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Explosiv, aber vergessen: Der Krieg vor der Haustür

Es war der einzige Krieg, in dem sich die EU je konkret und nicht nur verbal als Friedensmacht versucht hat. Sie ist damit auf ganzer Länge gescheitert: Sie hat den Bosnien-Konflikt seit dem Krieg der 90er Jahre keinen Millimeter einem echten Frieden nähergebracht. Ähnliches gilt für den Kosovo-Krieg, in den die USA eingegriffen hatten. In beiden Teilen Ex-Jugoslawiens ist die Lage heute gefährlicher als jemals seither. Die westlichen Friedenskonzepte, an denen auch Österreich führend mitgefeilt hatte, haben sich als untauglich erwiesen. Gleichzeitig stehen EU wie USA heute schwächer als damals da. Was die Gefahren zusätzlich erhöht. Heute ist niemand mehr imstande oder willens, im Falle offener Auseinandersetzungen von außen beruhigend einzugreifen.

Dennoch wird in Österreich – von der Politik bis zu den Medien – die gefährliche Aufladung der Pulverfässer im Nahbereich komplett verdrängt. Die heimische und die europäische Politik setzen dieser Aufladung seit Jahren nur ein einziges Rezept entgegen: "Kommt alle in die EU herein, dann wird alles gut."

In Wahrheit wissen freilich alle längst, dass das nicht funktioniert.

  • Einerseits hat die EU selbst schon genug Sorgen; die Perspektive eines Tauschs "Großbritannien hinaus, Kosovo, Serbien, Albanien und Bosnien hinein" wird nur noch von besonders schlichten EU-Funktionären als hilfreich angesehen. Selbst fanatische EU-Ideologen spüren, dass das bei den EU-Bürgern zu einer massiven Abwendung führen würde. Die dann noch viel größer würde, wenn die Menschen einmal entdecken, dass die EU dadurch erstmals mehrheitlich islamische Mitgliedsländer hätte.
  • Andererseits ist aber auch klar, selbst wenn es niemand in voller Deutlichkeit auszusprechen wagt: Vor jedem EU-Beitritt muss es eine echte Lösung der zentralen Konflikte geben. Und diese kann nur in einer Anwendung des Selbstbestimmungsrechts bestehen. Sonst wird der Balkan auf ewig mit Blut und Leid verbunden sein. Selbstbestimmung aber ist in der EU ein Tabuwort, das von einigen mächtigen Mitgliedern panisch gefürchtet wird.

In mancher Hinsicht kann man die Lage mit jener im restlichen Europa nach den beiden Weltkriegen vergleichen. Nach dem zweiten Weltkrieg haben brutale Vertreibungen, der Kalte Krieg und der Eiserne Vorhang alles eingefroren. Dann aber gab es durch den österreichischen Staatsvertrag, den deutschen 2+4-Vertrag, die Befreiung der Mittelosteuropäer 1989 sowie die Teilung der jugoslawischen und sowjetischen Reiche in den 90er Jahren einen Triumph für Freiheit und Selbstbestimmung (wenn auch mit schmerzenden Einschränkungen wie etwa Südtirol).

Nach dem ersten Krieg war es ganz anders gewesen. Da degenerierten die in Paris zur Demütigung der Besiegten diktierten "Friedens"-Verträge zum bloßem Waffenstillstand bis zum nächsten Schlachten. Der Hauptgrund des Versagens der Pariser Verträge war, dass das vom amerikanischen Präsidenten Wilson verfochtene Selbstbestimmungsprinzip durch den Chauvinismus der anderen Siegermächte beiseitegeschoben worden ist. Diese wollten Rache an den Besiegten und keinen echten Frieden. Als Folge fanden sich viele Millionen Menschen deutscher oder ungarischer Muttersprache unter fremder Herrschaft wieder.

