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Wer die Mündigkeit der Wähler ignoriert

Die Gewohnheit der Parteifunktionäre, von oben herab Politik zu machen, ist mit den deutschen Wahlen wohl endgültig gegen die Wand gedonnert. Die Wähler lassen sich das einfach nicht mehr gefallen. Wohin aber soll die Entwicklung der Demokratie statt dessen gehen? Es scheint gar nicht so einfach, sich auf ein System zu einigen, mit dem Staaten besser funktionieren könnten. Es gibt jedoch drei erfolgreiche Modelle dafür, die aber nur in wenigen Ländern beziehungsweise Parteien ernsthaft praktiziert werden. Freilich zeigen jene Funktionäre, die weiterhin so wie bisher von oben her Politik machen wollen, absolut keine Lust, Macht und zentrale Entscheidungen aus der Hand zu geben.

Besonders deutlich ist das Scheitern des traditionellen Politiksystems diesmal bei der CDU geworden. Als Langzeitkanzlerin Angela Merkel erkannt hatte, dass sie selbst keine Chance mehr auf Wiederwahl hatte, wollte sie dennoch selbst die eigene Nachfolge selbst regeln. Das war wie ein Testament, das schon zu Leb- und Amtszeiten Merkels wirksam wird. Absurderweise hat sie gleich zwei Alleinerben nacheinander eingesetzt – aber jetzt bekommt keiner das Erbe.

Als Nachfolgerin setzte sie zuerst Annegret Kramp-Karrenbauer ein, und dann – als sie merkte, dass das gar nicht gut ankam, – den jetzigen Wahlverlierer Armin Laschet. Beide Male gab es zwar attraktive Gegenkandidaten, sowohl für den CDU-Vorsitz wie auch für die Kanzlerkandidatur. Aber die Mehrheiten auf CDU-Parteitag und im Parteivorstand haben letztlich gehorsam den Willen Merkels erfüllt. Dabei gab es schon damals eindeutige Meinungsumfragen, dass die Menschen außerhalb der Parteigremien die Kandidaten ganz anders bewerteten. Insbesondere die Herren Merz und Söder schnitten bei den Umfragen regelmäßig viel besser ab als Merkels Lieblinge.

Doch die Parteielite kümmerte das wenig. Für sie war der Wunsch Merkels wichtig. Manche Parteigranden hatten insgeheim auch Angst vor einem zu starken Chef, der ihre diversen Schrebergärten vielleicht gefährden könnte, in denen sie es sich gemütlich eingerichtet haben. Aber auch inhaltlich glaubte die Funktionärsmehrheit, dass die Fortsetzung des Merkel-Kurses durch AKK beziehungsweise Laschet wichtig und richtig sei – auch wenn ein eigener politischer Kurs der CDU/CSU in Wahrheit kaum mehr erkennbar war. Es gab nur noch einen Merkel-Personenkult und ein tägliches Lavieren und Kompromisse-Schließen mit dem linken Koalitionspartner.

Das war in Summe für zu viele ehemalige Stammwähler dann zu wenig. In einer Demokratie des 21. Jahrhunderts lassen es sich die Menschen einfach nicht mehr so wie früher gefallen, dass Führungsfunktionen von der Funktionärsklasse und gegen den eindeutig erkennbaren Willen der Parteimitglieder und Wähler besetzt werden. Das hat sie empört. Und das ist nun zum Waterloo für die Partei geworden.

Das erinnert an manche schon teilweise wieder vergessene Vorgänge in der ÖVP. Dort trat 2014 ziemlich überraschend Parteiobmann Michael Spindelegger zurück; er beklagte sich bitter – wenn auch ohne Namensnennung – über parteiinterne "Intriganten". Man geht wohl nicht ganz fehl in der Annahme, dass er damit nicht zuletzt Reinhold Mitterlehner gemeint hat. Dieser wurde jedenfalls noch am gleichen Tag von den Parteigremien als Nachfolger inthronisiert. Mitterlehner wurde parteiintern auch groß gefeiert. Er erzielte am ÖVP-Parteitag sogar unglaubliche 99 Prozent.

