelungen zu sein, erstaunlich viele vor allem panzerbrechende Infanteriewaffen in die Ukraine hineinzubekommen. Aber auch die anderen beiden großen europäischen Mächte – Frankreich, Deutschland – ziehen am gleichen Strang mit  ihnen. Diese Geschlossenheit beeindruckt.

Die wichtigsten Entspannungssignale:

Iran

Vieles deutet darauf hin, dass es bei den jahrelang ergebnislosen Verhandlungen über das iranische Atomprogramm zwischen dem Iran und dem Westen hinter den Kulissen zu einem plötzlichen Durchbruch gekommen ist. Dabei dürfte der Westen dem Iran mehr Konzessionen gemacht haben als umgekehrt: Denn wenn man die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas abbauen will, kann man nicht auch noch ein anderes großes Ölland konsequent boykottieren.

Zwar weiß man nicht genau, was genau den Iranern von den USA geboten worden ist (die Europäer waren ja immer schon viel konzilianter). Aber jedenfalls ist es plötzlich – sogar nach iranischen Angaben! – Russland, dass sich einer Einigung in den Weg stellt. Russland ist aber nicht am Nahostfrieden interessiert, sondern will über die Hintertür der Aufhebung der Iran-Sanktionen seine eigene Lage verbessern. Aber daran hat wieder Iran kein Interesse, weil es weiß, dass eine Verquicklung mit dem Russland-Problem die Chance ruinieren würde, die von Jahr zu Jahr drückender gewordenen Sanktionen plötzlich los zu werden.

Letztlich gibt es aber keinen Grund anzunehmen, dass Russland wirklich eine Wiederannäherung zwischen Iran und dem Westen blockieren kann. Das könnte nur Israel.

Israel

Israel ist in dieser globalen Allianzen-Umwälzung das große Rätsel. Für die intensiven Kontakte Israels mit Russland in den letzten Tagen, die offiziell Vermittlungsbemühungen in Sachen Ukraine gegolten haben, gibt es zwei total unterschiedliche Erklärungsstränge, die beide mit einem potenziellen Iran-Deal zusammenhängen. War doch die Atombewaffnung der iranischen Mullahs für Israel seit Jahren die dominante Herausforderung und Bedrohung.

  • Sollte der – im Detail bisher unbekannte – Inhalt der westlichen Annäherung mit dem Iran auch für Israel ausreichend sein, dann dienten die vertraulichen Kontakte zwischen Israel und Moskau zweifellos Versuchen Israels, Moskau zu einem Einlenken in der Causa Iran und zu einem Verzicht auf Querschüsse zu bewegen.
  • Sollte Israel aber so wie bisher jedes Zugeständnis an Iran fürchten, dann könnten die Moskau-Kontakte des israelischen Regierungschefs ganz im Gegenteil dem Zweck dienen, den sich abzeichnenden Iran-Deal über die russische Bande zu sabotieren.

Zwar läge das auf der bisherigen Linie Israels, das immer vor Kompromissen mit Teheran gewarnt hat. Aber wagt es Israel, gegen die USA zu intrigieren – noch dazu mit Moskau? Außerdem würde Israel damit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj in den Rücken fallen: Auch das ist nur schwer vorstellbar, ist doch Selenskyj zweifellos der global populärste jüdische Spitzenpolitiker, derer es ja nicht so viele gibt.

Also scheint eher die erste Version wahrscheinlich, dass nicht nur die USA, sondern auch Teheran Konzessionen (genauer: der im Konflikt vermittelnden Atomenergiebehörde IAEA Zusicherungen) gemacht hat, die eine Einigung ermöglichen.

Venezuela

Mindestens genauso sensationell ist die Tatsache, dass die USA jetzt auch mit Venezuelas sozialistischem Machthaber Maduro Gespräche führen. Sie geben dabei ganz unumwunden zu, dass es um Öl geht. Bis vor wenigen Wochen haben die USA den Staatschef Venezuelas noch vehement abgelehnt. Er dürfte in zahllose Verbrechen von Drogenhandel bis zur Geldwäsche involviert sein; er hat die Opposition, die bei Parlamentswahlen eigentlich die Mehrheit erzielt hatte, brutal unterdrückt; und er hat mit Moskau intensiv geflirtet – was ihm wirtschaftlich aber nichts bringen kann, da die Russen ihm sein Öl sicher nicht abkaufen.

Venezuela ist jedenfalls das Land mit den größten Ölreserven der Welt, die es auch gerne wieder frei verkaufen will. Und es hat als Folge der US-amerikanischen Sanktionen massiv gelitten. Daher könnten jetzt im Grund beide Seiten versöhnlicher sein.

