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Was will Wladimir Putin?

Welche Motive, welchen Zweck, welche Anlässe haben die seit einigen Wochen aus heiterem Himmel erfolgenden Truppenmassierungen an der ukrainischen Grenze? Alle verfügbaren Informationen und Analysen dazu führen zu einer guten, aber vielen schlechten Nachrichten und zu einer schönen, aber wenig realistischen Utopie.

Die gute Nachricht ist mit aller Vorsicht zu genießen. Aber man kann dennoch davon ausgehen, dass Putin nicht die Absicht haben dürfte, direkt und offensiv in der Ukraine einzumarschieren. Von einem solchen Einmarsch hätte er nichts zu gewinnen. Eine Eroberung der Ukraine oder weiterer Teile von ihr würde auch auf russischer Seite viele Opfer fordern, ist doch einerseits eine Überraschungsaktion wie auf der Krim nicht mehr möglich, und ist andererseits sicher, dass sich die Ukraine erbittert wehren würde. Es würde also auch auf russischer Seite viele Opfer geben. Was schlecht für die Stimmung im Imperium Putins wäre.

Zwar gibt es für Diktatoren, deren Unterstützung mangels wirtschaftlicher Erfolge in der Bevölkerung bröckelt, immer die Versuchung, durch äußere Konflikte von der inneren Lage abzulenken, um die Menschen in einem patriotischen Aufbegehren hinter sich zu sammeln. Aber im konkreten Fall eines Angriffs auf die Ukraine würde es Putin verdammt schwer fallen, die gefallenen russischen Soldaten als Opfer des bösen Westens und nicht seiner eigenen Taten darzustellen. Denn im 21. Jahrhundert kann auch ein Diktator, der Kritiker ins Gefängnis wirft, Journalisten hinausschmeißt, Internet-Plattformen zusperrt  und die westlichen "Sozialen Medien" zensuriert, weniger denn frühere Gewaltherrscher die Untertanen ganz von unabhängigen Nachrichten abmauern.

Überdies wäre es für den Moskauer Machthaber eine wenig erfreuliche Perspektive, plötzlich Millionen ukrainischer Untertanen zu haben, die jahrelang deutlich innerhalb der Grenzen Russlands zeigen würden, dass sie sich als unterdrückte Opfer einer Eroberung fühlen. Und die aber zugleich die Sprache Russlands beherrschen (ob nun als erste oder als zweite Sprache), womit sie diese Botschaft besonders effektiv verbreiten könnten. Für Putin muss es auch klar sein, dass er dann wohl im Rest seiner Herrschaftszeit mit einem neuen Kalten Krieg konfrontiert wäre, in dem er den Russen mit Sicherheit nicht mehr glaubhaft machen kann, dass im Westen alles viel schlechter sei. Auch wenn die Russen bisher keinerlei Hang zu Revolutionen etwa nach französischer Art gezeigt haben, sondern nur Putschs mit Matrosen oder Panzern kennen, so könnte es dann doch ungemütlich für ihn selbst werden.

Wechseln wir zur schlechtesten aller schlechten Nachrichten: Die Geschichte zeigt, dass aus einem Säbelrasseln, wie es jetzt an der ukrainischen Ost- und Nordgrenze stattfindet, allzu leicht ein echter Konflikt werden kann – auch wenn den ursprünglich keine Seite wollte. Aber es genügt irgendeine falsche Einschätzung dessen, was die Gegenseite tut, und schon werden die Säbel nicht nur gerasselt, sondern aus der Scheide gezogen. Woran auch der Umstand nichts ändern kann, dass heute die Säbel viel letaler geworden sind.

Die zweite schlechte Nachricht: Russland ist unter Putin so weit weg von den erfreulichen und positiven Entwicklungen Richtung Demokratie, Rechtsstaat, Anerkennung der Rechte anderer Nationen und friedliche Partnerschaft mit der restlichen Welt, die es unter Gorbatschow und Jelzin genommen hat, dass zumindest in seiner Herrschaft eine Rückkehr auf diesen Weg kaum mehr vorstellbar ist.

Eine solche Selbstbeschränkung, die für diese Perspektive notwendig wäre, würde total der Persönlichkeitsstruktur eines Wladimir Putin widersprechen. Er leidet ganz eindeutig unter den Phantomschmerzen des zwischen 1989 und 1992 erlittenen Machtverlusts des russischen Herrschaftsbereichs, vor allem in territorialer Hinsicht. Dieser territoriale Machtverlust ist im Grunde doppelt schlimm, da es für die Machthaber kein Gerüst ideologischer Phrasen mehr gibt, mit denen sie ihre Herrschaft rechtfertigen könnten. Zugleich sieht Putin, dass Russland wirtschaftlich schwach und unbedeutender denn je ist. Außer Rohstoffen wie Öl und Gas hat Russland nichts zu bieten. Neben diesen Energieprodukten kennt die Außenwelt nur noch Kaviar als russisches Exportprodukt.