 Das konnte nicht funktionieren, weil ein echter Friede mit Freiheit und Selbstbestimmung für viele Völker nach Art der späteren Jahre 1955/89/90/91 nicht einmal angestrebt worden ist. Die meisten Politiker bis auf Wilson kannten damals nur das Prinzip der Gewalt im Umgang mit nationalen Konflikten. So waren ja etwa um Elsass-Lothringen gleich drei verheerende Kriege geführt worden, ohne dass dort die Menschen auch nur einmal nach ihrem Willen gefragt worden wären.

Bei Verweigerung der Selbstbestimmung gibt es in den meisten ethnischen Konflikten letztlich nur zwei ganz üble Wege:

  • Entweder zwangsweise Unterdrückung samt brutaler Identitätsänderung.
  • Oder noch brutalere Vertreibungen – wie sie nach dem zweiten Weltkrieg massenweise stattgefunden haben. Wie sie Hitler und Mussolini schon 1939 für Südtirol beschlossen hatten. Wie sie nach dem ersten Weltkrieg von den Türken vorgenommen worden sind.

Was hingegen ab Zerfall der Feudalsysteme nicht mehr funktionieren konnte und kann, das ist die formaljuristische Berufung auf historische Einheiten, wenn diese ethnisch nicht mehr passen. Diese Berufung auf alte Grenzen hat sich etwa in Böhmen und  Mähren für Millionen als katastrophal erwiesen und ist in Hinblick auf die Ungarn in der Südslowakei und Siebenbürgen (Transsylvanien) bis heute Sprengstoff. Und sie ist auch keine Lösungsformel für Bosnien oder Kosovo.

Wobei beim Kosovo absurderweise gleich beide Konfliktparteien eine historische Argumentation versuchen: Die Serben sagen, der ganze Kosovo sei "immer" serbisch gewesen, und ignorieren dabei, dass die große Bevölkerungsmehrheit dort seit langem albanisch ist. Und die Kosovo-Albaner sagen, der Kosovo sei immer eine Einheit gewesen – ohne Rücksicht darauf, dass fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung Serben sind, die noch dazu in relativ geschlossenen Gebieten siedeln (zu denen noch die rund  200.000 nach dem Kosovokrieg vertriebenen Serben zu zählen sind).

Die einzig gute Lösung in dieser gegenseitigen Dauerblockade wäre eindeutig:

  • Serbien anerkennt und respektiert die volle staatliche Unabhängigkeit des Kosovo.
  • Der Kosovo tritt umgekehrt die serbisch besiedelten Gemeinden an Serbien ab.
  • Dasselbe tut Serbien mit drei albanisch besiedelten Gemeinden im Süden, die zum Kosovo gehen dürfen.
  • Das alles geschieht nur, wenn die jeweils betroffene Bevölkerung in sauberen, international organisierten Volksabstimmungen Ja zu einer neuen Staatsidentität sagen.
  • Und ebenso braucht es klare Verträge über die kleineren Restprobleme, die dann noch zu regeln wären, etwa den Minderheitenschutz.

Jedoch: Weder in Belgrad noch in Pristina zeigt man sich zu einer Lösung bereit. Beide Seiten wollen trotz des schrecklichen Kriegstraumas noch immer alles haben.

Aber auch dieser Widerstand wäre überwindbar – oder zumindest überwindbar gewesen, wenn es bei Ende der Kämpfe einen klaren Willen in der EU und in Washington zu einer solchen echten Lösung gegeben hätte. Jedoch den gab es nicht und gibt es nicht, da viele westliche Staaten wegen der Unabhängigkeitsbestrebungen eigener Volksgruppen (von den Basken über die Katalanen und Flamen bis zu den Südtirolern) panische Angst vor jeder Form der Selbstbestimmung haben. Und die Amerikaner haben längst nicht mehr die Ideale, für die sich noch Wilson einzusetzen versucht hat.

