Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (13 Euro pro Monat/130 pro Jahr) ist jederzeit beendbar und endet einfach durch Nichtzahlung. 

weiterlesen

18 Vergleiche von Ukraine bis Corona: oft hinkend, aber hilfreich

Es gibt gute Vergleiche. Es gibt schlechte Vergleiche. Aber Tatsache ist, dass wir Vergleiche brauchen, um neue Phänomene zu verstehen, zu bewerten und in unsere bisherige Erfahrungswelt einzuordnen, selbst wenn klar ist, dass jeder neue Vorgang in der Welt seine jeweils spezifischen Eigenheiten hat. Aber wir könnten die Weltgeschichte nicht einmal annähernd begreifen, wenn wir ständig nur sagen "Alles ist anders als alles andere" und nie Ähnlichkeiten zuordnen können. Daher ist es völlig falsch und geradezu infam, Vergleiche zu verbieten oder gar unter Strafe zu stellen. Das ist doppelt falsch, weil sich immer erst im deutlichen Rückblick zeigt, ob ein Vergleich halbwegs stimmig ist. Der gesamte Ukraine-Krieg mit all seinen Folgen schreit ebenso nach Versuchen zu vergleichen wie der zweite globale Schock der jüngeren Vergangenheit, die Corona-Krise und die Querdenker-Aktivitäten.

Daher seien in der Folge einige Vergleiche zu diesen beiden Katastrophen analysiert, ohne dass auch nur bei einem einzigen zu sagen wäre, er sei absolut falsch oder gar zu verbieten. Oder aber auch er sei absolut richtig.

