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Die rund um die Ukraine aufgestellten russischen Invasionstruppen ziehen langsam wieder ab. Zumindest versucht Russland diesen Eindruck zu erwecken, auch wenn die Satellitenspione noch nicht viel davon sehen. Müssen die Russen – sollten die Nachricht über diesen Abzug stimmen – jetzt in einer ehrlichen Analyse sagen: "Außer (sehr großen) Spesen nichts gewesen"? Zu drei Vierteln müssten sie das. Deswegen wird Moskau einen Abzug mit viel Verwirrtaktik einzunebeln versuchen. Die Gegenreaktionen des Westens, vor allem der USA und Großbritanniens, waren wirtschaftlich konkreter und bedrohlicher als von Moskau erwartet – sehr zum Unterschied von der wieder einmal unerträglich peinlichen Vorstellung der EU-Institutionen. Damit hat Russland seine Position in vielerlei Hinsicht verschlechtert. Damit weiß Moskau sehr genau, was es bei einem Einmarsch in die Ukraine zu erwarten hätte. Zu etwa einem Viertel hat Putin jedoch sein Ziel erreicht (mit nachträglicher Ergänzung).
Dieser limitierte Erfolg für Putin besteht darin, dass die westlichen Exponenten ziemlich klar signalisiert haben, dass die Ukraine noch auf sehr lange nicht der Nato beitreten werde können. Unausgesprochen muss man hinzufügen: Wenn überhaupt.
Sie haben das aber in keiner Weise verbindlich oder vertraglich gesagt. So wenig, wie sie das nach 1990 in Hinblick auf Deutschland oder die frei werdenden Ex-Satellitenstaaten getan haben, als angeblich ähnliche Zusagen gefallen sind.
Eine Verbindlichkeit von Kein-Nato-Beitritt-Zusagen wird zwar von Moskau und seinen europäischen Propagandisten am äußersten linken und rechten Rand der politischen Szene ständig behauptet. Aber von den vielen Varianten, Aspekten und Möglichkeiten, die in einem Gespräch vorkommen, ist ganz eindeutig nur das gültig und relevant, was am Schluss in einem Vertrag oder zumindest Protokoll festgehalten ist. Wäre hinter Polstertüren wirklich eine Nicht-Ausdehnung der Nato konkret zugesagt worden, dann hätten die Russen mit absoluter Sicherheit darauf bestanden, dass das auch schriftlich festgehalten wird. Ganz abgesehen davon, dass es bei jenen Gesprächen um solche wegen des Abzugs aus Deutschland gegangen ist – noch lange bevor die Ukraine wiederentstanden ist.
Dass nunmehr in Hinblick auf die Ukraine öffentlich von einem Aufschieben des Nato-Beitritts geredet wurde, ist sicher ein Erfolg für Putin, auch wenn das eindeutig vage und unverbindlich geblieben ist. Auch bleibt der Wunsch, der Nato und der EU beizutreten, unverändert Teil der ukrainischen Verfassung und ebenso des politischen Wollens fast der ganzen Ukraine. Der Beitritt zu jeder internationalen Organisation oder einem Verteidigungsbündnis ist Kern der Souveränität eines Staates.
Nach diesem massiv bedrohlichen Umzingelungsaufmarsch der Russen ist der Nato-Beitritt für die Ukrainer noch viel wichtiger geworden. Denn sie müssen nun immer damit rechnen, dass ohne Schutz durch die Nato die Russen neuerlich aufmarschieren könnten, um das Land dann mit irgendeiner weiteren Forderung unter Druck zu setzen. So wie sie es ja schon einmal mit der Eroberung der Krim und von Teilen der Ostukraine gemacht haben, nachdem in der Ukraine ein innerer Machtwechsel gegen den Willen Moskaus stattgefunden hat. Als ob das eine Legitimation zum Einmarsch in andere Staaten wäre.
