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Ziemlich genau auf diese Art hat der erste Weltkrieg angefangen. Damals nannte man das halt noch Mobilisierung, was Russland jetzt hundert Jahre später neuerlich in bedrohlicher Weise tut. Auch damals hat Russland damit andere Länder erpresserisch zu etwas zu zwingen versucht. Auch damals waren panslawistische Expansionsbestrebungen der innere Antrieb für das russische Agieren. Damals wollte man Österreich-Ungarn von seinem Verlangen abhalten, dass Serbien die Hintermänner der Mörder von Sarajewo ausliefern solle; heute ist eine ganze Reihe von Ländern zwischen Finnland und der Ukraine das Ziel, deren Freiheit und Souveränität substanziell eingeschränkt werden soll, zu der zweifellos auch die freie Entscheidung über den Beitritt zu Verteidigungsbündnissen gehört. Damals wurde durch die russische Mobilisierung eine unheilvolle Automatik ausgelöst, die letztlich zu einem dreißigjährigen Weltkrieg bis 1945 geführt hat. Obwohl (auch) 1914 mit Sicherheit niemand eine große Katastrophe gewollt hat. Und heute?
Ist es wieder soweit? Wer nach weiteren Parallelen zwischen 1914 und 2022 sucht, der sei auf Christopher Clark "Die Schlafwandler" verwiesen, dort findet er gleich hunderte (ohne dass der australisch-britische Historiker Clark auch nur ein einziges Mal selbst die Parallelen Richtung Gegenwart ziehen würde).
Geschichte kann sich wiederholen – aber sie muss sich nicht wiederholen. Nur wissen wir halt leider immer erst im Rückblick, ob sie es getan hat.
Derzeit geht es gleich auf vier Ebenen um schwierige Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Die man aber dennoch suchen muss:
Die aggressive russische Mobilisierung hängt primär jedenfalls mit der inneren Schwäche der russischen Führung zusammen. Putins Ausstrahlung ist höflich ausgedrückt verblasst. Er muss im Gegensatz zu seinen früheren Jahren seine Gegner aus Sorge vor deren wachsender Popularität in einen neuen Gulag werfen lassen. Es reicht ihm aus Angst um die Reste seiner Popularität nicht mehr, sie gleichsam zu Tode zu ignorieren.
Zugleich hat die Wirtschaft des Landes völlig versagt. Sie ist nie im Industrie- oder gar Dienstleistungszeitalter angekommen. Altkommunistische Funktionäre haben sich statt dessen in einem Raubtierkapitalismus leistungsfrei selbst bedient. Russland hat dadurch wie ein Drittweltland weiterhin seine einzige Stärke bloß im Export von Rohstoffen. Und in einer noch immer gewaltigen Armee.
Diese zwei Karten, Rohstoffe und Armee, spielt Putin abwechselnd aus, um die eigene Bevölkerung durch Konflikte mit der Außenwelt von der inneren Schwäche und Brüchigkeit seines Systems abzulenken.
Gleichzeitig fühlt er sich vom Westen gedemütigt und kann dieses Gefühl auch in die Bevölkerung transferieren. Er begreift nicht, dass der Westen – schon aus Rücksicht auf die eigene Bevölkerung – niemals eine Diktatur als qualitativ gleichwertig anerkennen kann und wird.
Russland ist heute ganz unbestreitbar – wieder – eine Diktatur, die nicht einmal Mindestmaßstäbe in Sachen Demokratie und Rechtsstaat zu erfüllen bereit ist. Und nach außen greift Russland andere Länder grundlos an, raubt ihnen Gebiete, obwohl es ihnen in völkerrechtlichen Verträgen eigentlich die Unantastbarkeit ihrer Grenzen garantiert hatte. Russland lässt überdies auch noch Oppositionspolitiker im Ausland umbringen. Die staatlich organisierten Internet-Hacker richten milliardenfachen Schaden an.
Putin ist gewiss auch ein wenig enttäuscht, dass die zarten Andeutungen einer klimatischen Verbesserung gegenüber den USA unter Donald Trump sehr bald Richtung Nirwana entschwunden sind. Auch schon Trump war bald von Russland ernüchtert.
Trotz des Endes des Kommunismus gibt es sehr wohl weiterhin auch einen ideologischen Expansionismus Russlands. Dabei wurde der marxistisch-proletarische Verbreitungsdrang – bei nicht nur in Putins Person gleichbleibendem Personal – durch eine dumpfe ideologische Mischung ersetzt: Bestehend erstens aus russischem Nationalismus, zweitens aus einem rassischen Panslawismus, drittens aus einem Rollback-Revanchismus mit Nostalgie nach der Stalinschen Größe und viertens einem Antidemokratismus nach dem Motto "Diktatoren aller Länder vereinigt euch".
Noch absurder, aber dennoch zutreffend ist ein weiteres Motiv, dass da ebenfalls im Spiel ist: Das ist die seit vielen Jahrhunderten nachweisbare russische Paranoia. Obwohl es schon lange das größte Land der Erde ist, fühlt sich Russland seit jeher bedroht und eingekreist und will sich zur eigenen Sicherheit immer weiter ausdehnen. Krank, aber wahr.