Jedoch: Bei den Menschen draußen, bei den Wählern kam der Mann nie an. Die ÖVP erlitt unter ihm eine Wahlniederlage nach der anderen, wo auch immer damals gewählt wurde. Besonders schlimm wurde es für die Schwarzen, als Mitterlehner den Pro-Migrationskurs von Merkel und Faymann, also der beiden Bundeskanzler in Berlin und Wien, ohne Widerspruch übernahm.

Während die Lage für Mitterlehner und die ÖVP immer schlimmer wurde, wurde gleichzeitig der Ruf nach dem jungen Außenminister Sebastian Kurz als Nachfolger immer lauter, vor allem weil dieser für einen möglichst restriktiven Migrationskurs eintrat. Zwar hatte Mitterlehner nicht ganz Unrecht, als er sich nun seinerseits bitter über parteiinterne Intrigen beklagte, deretwegen er dann 2017 von allen Ämtern zurücktrat. Der große Unterschied zu den Intrigen rund um den Wechsel Spindelegger-Mitterlehner war freilich: Die Rufe nach Kurz waren eindeutig auch Rufe der Wähler, die frühere Mitterlehner-Inthronisierung (und erst recht seine Politik) hat die Wähler hingegen völlig kalt gelassen. Eine Umfrage nach der anderen zeigte, um wieviel besser die ÖVP mit Kurz als mit Mitterlehner abschneiden würde.

Angesichts dieses lauten Rufs nach Kurz konnte dann niemand den Wechsel an der ÖVP-Spitze als Hinterzimmer-Intrige abtun. Und die Wähler waren zumindest einige Jahre auch überaus zufrieden mit ihm.

Die SPÖ hingegen steckt bis heute in der Phase von Steinzeit-Parteien, wo allein die "Gremien" entscheiden, beziehungsweise die – nach einem Scheitern abtretenden – bisherigen Parteichefs. Pamela Rendi-Wagner ist jedenfalls ganz eindeutig eine Kreation von Christian Kern gewesen, die er bei seinem chaotischen Abgang als Erbe hinterlassen hat.

Aber auch die SPÖ wird erkennen müssen, dass sich das System einer Mischung aus Erbfolge und Gremienmacht total überholt hat. Das funktioniert höchstens dann, wenn die Hinterzimmer-Gewaltigen gemäß den Ergebnissen der Meinungsumfragen handeln und mit deren Hilfe darauf schauen, mit wem man Wahlen gewinnen kann. Bei Pamela Rendi-Wagner hat jedoch eindeutig die linke Political Correctness entschieden. Ihre Linie lautete schlicht: "Eine Frau muss es sein". Doch dieser feministische Populismus bewegt zwar die Funktionäre, aber nicht die Wähler. Hätte sich die SPÖ an diesen orientiert, hätte sie eindeutig den Burgenländer Doskozil genommen (als der noch ganz gesund war). Aber Doskozil war der roten Funktionärsschicht halt viel zu wenig links, zu wenig lieb, zu wenig harmlos.

Einen anderen Weg haben die deutschen Sozialdemokraten gewählt, nachdem sie einen unglaublich zermürbenden Wechsel ihrer Parteichefs durchgemacht haben. Allein in den letzten beiden Jahrzehnten hat man sich da ja folgende Namen merken müssen: Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck, Steinmeier, Gabriel, Schulz, Nahles, Dreyer, Schäfer-Gümbel, Schwesig, Esken, Walter-Bojans.