Türkei-Griechenland

Zwischen den beiden Ägäis-Ländern brodelt seit mehr als hundert Jahren ein Konflikt. Und plötzlich lädt der türkische Machthaber Erdogan den griechischen Regierungschef Mitsotakis nach Istanbul ein. Das ist eine Sensation, die in normalen Zeiten weltweit Schlagzeilen machen würde, jetzt aber fast untergeht.

Ein Hauptanlass der vorsichtigen Annäherung sind zweifellos die großen Sorgen der Türkei wegen des russischen Vormarsches. Sie ist der zweite große Anrainerstaat des Schwarzen Meers, dessen Zugang zum Mittelmeer sie unter Kontrolle hält. Die Türkei fürchtet sehr, dass Russland dort eine allzu große Übermacht erlangen könnte. Außerdem gibt es alte historische Bindungen der Türken an die Krimtataren, die unter der Russifizierungspolitik gelitten haben.

Der alte türkisch-russische Antagonismus gründet noch auf viele weitere Konflikte zweier expansiver Mächte, die vom Balkan mit seinen serbisch-albanischen Kontroversen bis Armenien reichen, dem Erbfeind der Türken. Armenien wieder hat mehrere Kriege mit dem von der Türkei unterstützten Aserbaidschan geführt und dabei von Russland Hilfe bekommen.

Vieles deutet darauf hin, dass Erdogan jetzt die Konfrontation mit dem EU-Mitglied Griechenland in einer Art Frontbegradigung herunterfahren will. Jedenfalls haben die Türken jetzt schon den Druck auf Griechenland und damit auf die EU durch den Export islamischer Migranten reduziert. Freilich gibt es noch viele weitere Konflikte zwischen den beiden Ländern, etwa um die Hoheitsrechte in der Ägäis, etwa wegen der teilweisen Besetzung Nordzyperns durch die Türkei, etwa wegen der von der EU strikt abgelehnten Ölbohrungen vor den Küsten der Türkei.

Wenn man auf ein Ergebnis tippen sollte, dann erscheint besonders bezüglich der Öl- und Gasbohrungen ein Deal möglich, der in einer gemeinsamen Ausbeutung dieser Bodenschätze durch Zypern und diese beiden Länder wahrscheinlich.

Das läge auch ganz auf der von Washington und Brüssel verfolgten Linie, die Welt unabhängig(er) von den russischen Öl- und Gaslieferungen zu machen. Griechenland und die Türkei sind Nato-Mitglieder; das bedeutet mit Sicherheit, dass da hinter verschlossenen Toren Druck gemacht worden ist, den Streit beizulegen.

Beide Länder haben kaum eigene Energiereserven und sind relativ arm, was beide Regierungen angesichts der Preisexplosionen panisch machen muss, da dadurch mittelfristig auch innenpolitische Unruhen drohen. Immerhin ist Griechenland EU-Mitglied und immerhin weiß die Türkei, dass sie die EU braucht, auch wenn sie dort ewig nur ungeliebter Beitrittskandidat ist. Aber seit in der arabischen Welt die gemäßigten Staaten wie Ägypten und Saudi-Arabien an den Westen herangerückt sind, scheint es den Türken schlauer, ähnliches zu tun.

Zugleich dürften die auffallend häufigen Gespräche zwischen Erdogan und Putin inhaltlich nichts gebracht haben. Auch wenn beide Autokraten sind, sind die Interessengegensätze wohl zu tief.

Belgien & Co

Viele westeuropäische Länder wechseln als Reaktion auf den Krieg ihre Energiepolitik. So kündigte beispielsweise der belgische Ministerpräsident an, die für 2025 geplante Abschaltung der Atomkraftwerke gründlich zu überdenken. Belgien gewinnt derzeit nicht weniger als 40 Prozent seines Stroms aus solchen AKW.

Ähnliche Diskussionen sind auch in vielen anderen europäischen Ländern in Gang. Zwar scheinen Atomkraftwerke, Öl und Gas verschiedene Bereiche zu sein. Aber das täuscht, wird doch vielfach Gas auch zur Stromerzeugung verwendet; und sollen doch Benzin und Diesel durch Stromautos (trotz aller Defizite) überflüssig gemacht werden.

Jedenfalls erkennen derzeit viele Europäer, dass Atomkraftwerke eine weit seriösere Lösung für das Energieproblem sind als die Pläne, Europa mit zehntausenden weiteren Windmühlen zuzupflastern, die völlig von Wind und Wetter abhängig sind.

Finnland und Schweden

Diesen beiden Ländern geht es nicht um Energie, sondern um die eigene Sicherheit und Freiheit. Die Isolation der Ukraine gegenüber einer eigentlich weltweit verurteilten Aggression hat in Skandinavien der Mehrheit der Menschen klargemacht, dass nur der Schutz der Nato einigermaßen Sicherheit verspricht und nicht die Neutralität. Darüber wird in Skandinavien ganz nüchtern und laut nachgedacht.

