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Auf allen möglichen Ebenen tobt eine schwachsinnige Debatte: Bei welcher Kundgebung sind mehr Teilnehmer gezählt, und bei welcher mehr "falsche" Demonstranten gesichtet worden. Als ob auch nur eine der beiden Fragen irgendeine Relevanz hätte. Dennoch ist weit über Corona hinaus die zunehmende Verlagerung der politischen Auseinandersetzungen auf die Straße Faktum – und sehr besorgniserregend. Dabei wäre die Antwort völlig klar, wie umstrittene Entscheidungen am besten gefällt werden sollten, wie gefährliche Eskalationen zu verhindern wären, und wie sich unsere Gesellschaft idealerweise entwickeln sollte.
Tatsache ist: Sollten Entscheidungen von der Zahl der ausrückenden Demonstranten beeinflusst werden – was ja die Demonstranten offensichtlich glauben und wollen –, dann entwickelt sich die Gesellschaft im Eiltempo Richtung Bürgerkrieg, Richtung Faustrecht . Dabei ist die Zahl der auf die Straße Gegangen selbst bei den größten Kundgebungen immer nur ganz niedrig gewesen, tief unten im Bereich einstelliger Prozentzahlen der Gesamteinwohnerzahl. Die gesichteten Mengen würden in keinem Fall einer politischen Partei den Einzug ins Parlament ermöglichen.
Das ändert aber nichts an der Sorge: Wird verlangt, dass die Beschlüsse demokratisch gewählter Körperschaften durch einen Wettbewerb der Demonstrationsteilnehmerzahlen ersetzt werden, dann entscheidet letzten Endes die Zahl der Gewehre und der kampfwilliger Gewalttäter. Dann ist die übergroße Mehrheit der schweigend Daheimgebliebenen entrechtet und entmachtet – egal, wer auf der Straße gewinnt.
Gewiss, schon mehrmals hat in Österreich der Kampf auf der Straße entschieden. Von 1848 bis 1934 ist die Zeitgeschichte von einer Tradition solcherart entschiedener Konflikte belastet. Gewiss, auch der Großteil der sonstigen Menschheitsgeschichte ist geprägt von mit Gewalt ausgetragenen und entschiedenen Auseinandersetzungen.
Aber der Fortschritt sollte eigentlich keinesfalls in einer Fortschreibung dieser Tradition bestehen. In einer von Christentum und Aufklärung geprägten Welt sollte auch die kranke 90-Jährige, die seit vielen Jahren ihre Wohnung nicht mehr verlassen kann, genauso viel wert sein wie die jungen Burschen, die ihre Rauflust mit irgendwelchen politischen Parolen verquicken, oder wie die mittelalterlichen Frauen, die irgendwelche esoterische Ideen hinausschreien.
Zwar gibt es eindeutig positive Entwicklungen: Der Anteil der nicht durch Alter und Krankheit, sondern durch Mitmenschen, also durch Morde oder Kriege umgekommenen Erdbewohner hat von Generation zu Generation eindeutig abgenommen. Aber diese positive Entwicklung ist kein Naturgesetz. Es besteht immer die Gefahr, dass die positiven Faktoren, die das bewirkt haben, zurückgedrängt werden und in Vergessenheit geraten. Und die Renaissance der Straße vergrößert diese Gefahr.
Daher sei daran erinnert, was die wichtigsten Faktoren der positiven Menschheitsentwicklung gewesen sind:
Es fehlen aber noch wichtige Elemente, die sicherstellen würden, dass auch in Zukunft der Weg weiter in Richtung einer friedlicheren, einer besseren Welt geht. Überdies kann die bisherige Entwicklung auch durchaus eine Kehrtwendung machen, wenn wir übersehen, dass heute die Bürger überall viel differenziertere Ansprüche auf Mitsprache erheben als in der ganzen bisherigen Weltgeschichte. Heute genügt es ihnen längst nicht mehr, alle paar Jahre entscheiden zu können, welcher Politiker herrscht, weil die Menschen ja immer mehr auch für inhaltliche Anliegen kämpfen, die sich oft mit den Positionen verschiedener Parteien decken.
Die für eine friedliche und positive Weiterentwicklung des menschlichen Zusammenlebens wirklich notwendigen Schritte wären:
Diese Anmerkungen haben nur scheinbar weggeführt von den am Beginn angesprochenen Kontroversen um die Pro- und Kontra-Impf-Kundgebungen und von der Sorge, dass diese noch eskalieren könnten. Aber in Wahrheit sind diese sieben Punkte die einzige einer Demokratie würdige Strategie angesichts einer sich aufbauenden Eskalation. Denn die Alternative eines Einsatzes der Polizei funktioniert niemals als Deeskalationsstrategie, auch wenn ihre Aufgabe legitim und notwendig ist, Übergriffe zu verhindern.
Natürlich wäre es schön, wenn wir etwa durch ein neues Weihnachtswunder zu allen gesellschaftlich zu regelnden Fragen göttliche Informationen darüber bekämen, was jeweils die Wahrheit und die richtige Lösung wäre. Ob es nun ums Impfen oder den Bau der Außenringautobahn geht.
Solange wir aber keine solchen Richtungsweisungen bekommen, sind die demokratischen Entscheidungsmöglichkeiten die besten, die wir haben. Und diese werden umso besser und wirksamer sein, je direktdemokratischer sie fallen.
Das Mitleid mit den blauen Impf- und den grünen Autogegnern hält sich hingegen in engen Grenzen, die durch direktdemokratische Entscheidungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine noch viel deutlichere Absage an ihre Forderungen bekämen als jetzt durch entscheidungsschwache Repräsentativdemokraten (die derzeit insbesondere gegenüber den Straßenbesetzern einen jämmerlichen Eindruck machen).
Genauso irrelevant wie die Frage, bei welcher Corona-Demonstration nun mehr Teilnehmer waren, ist auch die Frage, welcher Bösewicht an welcher Demonstration teilgenommen hat. Von Regierung wie Mainstreammedien ist zuletzt vor allem die Teilnahme der Herrn Küssel und Sellner an den Anti-Impf-Kundgebungen als Beweis verkündet worden, dass die Anti-Impfkundgebungen sehr bedenklich seien, da doch beide "Rechtsextremisten" seien.
Jetzt aber haben die beiden Herren auch an dem vom Bundespräsidenten abwärts unterstützten Lichtermeer teilgenommen, das als Gegenveranstaltung zu den Aktionen der Impf-Gegner aufgefasst worden ist. Seither ist dem Mainstream ein wenig die Argumentation ausgegangen.
Dabei sollte vollkommen klar sein:
Aber die Themen Küssel und Sellner sind jedenfalls nur Randfragen. Darüber zu diskutieren geht am Kern der Frage vorbei, wozu es überhaupt Demonstrationen braucht. Denn der Kern einer besseren Welt wäre eine Gesellschaft mit funktionierender direkter Demokratie, mit Meinungsfreiheit und Selbstbestimmungsrecht, in der niemand zu demonstrieren braucht.