Vor allem die EU – gäbe es sie noch als ernstzunehmendes Gebilde – müsste sich daran erinnern, was überhaupt der Grund für diesen Machtwechsel gewesen ist: Der damalige Präsident hat sich plötzlich, ganz eindeutig auf Verlangen Moskaus, gegen die geplante Assoziierung der Ukraine mit der EU gewandt. Dagegen haben sowohl das Parlament wie auch die Bürger der Ukraine aufbegehrt.
Daher sind die Ukrainer verständlicherweise auch über die jetzige Entwicklung tief unglücklich. Ihre Souveränität, ihre Freiheit ist in einem ganz entscheidenden Punkt eingeschränkt, wenn sie nicht wie jedes souveräne Land der Nato beitreten dürfen. Deshalb war es ja auch nie die Ukraine oder ihr Präsident, der den Russen mit solchen Andeutungen Zugeständnisse auch nur in Aussicht gestellt hätte.
Die Ukrainer waren und sind bereit, für diese Freiheit zu kämpfen, auch wenn sie gegen die überlegenen Panzer der Russen keine Siegeschance haben. Sie werden nicht nur aus nationalen Gründen für die Freiheit kämpfen, sondern insbesondere auch, weil sich Russland unter Putin wieder in eine Diktatur zurückverwandelt hat, die Regimegegner wie einst Stalin umbringt oder in den Gulag wirft. Von so einem Regime will man schon gar nicht beherrscht werden.
Die Ukrainer werden deshalb künftig mit Sicherheit noch mehr in die eigene Armee investieren. Ich wäre nicht einmal überrascht, wenn plötzlich wieder auf ukrainischem Boden Atomwaffen – woher auch immer, aus der islamischen Welt, aus dem Westen, aus Israel, von der Mafia … – auftauchen sollten. Lediglich das derzeit mit Russland turtelnde China würde ich als Lieferant ausschließen (so sehr die Chinesen auch an guten Geschäften interessiert sind).
Die Ukrainer bereuen es nämlich in den letzten Jahren heftig, dass sie einst nach dem Zerfall der Sowjetunion die auf ukrainischem Boden stehenden Atomwaffen abgerüstet haben. Der Vertrag, der ihnen im Gegenzug für diese Entwaffnung ihre volle Souveränität garantiert hat, ist jedoch vom Vertragspartner Russland brutal durch Eroberung ukrainischer Territorien gebrochen worden. Machthaber Putin hat überdies auch signalisiert, dass er ihn jederzeit wieder zu brechen bereit ist, wenn die Ukraine seinem Diktat – pardon: seinen "Verhandlungs"-Wünschen nicht gehorcht.
Angesichts dieser mehrfachen Vertragsbrüche Russlands ist es nur absurd, wenn bei uns im Westen manche herumgehen, die den Russen auf Grund irgendwelcher nirgendwo in einem Vertrag festgehaltener Bemerkungen ein Interventionsrecht zubilligen.
Dieses Interventionsrecht würde nichts anderes bedeuten als eine Rückkehr in Kolonialismus und Imperialismus. In jenem Denken hatten es Briten, Franzosen, Russen und etliche andere für rechtens gehalten, sich fremde, aber militärisch schwächere Territorien anzueignen oder diese mit höchstens limitierter Selbstverwaltung zu kolonialisieren.
Eine solche kolonialistische Oberhoheit gegenüber seinen Nachbarländern ist offenbar das, was Putin auch heute wieder vorschwebt. Während der Rest der Welt – bis auf China – das Eroberungsdenken längst aufgegeben hat, glaubt er an einen russischen Exzeptionalismus, an das bisweilen auch religiös begründete Recht zur Oberhoheit über alle angrenzenden Regionen.
Dennoch geht Russland überwiegend als Verlierer aus der Konfrontation – wenn wir einmal annehmen, der Abzug findet wirklich statt und ist nicht nur ein Täuschungsmanöver.