  1. Leningrad: Die Belagerung und Aushungerung ukrainischer Städte durch die russischen Truppen erinnert frappant an die Belagerung von Leningrad durch deutsche Truppen im zweiten Weltkrieg. Jeder Besucher von Sankt-Petersburg wird auch heute noch von den Bewohnern intensiv an diese Tragödie erinnert. Leningrad war 28 Monate eingeschlossen gewesen, ist aber nie eingenommen worden. In dieser Zeit starben 90 Prozent der 1,1 Millionen Einwohner an Hungertod. Selbst Kannibalismus konnte sie nicht mehr retten. Die deutsche Wehrmacht beging damit eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in ihrem Verantwortungsbereich. So zerschoss sie gezielt alle Lebensmittelspeicher, Wasserversorgungseinrichtungen ebenso wie Krankenhäuser. Man sieht da auf den ersten Blick, was vergleichbar und was (noch?) nicht vergleichbar ist mit der begonnenen Belagerung ukrainische Städte. Das wirklich Schockierende ist, dass ausgerechnet die Russen es sind, die vor 80 Jahren selbst Opfer eines solchen Verbrechens waren, die heute mit haargenau der gleichen Strategie begonnen haben: Belagern, Aushungern, Artillerie- und Luftbombardements – um sich den direkten Häuserkampf zu ersparen, der auch auf der eigenen Seite viele Opfer fordern würde. Noch schockierender: Zumindest nach Putins früheren Angaben zählte seine Mutter zu den wenigen Überlebenden der Belagerung.
  2. Stalingrad: Mariupol, die Stadt am Schwarzen  Meer zwischen den früheren russischen Eroberungen im Osten und auf der Krim, wird seit einigen Tagen oft mit Stalingrad verglichen, dem heutigen Wolgograd. Stalingrad war im zweiten Weltkrieg die meistzerstörte Stadt in der Sowjetunion. Mariupol ist das heute in der Ukraine. Manche Ukrainer sehen – erhoffen aber auch eine zweite Ähnlichkeit: Stalingrad war das Fanal eines Scheiterns für den Aggressor, das dem ganzen Krieg seine Wende gab. Nun ist es gewiss sowohl in Hinblick auf Zerstörungsgrad wie auch Scheitern viel zu früh für diesen Vergleich. Dennoch sind manche Ähnlichkeiten in der russischen Taktik unübersehbar – und auch in der vielleicht utopischen Hoffnung der Ukrainer.
  3. Holocaust: Dieser vom ukrainischen Präsidenten gezogene Vergleich des russischen Angriffskriegs mit der Vernichtung von Millionen Juden ist am wenigsten passend. Er dient aber wie praktisch jeder solche Vergleich dazu, etwas als besonders verbrecherisch zu tadeln, und zugleich Sympathie wie Hilfe aus dem Ausland zu aktivieren, hat doch damals im Krieg die Außenwelt das Thema Judenverfolgung wenig beachtet. Nicht einmal die Schienen Richtung Auschwitz sind bombardiert worden, was das Vernichtungswerk wahrscheinlich gebremst hätte.
  4. Gleiwitz: Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen wegen angeblicher eigener Sicherheitsinteressen und polnischer Missetaten ist weit besser als der Holocaust mit dem russischen Überfall auf die Ukraine zu vergleichen. Die Deutschen fingierten 1939 dazu einen polnischen Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz, die Russen machten sich 2022 freilich nicht einmal die Mühe, einen Angriff der Gegenseite zu fingieren, wenn man von ihren Propagandabeschimpfungen absieht, dass in der Ukraine Nazis und Drogensüchtige regieren würden, und dass sie sich für einen Artilleriebeschuss der russisch besetzten Ostukraine rächen müssten (von wo aus die freie Ukraine ständig beschossen worden ist).
  5. Historischer Besitz: Dieser Vergleich ist besonders frappierend: Berlin (1939 in Polen) wie Moskau (2015 und 2022 in der Ukraine) sind in Gebiete einmarschiert, die ein paar Jahrzehnte davor von Berlin und Moskau noch regiert worden sind.
  6. Auslandsdeutsche: In beiden Fällen waren nach den letzten Grenzverschiebungen außerhalb der eigenen Grenzen lebende Landsleute, die das Motiv oder den Vorwand für die Angriffskriege der Deutschen und Russen bildeten (siehe Danzig, siehe die russisch sprechenden Ukrainer).
  7. Nazis: Der Vergleich einer Gruppe mit den Nazis ist zweifellos der überhaupt häufigste. Er ist aber in Wahrheit längst ohne jede Bedeutung als Beschimpfung ins Alltagsvokabular übergegangen. Besonders wenig ernst kann man die russischen "Nazi"-Beschimpfungen für die ukrainische Führung nehmen, ist doch der ukrainische Präsident Selenskyj ein Jude mit russischer Muttersprache.
  8. Rechtsextremisten: Auch die von manchen linken Journalisten etwa in Österreich der russischen Propaganda nachgeplapperte Behauptung, die sogenannten Asow-Milizen, die an der Seite der ukrainischen Armee kämpfen, wären Rechtsextremisten, ist nicht substanziell. Im französischen Fernsehen formulierte es am Wochenende einer von ihnen ziemlich treffend: "Wir verteidigen unsere Heimat, unsere Frauen und Kinder. Sie beschießen Schulen und Kindergärten. Wo sind da die Extremisten?"