Wobei die Geschichte der Neutralität eine unterschiedliche ist: Schweden ist eines der ganz wenigen Beispiele, wo Neutralität einem Land wirklich erspart hat, in den Weltkrieg gezogen zu werden; überdies ist es extrem gut gerüstet. Finnland hingegen war lange direktes Opfer des russischen Imperialismus, aus dem es sich erst nach langen Kriegsjahren und durch einen sehr russlandabhängigen Kurs befreien konnte. Deshalb hat gerade Finnland schon einmal – nach Zerfall der Sowjetunion – gezeigt, dass es gerade wegen dieser historischen Bedrohung durch Russland sofort jede Situation nützt, um sich noch fester an den Westen zu binden und alte Vertragsbande abzuschütteln.

Österreich

Über Österreichs jammervolle Politik ist hier schon intensiv geschrieben worden. Aber dennoch darf das neueste Schwachsinnszitat der SPÖ-Vorsitzenden nicht unerwähnt bleiben. Sagt sie doch zum Jahr 1955: "Wir wollten neutral sein." Da kann man nur fassungslos werden, wenn eine SPÖ-Chefin so spricht. Hat ihre Partei doch noch am Beginn jenes Jahres eine Neutralitätserklärung Österreichs strikt abgelehnt (weil sie eine zu große Abhängigkeit von den Sowjets fürchtete). Und erst im letzten Moment hat sie sich bei den Moskauer Verhandlungen dem weitgehenden Alleingang von Julius Raab gebeugt, der erkannt hatte, mit der Neutralitätserklärung die Russen zum Abzug zu bringen.

Aber offenbar weiß das kein einziger österreichischer Politiker mehr. Und jedenfalls blamiert kein einziger Rendi-Wagner für ihre Ahnungslosigkeit (oder das sozialistische Talent, die Geschichte nach jeweiligem Belieben willkürlich umzudichten).

Auch die FPÖ ist heftig dabei, Geschichtsfälschung zu begehen und zu verleugnen, dass sie den Großteil ihrer Geschichte die Neutralität vehement kritisiert hat.

Und der heutige Bundeskanzler selbst sieht offensichtlich überhaupt keine Notwendigkeit, über Österreichs Sicherheit nachzudenken. Er erweckt zwar den Eindruck, sich um die Energieversorgung zu kümmern; er reiste zu den Golfemiraten, um unverbindliche Absichtserklärungen in Hinblick auf Gaslieferungen einzuholen – ohne aber sagen zu können, über welche österreichischen Häfen denn das Flüssiggas an die heimischen Haushalte und Betriebe weitergeleitet werden soll. Triest ist nämlich irgendwann verloren gegangen.

Nehammer denkt offensichtlich nicht im Schlaf daran, das einzige Wort auch nur in den Mund zu nehmen, das unser Energieproblem am ehesten lösen würde: Wir brauchen Atomkraft. Wenn schon nicht in Österreich, so doch zumindest in Europa.

Nordkorea

Sucht man bei dieser Neuordnung der Allianzen nach Verbündeten Russlands, wird die Ausbeute spärlich. Es mutet fast als Zeichen der Verzweiflung an, dass Russland jetzt einen nordkoreanischen Atomtest bejubelt hat.

China

Die von Putin zweifellos erhoffte Unterstützung durch China fällt nur sehr lau aus. Dabei ist Putin vor dem Krieg extra nach Peking gereist, um sich Unterstützung zu holen. Aber der Ukraine-Krieg und seine Folgen sind wirtschaftlich das Gegenteil dessen, was China braucht.

Zwar hätte China im Schatten der Ukraine-Invasion selbst eine Invasion auf Taiwan versuchen können, haben manche befürchtet. Jedoch sieht Peking mit offensichtlichem Erstaunen, wie heftig sich die Ukrainer trotz ihrer Schwäche zu wehren verstehen. Das werden die seit langem zum Kampf bereiten Taiwanesen im Falle eines chinesischen Angriffs mit noch viel besseren Waffen noch viel effizienter tun. So hat Taiwan rund 300 ballistische Raketen, gegen die es nur wenig Abwehrwaffen gibt, wenn auch angeblich keine Atombewaffnung.

Vor allem aber hat Taiwan im Unterschied zur Ukraine sehr konkrete Sicherheitsgarantien der USA.

Kasachstan

Besonders interessant ist, dass sich auch Kasachstan in diesem Konflikt ausdrücklich für neutral erklärt hat. Dabei hat sich die dortige Regierung erst vor wenigen Wochen nur durch das Hereinholen russischer Truppen gegen die eigene Bevölkerung an der Macht halten können.

Das ist wohl der stärkste Beweis dafür, was Putin in Wahrheit ist: Home alone.

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