Im Zentrum des Systems Putin stehen weder Demokratie noch Ideologie. Dort findet man nur den russischen Nationalismus und zweitens die persönlichen Machtabsicherungsinteressen der Führungsclique. Und sonst gar nichts.

Zum Wesen dieses russischen Nationalismus hat trotz der Größe des Reiches  immer Paranoia gegenüber angeblicher Einkreisung gehört. Das hat schon lange vor der kommunistischen Herrschaft begonnen. So absurd das beim flächenmäßig größten Land der Erde auch klingt, so eindeutig ist doch, dass aus seinen Ängsten heraus immer ein expansives Streben in alle Himmelsrichtungen bis zu den Ufern der Ozeane erwachsen ist. Siehe:

  • Das defensiv argumentierte russische Expansionsstreben ist im Norden heute ganz stark auch in der Arktis nachzuweisen.
  • Im Osten weigern sich die Russen, den Japanern die Kurileninseln zurückzugeben.
  • In Zentralasien war zwar das Meer nicht in Reichweite, dennoch haben sich die Russen über Jahrhunderte mit den vielen dort lebenden Nationen meist islamischen Glaubens angelegt – wenn auch, siehe Afghanistan, nicht immer erfolgreich.
  • Im Nordwesten war Petersburg/Leningrad und der damit verbundene Zugang zu Ostsee und Atlantik unbestritten die strategisch wichtigste Stadt.
  • Und im Südwesten war die Verwandlung des Schwarzen Meeres in eine Art "Mare nostrum" immer zentrales strategisches Interesse.
    - Daher sind die Häfen auf der Krim besonders wichtig und ein Hauptgrund der Krim-Eroberung.
    - Daher reagiert Moskau immer besonders sensibel, wenn westliche Kriegsschiffe einen Abstecher ins Schwarze Meer machen.
    - Daher führt Christopher Clark, der beste Experte für den Ausbruch des ersten Weltkriegs, auch den russischen Kriegseintritt nur zum Teil auf panslawistische Solidarität mit den serbischen Thronfolgermördern zurück, sondern fast noch mehr auf die Sehnsucht Russlands nach dem Bosporus, dem Ausgang des Schwarzen Meeres, der von den mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn verbündeten Osmanen kontrolliert worden ist.

So absurd die russischen Einkreisungsängste auch sind, so sind sie doch real. Zynisch könnte man fast fragen, ob sie nicht genetisch sind.

Daher ist zweifellos die Unabhängigkeit der Ukraine ein besonderer Schmerz für ein Land, das sich noch kollektiv daran erinnert, dass Napoleon wie Hitler in langen – wenn auch für die Eroberer ganz Europas letztlich selbstmörderischen – Kriegszügen bis an den Rand Moskaus gelangt sind. Jeder Blick auf die Landkarte zeigt, dass der Marsch der imaginären Feinde nach Moskau über die Ukraine nun viel kürzer wäre als etwa über Polen.

Der Rest der Welt, der in durch die Bank dramatisch kleineren Ländern lebt, denkt sich dazu zwar: "Wenn man keine Sorgen und Ängste hat, dann macht man sich welche." Aber russische Machthaber fühlen eben so.

Es ist kein Zufall, dass sie gerade jetzt den Zeitpunkt gekommen sahen, ihre Ängste recht martialisch in konkrete Forderungen zu verwandeln. Denn sie sehen ganz offensichtlich den Westen in einer sehr schwachen Position.