  9. Judensterne: Die Nazis haben einst alle Juden gezwungen – lange bevor die Vernichtungslager zu arbeiten begonnen haben –, gelbe Sterne an der Kleidung zu befestigen, damit man sie gleich erkennen und von vielen öffentlichen Möglichkeiten ausschließen kann. Damit haben sich jetzt die Impfgegner verglichen, weil sie von manchen Möglichkeiten ausgeschlossen sind. Das ist ein in hunderten Punkten krass unrichtiger und geschmackloser Vergleich. Es ist aber trotzdem fundamental falsch, darin auch Antisemitismus zu sehen oder sogar zu verfolgen, wie es neuerdings geschieht. Denn es ist ja keine Beschimpfung von Juden, wenn man die harmlose (und selbstverschuldete) eigene Opferrolle mit der furchtbaren Opferrolle der Juden im Nationalsozialismus vergleicht. Das ist nur abgrundtief dumm.
  10. Churchill: Der britische Kriegspremier Winston Churchill stand nach der Kapitulation Frankreichs ein Jahr lang alleine gegen Adolf Hitler. Das erinnert vehement an das heutige Auftreten von Wolodymyr Selenskyj.
    1. Erstens durch die sehr ähnlichen Durchhalteappelle beider an die eigenen Landsleute, dass man gegen den scheinbar übermächtigen Gegner jeden Quadratmeter des eigenen Bodens verteidigen werde.
    2. Und zweitens durch Churchills ununterbrochene Versuche, mit Appellen und Emotionen die USA zum Kriegseintritt an der Seite Großbritanniens zu bewegen. Das blieb aber mehr als ein Jahr lang erfolglos. Das hat nur zu verstärkten amerikanischen Waffenlieferungen geführt. Der Krieg zwischen den USA und dem Deutschen Reich wurde absurderweise erst umgekehrt durch eine Kriegserklärung Adolf Hitlers an die USA begonnen (der damit Japan nach seinem Angriff auf Pearl Harbour zur Seite stehen wollte).
  11. Appeasement: In den Jahren vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs glaubten die Westmächte, dass Hitler durch territoriale Konzessionen (Rheinland, Österreich, Tschechoslowakei) befriedigt und ein Krieg abgewendet werden könnte. So erklärte der damalige britische Premier Chamberlain ein Jahr vor Hitlers Überfall auf Polen wörtlich: "Peace in our time!". Das erinnert vehement an das totale Wegschauen der Welt bei Russlands Raubzügen gegen Georgien und Moldawien, sowie bei seinen Eroberungen in der Ukraine im Jahr 2015 (Krim und Ostukraine). Jedes Mal hat man geglaubt, dass Wegschauen helfen würde, und dass jetzt der Appetit des Aggressors gestillt und alles vorbei wäre.
  12. Boris Johnson: Der heutige britische Premier verglich am Wochenende den Kampf der Ukraine mit der Entscheidung der Briten für den Brexit. Beide Völker haben sich für die Freiheit entschieden. Der ziemlich hinkende Vergleich brachte ihm sofort heftige Kritik diverser politischer Gegner ein. Aber ein Grundgefühl ist in der Tat wirklich vergleichbar: Briten wie Ukrainer haben sich für die eigene nationale Freiheit entschieden, wenngleich die Opfer, die die Briten dafür bringen mussten, minimal waren, während der Krieg für die Ukrainer millionenfaches Leid und Tod bedeutet. 
  13. Isolationismus: In beiden Weltkriegen waren die USA zu Beginn sehr isolationistisch gesinnt. Eine Mehrheit wollte in den Anfangsjahren beider Kriege jede Verwicklung in europäische Konflikte vermeiden. Daran erinnerten im ablaufenden Winter stark die Aussagen von Joe Biden, dass die USA (nur) jeden Quadratmeter der Nato-Länder verteidigen würden (sonst aber nichts). Das wird vielfach als Einladung an Putin zum Angriff auf die Ukraine gewertet, die ja kein Nato-Land ist und als solche auf Verlangen Angela Merkels und Nicolas Sarkozys nicht aufgenommen worden ist.
  14. Söldner: Ausländische Einheiten gibt es auf beiden Seiten, vor allem auf der russischen, da die Ukraine eigentlich genug kampfeswillige Soldaten hat (nur viel zu wenig effektive Waffen). Moskau hingegen braucht sie. Es holte mit attraktiven finanziellen Angeboten in fünfstelliger Anzahl kampferprobte Helfer aus islamischen Ländern, insbesondere aus Syrien, wo es genug Männer gibt, die außer Kriegführen nichts anderes gelernt haben.
    1. Das zeigt erstens die Probleme Putins gegenüber der eigenen Bevölkerung und den eigenen Wehrpflichtigen, die man ja über den eigenen Eroberungskrieg massiv belogen hat, und die bei einer Mobilisierung massiv geschockt wären.