Eine ähnliche Entwicklung gibt es in Bosnien. Dort werden sogar drei Volksgruppen mit Gewalt im Rahmen einer von EU-Europa gebastelten Friedensregelung zur Zugehörigkeit zum gleichen Staat gezwungen. Ihnen ist dabei eine unglaublich komplizierte Verfassung aufgezwungen worden, die nur einen kleinen Nachteil hat: Sie funktioniert überhaupt nicht. Man hat naiverweise geglaubt, in der Schweiz leben ja auch drei (oder eigentlich sogar vier) Volksgruppen und zwei einst verfeindete Religionen friedlich und gut beisammen: Warum soll ein ähnliches Modell dann nicht auch in Bosnien funktionieren? Aus diesem Wunschdenken heraus hat man sogar den Schweizer Ausdruck "Kantone" für bosnische Regionen gewählt.

Die Bosnien-Bastler haben nur das Wichtigste übersehen: In der Schweiz funktioniert das alles prächtig, weil diese Volksgruppen völlig freiwillig – meist zum Schutz gegen die angrenzende Außenwelt – zusammengefunden haben. In Bosnien fühlen sich aber sowohl Serben wie Kroaten zusammengezwungen. Ein dramatischer Unterschied.

Die bosnischen Kroaten (die kleinste Gruppe) wären viel lieber Teil von Kroatien und die Serben viel lieber Teil von Serbien. Nur für die zwei bis drei Millionen Bosniaken, also die islamischen Bosnier, gibt es kein Land der Sehnsüchte. Sie sind die relativ größte Gruppe und bestehen auf der Einheit Bosniens. Sie glauben, ohne mehrheitlich serbisch und kroatisch besiedelte Gebiete wäre Bosnien nicht lebensfähig.

Niemand hat auch nur versucht, ihnen zu erklären, dass diese Angst unsinnig ist. Dabei sind sogar noch viel kleinere Staaten lebensfähig. Und zwar sehr gut. So gehören Luxemburg, Liechtenstein oder Singapur zu den überhaupt reichsten (und zugleich friedlichsten) Gebieten der Welt.

Die intervenierende Außenwelt hat stattdessen nach den verheerenden Kriegen zwar – zu Recht – die Zerschlagung der Einheit Jugoslawiens unterstützt, aber zugleich mit allen Mitteln die Einheit der früheren jugoslawischen Teilrepublik Bosnien aufrechtzuerhalten versucht. Zu Unrecht. Denn das war unlogisch. Damit wurde nicht nur den Völkern die Selbstbestimmung verweigert. Damit wurde auch ein dauernder neuer Konfliktherd geschaffen.

Die Fiktion eines einheitlichen Gesamtstaates Bosnien wird durch die Präsenz ausländischer Truppen aufrechterhalten (zuerst der UNO, dann der EU). Und durch eine komplizierte Verfassungskonstruktion, die aus zwei "Entitäten", aus drei theoretisch gleichberechtigten Volksgruppen und aus zehn "Kantonen" besteht, über denen allen ein von außen eingesetzter Bevollmächtigter aus der EU steht, der de jure Rechte eines Diktators hat. Viele Jahre waren dies Österreicher, zuerst Wolfgang Petritsch und dann Valentin Inzko. Das sind zwar honorige Leute – aber dennoch Schlusssteine einer Konstruktion, die das Gegenteil von Freiheit und Selbstbestimmung bedeutet.

In der EU wie im früher relevanten Wien (hier vielleicht auch aus Loyalität zu diesen beiden Spitzendiplomaten) wurde in den letzten Jahrzehnten jedes Nachdenken über Bosnien und jede Kritik an der verordneten Lösung eingestellt, obwohl diese mit absoluter Sicherheit nicht funktionieren kann.

Es ist für die Politik einzig wichtig, dass man vorerst nicht mehr allzu viele negative Nachrichten von dort hören muss. Außerdem galt und gilt dem linksliberalen Mainstream der EU jedes Streben nach Freiheit einer Volksgruppe als abgrundtief böser Nationalismus und Separatismus.