  1. Gleichzeitig mit Russlands Aufmarsch werden ja die kriegerischen Gesten Chinas gegen das unter amerikanischem Schutz stehende Taiwan immer aggressiver, wobei offenbleiben muss, ob diese beiden Eskalationen zeitlich sogar abgesprochen worden sind. Damit stehen vor allem die USA plötzlich zwei militärisch und nicht nur atomar mächtigen Feinden gegenüber.
  2. Der amerikanische Präsident Joe Biden wird als schwach eingeschätzt. Vor dem als unberechenbar geltenden Donald Trump hatte man hingegen noch viel mehr Respekt.
  3. In Deutschland ist eine Linksregierung angetreten, die viel pazifistischer denkt als alle früheren Regierungen.
  4. Der britische Premier Johnson steht vor massiven innenpolitischen Problemen.
  5. Die Türkei ist längst kein verlässlicher sicherheitspolitischer Partner der Westeuropäer mehr.
  6. Russland hat mit Syrien und Iran im Nahen Osten zwei treue Alliierte.
  7. Die EU wie die USA sind so gebannt von der Pandemie, dass kaum mehr anderes wirklich bewegt.
  8. Die EU und insbesondere Deutschland haben sich durch die bevorstehende und angesichts der Linksregierung in Berlin irreversibel gewordene Abschaltung von Atom- wie Kohlekraftwerken in eine furchbare Abhängigkeit vom russischen Gas begeben. Bei gleichzeitiger Windstille und Sonnenarmut droht den Deutschen, aber nicht nur ihnen, ein dramatischer Strom-Blackout, den sie nur mit russischem Gas überbrücken können. Daher nimmt Moskau – wahrscheinlich zu Recht – die europäischen Drohungen nicht mehr Ernst, dass als Strafe für einen Angriff auf die Ukraine der russischr Gasexport gestoppt würde ein solcher Stopp wäre für EU-Europa als Folge der Klimapolitik völlig unerträglich.  
  9. Die EU ist als Ganzes in eine existentielle Krise geraten, seit sich die mittelosteuropäischen Mitgliedsstaaten vom Baltikum bis an die Adria vom linksliberalen Mainstream in Westeuropa demütigend behandelt sehen, weil sie nicht zur Aufnahme von "Flüchtlingen" bereit sind, weil sie sich nicht aus Brüssel ihre Haltung zu Homosexualität usw. vorschreiben lassen wollen.
  10. Angesichts dieser Haltung der EU sind mindestens zwei osteuropäische Länder wieder an guten Beziehungen mit Moskau interessiert, die die Kommunisten noch vor wenigen Jahren davongejagt haben.
  11. Und bis auf den Franzosen Macron denkt kein europäischer Staatsmann mehr international und strategisch – und Macron muss sich demnächst einer Wahl stellen.

All diese Entwicklungen dürften Putin veranlasst haben, jetzt die Flucht nach vorne anzutreten, um russische Wünsche durchzusetzen und vor den eigenen Bürgern wieder als international starker Mann dazustehen.

Kuba, Österreich und Südtirol

Wenn man versucht, die russischen Ängste und Sorgen Richtung Ukraine rational zu fassen, dann könnten einem Kuba und Österreich in den Sinn kommen. Diese beiden Länder werden vermutlich auch in den kommenden Diskussionen noch eine bedeutende Rolle spielen, wenn man herauszufinden versucht, was die Russen eigentlich wollen und wie eine Lösung ausschauen könnte.

In der Kuba-Krise 1962 erreichten die Amerikaner mit einer riskanten Aktion, dass die Sowjetunion ihre Atomraketen wieder aus Kuba abzieht. Die USA argumentierten damals damit, dass diese Raketen gefährlich nahe zu ihrem Territorium sind. Das wollten sie nicht akzeptieren, obwohl Kuba eindeutig ein souveräner Staat war und ist.

Eine Minimalforderung Russlands Richtung Ukraine könnte nun in einer umgekehrten Wiederholung des Kuba-Szenarios bestehen, also im Verlangen, dass in der Ukraine keine Offensivwaffen positioniert werden. Diese Forderung hätte insofern auch gewisse Glaubwürdigkeit und würde vielfach auf Verständnis stoßen, weil sie jedenfalls die Sicherheit erhöht.

Kein Verständnis in der Welt und vor allem der Ukraine selbst gäbe es hingegen für die viel weitergehende Forderung, auch das Beispiel Österreichs zu wiederholen. In Österreich war bekanntlich das Versprechen von Julius Raab & Co, dass Österreich sich "aus freien Stücken" für immerwährend neutral erklären wird, für Moskau der entscheidende Anstoß, zehn Jahre nach Weltkriegsende abzuziehen. Dass mit Österreich und der Schweiz ein langer neutraler Keil zwischen die Nato-Länder Deutschland und Italien gezogen wird, hat man damals in Moskau als großen strategischen Vorteil angesehen. Mit diesem Vorbild Österreich hat man überdies auch gehofft, ganz Deutschland aus der Nato herausbrechen zu können.

Aber nicht nur in der Ukraine ist man aus guten Gründen strikt gegen eine Wiederholung des österreichischen Exempels.