Diese Frage lässt sich fast am leichtesten beantworten: Putin hat erkannt, dass der Westen derzeit so schwach dasteht wie noch nie. Aus vielen Gründen.
Verwunderlich scheint höchstens, dass Putin nicht auf irgendeinen formalen Anlass gewartet hat, wo er dem Ausland wenigstens rhetorisch irgendwie die Schuld an der Eskalation zuschieben könnte. Er hat vielmehr sofort der demokratischen Welt die Daumenschrauben angesetzt, sobald deren Selbstschwächung klar und irreversibel war: Stichwort Scholz, Stichwort Biden, Stichwort Abdrehen der Atomkraftwerke. Er befürchtet offenbar – wohl ziemlich überraschend – dass der Westen bei einem Zuwarten wieder stärker werden könnte.
Er will so wie einst die Zaren und dann noch viel mehr Stalin einen Gürtel von okkupierten, von ganz oder halb abhängigen Staaten rings um Russland haben. Er will weder Finnland, noch Rumänien, noch Bulgarien, noch der Ukraine, noch Georgien volle Souveränität zubilligen. Er will ihnen Vorschriften machen, die sie immer stärker einengen.
Einige naive Menschen meinen ähnlich wie der britische Premier Chamberlain 1938 in München: Soll man ihm doch seinen Willen lassen und halt auf Nato-Mitgliedschaften und Truppenstationierungen verzichten, dann habe man seinen Frieden, ist ja nicht so schlimm. Diese Naivlinge begreifen jedoch nicht: Sobald sich diese Staaten nicht mehr verteidigen können, ist es Schritt für Schritt um sie geschehen. Dann werden sie ähnlich wie Belarus, also willenlose Satelliten Russlands. Auch Belarus hat etliche Jahre sehr um seine Unabhängigkeit von Moskau gerungen, bis sein Regime Schritt für Schritt so wie etwa auch Kasachstan komplett von russischen Truppen und damit russischen Befehlen abhängig geworden ist.
Russland ist hingegen nicht zu gegenseitigen, reziproken Schritten bereit: Es bietet keine Sekunde eine ähnliche Abrüstung, dauerhafte Demobilisierung und einen Verzicht auf Angriffswaffen entlang der Grenzlinie seines jetzigen Einflussbereiches an, wie es das von den prowestlich gesinnten Staaten westlich dieser Linie verlangt.
Ein solches gegenseitiges Angebot wäre ja prüfenswert und vielleicht sogar friedensfördernd. Das einseitige Verlangen nach einer Rekolonialisierung dieses Raumes hingegen ist nicht nur für die betroffenen Völker entwürdigend und ein Hohn auf das verbal auch von Moskau immer betonte Prinzip der völkerrechtlichen Souveränität von Staaten, sondern auch eindeutig kriegsfördernd.
Einseitige Diktate unter der drohenden Mobilisierung von mehr als Hunderttausend Mann sind eine typische Angriffsvorbereitung, auch wenn man beteuert, doch keinesfalls angreifen zu wollen. Gerade diese Beteuerungen machen Putins Aufmarsch so gefährlich. Sie sollen den Westen beschwichtigen, während man selbst rüstet. Putin war nicht einmal imstande, einen akzeptablen Grund für seine Mobilisierung zu nennen.
Gewiss will und soll der Westen alles tun, damit es trotz der russischen Mobilisierung zu keinem Krieg kommt. Er darf sich aber noch viel weniger erpressbar machen, denn dann werden die russischen Forderungen immer aggressiver. So wie das schrittweise Nachgeben gegenüber Adolf Hitler diesen nur zu immer weitergehenden Schritten ermutigt hat. Siehe Saarland, siehe Österreich, siehe Tschechoslowakei.
Aber statt des jämmerlichen Wimmerns um Verhandlungen und des angesichts der europäischen Handlungsunfähigkeit noch lächerlicheren Gekreisches "Europa soll doch auch am Verhandlungstisch sitzen" wäre gegenüber einer eindeutigen und eindeutig unprovozierten Aggression Folgendes dringend notwendig:
Das kann nur als letzter Schritt zu einer militärischen Allianz der drei gefährlichsten Diktaturen der Welt interpretiert werden. Diese Kooperation macht auch endgültig klar: Die Welt steht über Nacht vor der größten Gefahr einer Eskalation zumindest seit der Kubakrise.
PS: Österreich ist in dieser Analyse nicht vorgekommen. Zu Recht. Gibt es doch in diesem Land keinerlei Spuren einer strategisch denkenden Außen- oder Sicherheitspolitik. Gewiss kann sich das Land, umgeben von lauter Nato-Staaten sowie der Schweiz, noch relativ sicher fühlen. Umso wichtiger wäre ein klarer öffentlicher Satz aus dem Mund eines österreichischen Bundespräsidenten oder Bundeskanzlers oder Außenministers, wie ihn soeben der Präsident Finnlands, des Landes mit der längsten direkten Grenze zu Russland, gesagt hat: "Wir wollen selbst entscheiden dürfen, ob wir einem Sicherheitsbündnis beitreten." Und auch in Schweden, ebenfalls ein neutrales Land, ist man in den letzten Wochen der Nato demonstrativ näher gerückt.