Europa hat stattdessen lange die Unzufriedenheit in Bosnien, im Kosovo wie auch in Serbien dadurch niedrig zu halten versucht, indem es all diesen Völkern ständig die Karotte eines EU-Beitritts vor die Nase gehalten hat.

Durch diese komplizierte und in keiner Weise funktionierende "Lösung" hat der Westen die Chance auf eine echte, menschennahe Selbstbestimmung samt der Möglichkeit von Grenzänderungen vertan, die unmittelbar nach Kriegsende durchzudrücken gewesen wären.

Diese einzige Lösungsmöglichkeit ist inzwischen durch viele Entwicklungen extrem erschwert worden:

  1. Inzwischen ist den Balkanvölkern ziemlich klar geworden, dass sie die versprochene Karotte nie bekommen werden.
  2. Inzwischen hat die EU – abgesehen vom erhofften Geldsegen aus Brüssel und der Freizügigkeit für Arbeitskräfte – für viele Völker gewaltig an Attraktivität verloren.
  3. Inzwischen gibt es in Deutschland keinen Helmut Kohl mit seinem großen Interesse an Osteuropa mehr.
  4. Inzwischen sind aus der Wiener Politik und Diplomatie alle Balkankenner ausgeschieden (die von Mock über Busek bis Rohan und zum Teil auch Schüssel gereicht haben). Es gibt nicht einmal mehr minimale Ansätze einer sachkundigen Balkanpolitik (weshalb es auf dem Balkan auch gewiss keine neuen Straßen mehr geben wird, die nach den Erben von Mock, Genscher oder Kohl benannt werden ...).
  5. Inzwischen sind die Russen aus ihrer Agonie wieder erwacht und stehen – natürlich, wenn auch vorerst noch vorsichtig, – an der Seite der Serben.
  6. Inzwischen sind die USA (nach dem Irak-, Syrien- und Afghanistan-Abzug) keine ernstzunehmende Ordnungsmacht mehr, deren Drohungen und Warnungen noch irgendjemand ernst nehmen würde.

Derzeit sind es vor allem die bosnischen Serben, die nicht mehr mitmachen wollen, die sich mit ihrem Landesteil Schritt um Schritt, Salamischeibe um Salamischeibe vom bosnischen Gesamtstaat lösen. Ihr Ablösungsprozess ist kaum noch aufzuhalten, auch wenn die EU und ihre in Bosnien eingesetzten Statthalter ständig Drohungen aussprechen. Kaum sind sie weg, werden aber auch die derzeit eher ruhigen bosnischen Kroaten mit Sicherheit einen ähnlichen Weg Richtung Zagreb gehen.

Die EU und ihre Diplomaten wollen das natürlich nicht. Denn dadurch stünden sie ja ziemlich blamiert da, weil sie jahrzehntelang einen völlig falschen Kurs verfolgt haben. Dieser kann auch durch die unbestreitbaren einstigen Kriegsverbrechen der Serben nicht gerechtfertigt werden.

Eines Tages wird die Spaltung Bosniens dennoch de facto Wirklichkeit sein. Wie werden aber die verbleibenden Bosniaken darauf reagieren?

Sie werden diese Spaltung wohl hinnehmen müssen – es sei denn, sie riskieren einen neuen Krieg. Bei diesem werden sie aber kaum mehr als die armen Opfer dastehen, sondern als die, die den Krieg begonnen haben (außer die Serben gestalten ihre Abschiedssymphonie ganz dumm).

Nach Wegzug der Serben und Kroaten werden die Bosniaken aber draufkommen, dass man auch als Kleiner gut auskommen kann. Sogar besser als im bosnischen Status quo.

Sollten sie sich jedoch für Krieg entscheiden, dann würde das zu einer ähnlichen Katastrophe führen wie in den 90er Jahren – für alle Menschen in Bosnien und Umgebung. Zu der auch Österreich zählt.

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