  • Erstens weiß man von Kiew bis Washington sehr genau, dass die österreichische Neutralität von Moskau jahrzehntelang benutzt worden ist, um Österreich auch über die rein militärische Dimension hinaus Vorschriften zu machen, wie es sich verhalten solle. Die wichtigste dieser "Vorschriften" war die russische Ablehnung einer EWG/EU-Mitgliedschaft Österreichs. Es ist kein Zufall, dass Österreich es erst 1989 wagte, also im Jahr des Zusammenbruchs des sowjetischen Kolonialreiches in Mittelosteuropa, den Antrag auf volle Mitgliedschaft bei den Brüsseler Institutionen zu stellen. Und selbst damals noch äußerte ein belgischer Außenminister die besorgte Frage, was denn Moskau zu den Wünschen Wiens sagen werde, als ob Russland ein Vormund Österreichs gewesen wäre.
  • Zweitens sieht sich die Ukraine als voll souveränes Land, das selbst frei entscheiden will, ob es irgendeinem Sicherheitsbündnis beitritt oder nicht; die Ukraine ist zu groß, um bereit zu sein, sich von außen Vorschriften machen zu lassen.
  • Und drittens ist es 1955 in Österreich um den Abzug russischer Truppen gegangen. Moskau denkt aber in der Ukraine nach allen Anzeichen nicht an eine Wiederholung des damaligen Abzugs, sondern nur an ein Herausbrechen der Ukraine aus ihren Westtendenzen. Kein Thema scheint hingegen für Putin zu sein, dass der heute von einer Puppenregierung in voller Abhängigkeit von Russland regierte Osten der Ukraine im Donbass seine Freiheit zurückbekäme und dass die russlandtreuen Milizen und ihre russischen Berater von dort abziehen. Dagegen spricht nicht nur der strategische Interesse Moskaus, sondern auch der nationale Stolz: In der Ostukraine gibt es (zum Unterschied vom einstigen Österreich) durchaus eine relevante Anzahl an Menschen, die freiwillig unter russischer Hoheit leben wollen.

Nur in einem solchen Abzug könnte ein Kompromiss in der jetzigen Drohgebärden-Konfrontation bestehen. Denn für die Ukraine wie die USA und die EU-Länder ist es undenkbar, einseitig nur russische Wünsche zu erfüllen, ohne etwas dafür zu bekommen.

Von Russland ist aber bisher weder das Beispiel Österreich noch das Beispiel Kuba direkt angesprochen worden, sondern das Beispiel Südtirol. Das aber ist in Wahrheit demaskierend. Denn Südtirol steht ja nur deshalb unter der Herrschaft Roms, weil Italien es als Beute nach dem ersten Weltkrieg an sich gerissen hat. Gegen den eindeutigen Mehrheitswillen der Bevölkerung, die aber diesen Willen nie in einem Referendum ausdrücken konnte. Daher ist es eine geschichtsverzerrende Lüge, wenn Moskauer Diplomaten offiziell erklären, dass es in Südtirol "eine gerechte und ausgewogene Kompromisslösung" gebe, die ein Vorbild für eine Ukraine-Lösung sein könnte. 

Was aber könnte statt dessen ein funktionierender Kompromiss sein, der die Dauerkrise um die Ukraine beendet? Die beste Form, wie beide Seiten zu einer gesichtswahrenden Lösung kommen, wäre zweifellos ein Selbstbestimmungsreferendum im Donbass und in der Krim. Das würde anstelle der Panzer den Menschen selbst die Entscheidung geben, zu welcher Herrschaft sie gehören wollen. Zum Unterschied von Österreich 1955 ist durchaus offen, ob es nicht Regionen geben wird, die sich für Moskau aussprechen. Das müsste dann auch Kiew akzeptieren. Umgerkehrt müsste aber auch Moskau die Entscheidung der Bürger respektieren.

Dabei kann es natürlich nur um ein wirklich sauberes Referendum unter strenger internationaler Kontrolle gehen, vor dem beide Seiten im ganzen umstrittenen Gebiet Werbung und Versammlungen machen können. Hingegen war das von den Russen nach der Eroberung der Krim durchgeführte Referendum eine Farce – fast so wie jene Abstimmung, die Hitler 1938 nach dem Einmarsch in Österreich abhalten hat lassen.

Saubere Selbstbestimmung? Freiwilliger Abzug russischer Truppen? Gewiss sind das mehr Träume als realistische Szenarien. Aber gerade bei unheilvoll verkeilten Konfliktsituationen ist es immer gut, auch auf friedliche Lösungsmöglichkeiten hinzuweisen, und zu zeigen: Es könnte ja gut gehen, wenn ihr beide nur wolltet!

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