Putin hat als einzigen Gewinn die noch dazu unverbindliche Zusage bekommen, dass es in absehbarer Zeit zu keinem Nato-Beitritt der Ukraine kommt. Das wäre jedoch nur dann ein echter Wert für ihn, wenn er so dumm wäre, wirklich zu glauben, von der Nato ginge eine Bedrohung für Russland aus. Bei aller Tradition russischer Einkreisungsängste, auf die sich das Land über Jahrhunderte berufen hat, um sich immer weiter auszudehnen: So dumm kann er nicht sein, wirklich eine Bedrohung durch die Nato zu sehen. Dort ist weder ein Napoleon noch ein Hitler aktiv. Dort ist kein einziges Land zu einem Angriff auf Russland bereit, oder imstande dazu.
Putin hat also im Grund nichts von Wert bekommen. Auf der anderen Seite muss er hinnehmen:
Wie könnte – mit Mut zur Utopie – eine dauerhafte und gute Lösung ausschauen? Putin bekommt nur bei symmetrischen Aktionen die Zustimmung des Westens. Das wären Verträge wie im Kalten Krieg, welche beiderseits die Angriffs- und Atomwaffen reduzieren, welche mehr Transparenz bei Manövern herstellen, welche – ebenfalls auf beiden Seiten! – einen breiten Streifen ohne nennenswerte Armeepräsenz vorsehen.
Das sollte aber nicht alles sein. Langfristig wäre es klug und wichtig, Russland wieder als verantwortungsbewussten und willkommenen Partner im europäischen Boot zu haben. So wie es das etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon gewesen ist. Aber wahrscheinlich wird das erst mit einem Nachfolger Putins wirklich möglich sein – oder nach einem kompletten Kollaps der strukturell schwachen russischen Wirtschaft.
Eine solche echte Lösung müsste aber unbedingt auch eine saubere Zukunft der russisch besetzten Gebiete umfassen. Dafür gibt es grundsätzlich nur eine einzige gute Basis: eine Doppellösung durch Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz. Denn es ist ja auch nicht so, dass Russland kein Argument in Hinblick auf die besetzten Gebiete hat. Dort gibt es zweifellos viele Menschen, die lieber zu Russland als zur Ukraine gehören wollen. Aber auch umgekehrt.
Die Größenverhältnisse zwischen diesen beiden Gruppen kann man nur durch ein echtes Referendum feststellen. Bei einem solchen müssten beide Seiten volle Informations- und Propagandamöglichkeiten haben. Das geht aber natürlich nicht, solange eine Seite die territoriale Kontrolle hat. Das wäre daher einzig durch eine neutrale UNO-Peacekeeping-Mission sicherzustellen, die befristet die Kontrolle übernimmt, die aber auch garantiert, dass die aus diesen Gebieten Vertriebenen mitstimmen könnten. Zugleich müsste es – egal wie das Referendum ausgeht – nachher einen durch internationale Richter überwachten Minderheitenschutz geben, also insbesondere die Garantie auf Gleichberechtigung der beiden Sprachen Russisch und Ukrainisch in allen betroffenen Gebieten.
Das Interessante: Eine solche Lösung, wie sie schon viele andere Konflikte beruhigen konnte, will man weder in Kiew noch Moskau. Lieber schlägt man sich noch länger den Schädel ein.
PS: Wäre ich Einwohner der Krim, würde ich wohl weder für die Ukraine noch Russland stimmen, sondern für einen unabhängigen Krim-Kleinstaat, der mit beiden Nachbarn, aber auch der übers Meer liegenden und auf der Krim einst sehr präsenten Türkei gute Beziehungen sucht. Der als Kaufpreis für seine Freiheit auch die Verpflichtung zur immerwährenden Neutralität einzugehen bereit ist …
Nachträgliche Ergänzung: Der Punkt 9 war leider unrichtig: Die Degradierung der russischen Sportler bei Olympia zu "ROC" ist nicht Folge von Krim und co., sondern des jahrelangen Staatsdopings - unter anderem bei Olympia in Sotschi. Kurz danach kam es ja zur Krim-Invasion. Das hat zur Verwechslung geführt. Ich bedaure - das zeigt aber, dass man leicht den Überblick verliert, wo sich Russland überall als Gaunerstaat betätigt.