    2. Das erinnert zweitens massiv an den Untergang des alten Roms, das in seinen letzten Zeiten fast nur noch – meist germanische – Söldner für seine Kriegszüge einsetzte. Was prompt dazu führte, dass das römische Weltreich zerbrach und dass Italien in die Hände von Germanen fiel. In deren Konflikte blieb es dann mehr als eineinhalb Jahrtausende verwickelt.
  15. Rassismus: Mit dieser Bezeichnung wird vom linken Mainstream die gegenwärtige Hilfe Europas an die ukrainischen Flüchtlinge denunziert. Der Vorwurf: Es wäre rassistisch, dass die Europäer gegenüber den afrikanischen und asiatischen Flüchtlingen keineswegs die gleiche Hilfsbereitschaft gezeigt haben wie gegenüber den ukrainischen. Ein absurder Vorwurf, der völlig negiert,
    1. dass Nachbarschafts-Solidarität und Nächstenliebe nicht nur im Christentum jahrtausendealte Gebote sind;
    2. dass Fernstenliebe das jedoch nie gewesen ist;
    3. dass es bei der Ukraine eben um Hilfe für einen unmittelbare Nachbarn der EU geht;
    4. dass Österreich und viele andere Demokratien in ganz gleicher Weise in der Nachbarschaft (1956) ungarischen und (1968) tschechoslowakischen Flüchtlingen geholfen haben, sich dann – mit Ausnahme der politischen Linken und naiven Christen – gegen die Massenaufnahme islamischer und afrikanische Migranten gestellt hat;
    5. dass die Ukrainer zum Unterschied von den Außereuropäern gewiss nicht deshalb gekommen sind, um von den üppigen europäischen Wohlfahrtssystemen zu profitieren;
    6. dass die Ukrainer in keinem Fall Asylshopping betreiben (also auf ihrer angeblichen Flucht durch zahllose andere Länder gezogen sind, wo sie schon längst in Sicherheit vor den angeblichen Fluchtgründen gewesen wären, derentwegen sie dann im Westen Asyl verlangen);
    7. dass wichtige Teile der Ukraine einst jahrhundertelang zu Österreich beziehungsweise Polen gehört haben;
    8. dass aus der Ukraine überwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen kommen, während die Männer daheim ihre Heimat verteidigen;
    9. dass es bei den Afrikanern und Asiaten genau umgekehrt ist.
  16. Österreichs Neutralität: Diese ist von Russland zuletzt ein paar Mal als mögliche Lösung bezeichnet worden. Dabei ist es aber sehr unwahrscheinlich, dass Russland wirklich bereit wäre, alle Aspekte der österreichischen Neutralitäts-Lösung (samt EU-Beitritt und totaler West-Orientierung) zu übernehmen. Sollte es aber doch dazu bereit sein, wäre es wohl falsch, dem Vorbild nicht zu folgen. Denn das könnte eine gute Lösung werden.
  17. Österreichische Nation: Hitler hatte 1938 gemeint, die Österreicher wollten eh alle oder fast alle bei Deutschland sein, sprechen sie doch mehr oder weniger die gleiche Sprache, und haben sie doch über weite Strecken eine gemeinsame Geschichte gehabt. Ganz ähnlich glaube Putin zumindest bis vor wenigen Tagen, die Ukrainer wollten eh alle oder fast alle zu Russland, sprechen sie doch mehr oder weniger die gleiche oder eine sehr ähnliche Sprache und haben sie doch über weite Strecken eine gemeinsame Geschichte. Das hat teilweise sogar gestimmt, aber die ungerufene militärische Okkupation und das Verhalten der Besatzer haben da wie dort zur gleichen Reaktion geführt: Zur Entstehung einer klar vom entschlossenen Mehrheitswillen getragenen eigenen Nation, die in keiner Weise mehr staatlich etwas mit den (ehemaligen) deutschen oder (aktuellen) russischen Besatzern zu tun haben will.
  18. Reaktionen 1938 – 2022: Während Österreich 1938 beim deutschen Einmarsch auch politisch von der Welt weitestgehend alleingelassen worden ist, hat kaum ein Ereignis die Weltöffentlichkeit so geschlossen emotional und politisch an die Seite eines Landes gebracht wie der russische Überfall auf die Ukraine. Man kann nur spekulieren, wieweit das damit zusammenhängt, dass sich die Ukraine 2022 entschlossen militärisch zu wehren versucht, was in Österreich 1938 ja überhaupt nicht versucht worden ist (wohl auch angesichts der tiefen inneren Spaltung der Alpenrepublik). Das hat aber dennoch auch der Ukraine zumindest bis heute kein direktes militärisches Eingreifen seiner verbal lauten Sympathisanten gebracht.

Kein Zweifel: Diese Vergleiche – und viele andere – helfen, schockierende, neue, fast unbegreifliche Vorgänge irgendwie besser zu verstehen. Aber dennoch sollte man nüchtern zugeben: Fast jeder einzelne Vergleich hinkt, manche gleich an allen vier Beinen.

zur Übersicht

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)

Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print




© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung