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Das Demonstrationsrecht und seine Opfer

Keine Frage: Die Wiener Demonstrationen vom Samstag waren quantitativ eindrucksvoll. Sie haben – auch nach Polizeiangaben – mehr Menschen auf die Straße gebracht, als selbst von den Organisatoren vorher erwartet worden war. Wie ist das zu bewerten?

Nun, so viele es auch waren: Bei nüchterner Analyse sollte man auf dem Teppich bleiben. Denn in einer Demokratie sollte niemals die Menge der Menschen entscheiden, die auf die Straße geht. In einer Demokratie sollte nur die Mehrheit aller erwachsenen Bürger ausschlaggebend sein, die bei Wahlen und – möglichst oft – auch bei Referenden ihre Stimme abgeben (sofern nicht die Demokratie von der Justiz entmachtet wird, was einige europäische und österreichische Oberstgerichte in den letzten Jahren tatsächlich versucht haben, und was auf unterster Ebene die Korruptionsstaatsanwaltschaft tut).

Ein Vergleich verhilft zur richtigen Einordnung: Wenn man die aus ganz Österreich angekarrten Teilnehmer an den Wiener Demonstrationen addiert, dann würde ihre Zahl bei Parlamentswahlen nicht einmal für die Kür von zwei Nationalratsabgeordneten ausreichen.

Kundgebungen, ihre Lautstärke und Aggressivität sollten daher niemals zum Maßstab für irgendwelche Entscheidungen werden. Weder bei den von links kommenden Demos, noch bei denen von rechts. Außerdem sollten sich die rechts stehenden Demonstranten des vergangenen Wochenendes bewusst sein, dass vor und nach der Jahrtausendwende eindeutig die linken Demonstranten die Straße beherrscht und noch weit größere Massen in Bewegung gesetzt haben als heute die rechten.

Dazu sind die Linken aber erfreulicherweise derzeit nicht mehr imstande – abgesehen von den (je nach Herkunftsnationalität) rot- und grün-motivierten Migranten-Demos. Ansonsten muss sich die Linke für ihre hirnbefreiten Äußerungen seit längerem mit gegenseitigem Zujubeln auf Twitter begnügen. Wo aber selbst die Menge der zustimmenden Reaktionen zu den (meist aus der steuer- oder zwangsgebührenfinanzierten Medienszene kommenden) Leithammeln zahlenmäßig nur rund ein Zehntel dessen ausmachen, was jetzt rund um die FPÖ auf die Straße gegangen ist.

Die Kundgebungen der radikalen Impfgegner sind – ganz unabhängig von der Zahl der Teilnehmer – nicht weniger hirnbefreit als die früheren der Linken. Inhaltlich wäre es aber ebenso schädlich für Land und Menschen, würden die Parolen der einen wie auch die der anderen ernst genommen oder gar vom Gesetzgeber umgesetzt werden.

Das gilt etwa für die – pikanterweise aus der Corona-Erkrankung heraus via Video Zuschaltung erfolgte – Behauptung des derzeitigen FPÖ-Chefs Herbert Kickl, dass es in Österreich jetzt eine Diktatur gäbe. Allein das trotz zahlloser Gesetzesverletzungen weitgehend ungehinderte Stattfinden einer so großen regierungsfeindlichen Kundgebung ist ja eine eindeutige Widerlegung der Kickl-Behauptung: In einer Diktatur führen solche Kundgebungsversuche zu Blutvergießen und Massenverhaftungen. Ebenso absurd – und zutiefst geschmacklos – sind die Attacken auf den gegenwärtigen Bundeskanzler Schallenberg, die in einem Vergleich mit einem besonders sadistischen und mörderischen KZ-Arzt gipfelten.

Das klingt so, als ob Schallenberg an der Pandemie schuld wäre oder daran, dass diese nicht und nicht in den Griff zu bekommen ist. Dazu ist nämlich weltweit keine Regierung imstande. Das hat auch dazu geführt, dass haargenau mit der gleichen Intention in den gleichen Stunden dieses Wochenendes total ähnliche, zum Teil noch viel aggressivere Kundgebungen in Zagreb, Rotterdam, Amsterdam, Den Haag, Rom, Sydney und Bratislava stattgefunden haben (und das sind nur jene, von denen ich selber Berichte gelesen habe). Selbst den simpelsten Gemütern unter den Demonstranten müsste auffallen, dass nicht in allen diesen Ländern Schallenberg schuld an was auch immer sein kann.

In Wahrheit hat der über Nacht in dieses Amt gestolperte Diplomat – an dessen politischem Talent ich bisher sehr gezweifelt habe – seine Sache in den letzten Stunden erstaunlich gut gemacht. Er hat den richtigen Tonfall in einer total verkorksten Situation gefunden. Er hat insbesondere seine Entschuldigung richtig formuliert und adressiert – nämlich ganz gezielt nur an die Geimpften, also die eigentlichen unschuldigen Opfer des neuerlichen Lockdowns, die jetzt trotz gegenteiliger Versprechungen nun ebenfalls bestraft werden. Obwohl sie alles getan haben, was sinnvoll war.

Aber weil ein Drittel der Österreicher – aus Faulheit, aus Dummheit, aus Feigheit, oder wegen ihres Glaubens an völlig absurde Gerüchte – sich nicht impfen hat lassen, und weil die Regierung dieses Drittel nicht überzeugen hat können, aber auch weil die Regierung die notwendigen Konsequenzen für dieses unsoziale Drittel einige Monate zu spät beschlossen hat, sind die Geimpften neuerlich Opfer der Pandemie. Aber eben auch Opfer der bei den gestrigen Kundgebungen versammelten Demonstranten.

Das hat daher leider zur unabwendbaren Folge, dass sich die Emotionen der Geimpften gegen die Impfverweigerer immer mehr steigern werden, egal, ob diese nun demonstriert haben oder nicht. So sind mir zum Beispiel aus mehreren Schulklassen schon sehr ungute Polarisierungen berichtet worden, wo sich insbesondere in AHS-Oberstufen der Zorn der Mehrheit gegen die zwei oder drei Impfverweigerer in der Klasse arg gesteigert hat. Und auf Grund des neuerlichen Lockdowns mit seinen – vorerst eher chaotisch wirkenden – Konsequenzen in den Schulen steigert sich dieser Zorn jetzt noch weiter.

Mobbing-Opfer verdienen aber immer Sympathie und Beistand, auch wenn man mit ihren Handlungen nicht einverstanden ist. Sogar besondere Sympathie verdienen jene nichtgeimpften Jugendlichen – und auch da kenne ich zwei Fälle –, die ihrerseits Opfer zerstrittener Eltern sind, die ihren Rosen- beziehungsweise Scheidungskrieg auf dem Rücken der Kinder austragen. Wo der eine Elternteil Hü und der andere Hott sagt (was übrigens ein weiteres Argument gegen die bei manchen entscheidungsfaulen Gerichten modisch gewordene "gemeinsame Obsorge" für die Kinder nach einer Scheidung ist).

Nun heißt das alles aber nicht, dass ich in irgendeiner Weise für eine Einschränkung des Versammlungsrechtes wäre. Ganz im Gegenteil. Dieses ist sogar ein strikt zu verteidigendes Grundrecht (auch wenn ich selbst seit einem halben Jahrhundert prinzipiell an keiner Demo mehr teilnehme, seit ich gespürt habe, dass das Brüllen von Parolen im Chor zwangsläufig zur Ausschaltung des Gehirns führt).

Zwar ist die Meinungsfreiheit als zentrale Folge der Menschenwürde ein noch viel wichtigeres Grundrecht. Aber das Recht, sich mit Gleichgesinnten für welches Anliegen immer zusammenzuschließen und zu demonstrieren, ist ein ganz wichtiger Ausfluss der Meinungsfreiheit. Es sollte niemals von der Obrigkeit eingeschränkt werden dürfen. Diese hat einzig dafür zu sorgen, dass dabei kein Schaden an Personen oder Sachen angerichtet wird. Die mit einer Kundgebung praktisch immer verbundenen Ehrenbeleidigungen und Verwaltungsübertretungen wie etwa nichtgenehmigte Blockaden von Straßen sollten zwar geahndet werden, sofern man der Täter habhaft wird. Sie dürfen aber niemals zur Auflösung einer Kundgebung führen.

Das ist nicht nur ein juristischer Denkansatz. Das Versammlungsrecht ist auch massenpsychologisch ungemein wichtig! Denn die Menschen brauchen einfach ein Ventil innerhalb des Rechtsstaats, wenn Zorn und Frust zu groß werden. Diesen Zorn sollen sie laut hinausschreien können. Jede andere Reaktion wäre viel schlimmer.

Dass die nun fast schon zweijährige Pandemie mit allen Einschränkungen, mit den bisher weltweit erfolglosen Eindämmungsversuchen und mit der höflich ausgedrückt suboptimalen Leistung der Gesundheitsbehörden für Zorn und Frust sorgt, ist nun wirklich nicht überraschend. Dies ist umso mehr der Fall, als sich die meisten Bürger auch in den Mainstreammedien noch weniger wiederfinden können als sonst.

Es bestehen sogar gewisse Hoffnungen, dass die Demonstranten am nächsten Morgen, wenn sie den blutdrucktreibenden Rausch der kollektiven Erregung ausgeschlafen haben, entdecken werden, wie absurd und sinnlos ihre Aufregung war. Wie wenig – bei aller berechtigten Kritik an Details vieler Maßnahmen – ein Herr Schallenberg oder ein Herr Mückstein in Wahrheit an der Pandemie ändern können. Wie wenig man auch den "Experten" ein schuldhaftes Verhalten vorhalten kann, die vor einem halben Jahr durchaus guten Gewissens die Überzeugung verbreitet haben, dass mit der Impfung alles vorbei wäre.

Irgendwann müssen wir alle zugeben – Demonstranten wie Experten –, wie hilflos wir letztlich trotz aller Bemühungen dem Schicksal ausgeliefert sind, das einmal durch Naturkatastrophen, einmal durch eine Pandemie, und noch viel öfter durch individuell letale Erkrankungen zuschlägt.  Wir haben zwar alle die Tendenz, sofort nach Schuldigen zu suchen, die wir etwa in der Zigarettenindustrie, in der Abholzung von Schutzwäldern, in den Chinesen finden. Aber letztlich wissen wir: Trotz aller Bemühungen können wir das Sterben als Ultima ratio unserer Existenz nicht aus der Welt schaffen.

Wir können es nur hinauszögern, was uns auch in sensationellem Ausmaß gelungen ist, hat sich doch in Europa die Lebenserwartung mehr als verdoppelt: durch bessere und ausreichende Ernährung; durch eine Verrechtlichung der zwischenmenschlichen und internationalen Beziehungen; durch eine Verbesserung der Hygiene; durch moderne landwirtschaftliche Methoden; durch Marktwirtschaft und Naturwissenschaft; durch den Einsatz von gebändigter Energie zur Schonung der Menschen; durch einen besseren Schutz von Luft und Gewässern.

Und durch Impfungen gegen sehr viele Krankheiten.

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