Die beiden letztgenannten haben jetzt gemeinsam die Parteispitze inne. Es musste ein "Team" aus einer Frau und einem Mann sein. Damit macht die SPD einen Unsinn mit, der auch bei den deutschen Grünen immer mehr um sich gegriffen hat: Auch bei den Grünen muss die Partei  immer von einem Duo geführt werden, das immer aus einem Mann und einer Frau besteht. Dieser Quotenzwang erinnert an die lähmenden Jahrzehnte der großen Koalition in Österreich, wo wichtige Positionen im staatlichen Bereich (wenn auch nicht in der Regierung) vielfach doppelt besetzt worden sind: Wo ein Schwarzer eingesetzt wurde, durfte ein Roter nicht weit sein und umgekehrt.

Die deutschen Linksparteien machen neben diesem Gender-Zwang noch etwas anders: Sie lassen die Parteispitze seit einiger Zeit von den Parteimitgliedern wählen. Das klingt demokratisch, das weckt Interesse an einer Parteimitgliedschaft, das hat aber einen gewaltigen Nachteil: Die Mitglieder sind in keiner Weise repräsentativ für die Wähler einer Partei und schon gar nicht für die Wählerschaft im Allgemeinen – aus der man aber bei der Wahl eigentlich neue Unterstützer dazugewinnen will. Das ist nur in Ausnahmefällen so, wie es etwa bei der Kür des Sebastian Kurz der Fall gewesen ist. Bei Rot und Grün kam da hingegen fast immer etwas heraus, was für einen breiten Wahlerfolg deutlich zu links war.

Die deutschen Grünen haben dann die Not gehabt, nur einen der beiden "Parteichefs" zum Spitzenkandidaten machen zu können. Ganz ähnlich wie bei der SPÖ wurde diese Entscheidung parteiintern gemäß der linken Political Correctness – und damit falsch getroffen: Es musste die Frau (Annalena Baerbock) werden und nicht der zumindest den Umfragen nach weit aussichtsreichere Robert Habeck.

Bei den Grünen vermied man freilich einen Fehler, der die CDU nach einer ähnlichen Hinterzimmer-Entscheidung erschüttert hat: Der unterlegene Co-Parteivorsitzende hielt sich zum Unterschied von Markus Söder weitestgehend mit Bemerkungen zurück, dass er eigentlich der bessere Kandidat gewesen wäre. Dadurch wurden die Wähler nicht so vertrieben wie durch die üblen und erst in den allerletzten Tagen eingestellten Intrigen bei der Union.

Die SPD-Funktionäre haben aber bald erkannt, sei zu ihrer Ehre gesagt, dass keiner der beiden von den Mitgliedern gewählten Parteivorsitzenden das Zeug zum Spitzenkandidaten hat. Beide sind unattraktiv und konnten sich nie profilieren – was bei einer Doppelspitze auch extrem schwer ist, wenn du ständig jedes Detail intern abklären musst. Die deutschen Genossen haben sich, wenn auch im Hinterzimmer, nach der genannten langen Reihe von Fehlgriffen jedoch fast durch Zufall für einen Kandidaten entschieden, der dann bei Umfragen zunehmend gut weggekommen ist – und der vor allem im Wahlkampf erfolgreich aufgetreten ist. Freilich dürfte der Erfolg des Olaf Scholz vor allem mit der Schwäche und den schweren taktischen Fehlern der Konkurrenten zusammenhängen.

Diese und andere Beispiele zeigen, was in der europäischen Praxis das relativ erfolgreichste Modell ist: Das ist die bewusste Selbstentmachtung der oft zu sehr auf die eigenen Interessen und Freundschaften schauenden Parteigranden; das ist die Übertragung der Entscheidung an die Umfragen, durch die man die Stimmung der Wähler erfährt. Schließlich sind es am Ende ja auch die Wähler, welche die letzte Entscheidung treffen. Daher sollte man diese schon von Anfang an nicht ignorieren. Das ist nicht populistisch, sondern demokratisch.

Ein zweites erfolgreiches Modell der Entscheidung über Führungspositionen ist das amerikanische Vorwahlsystem. Dieses ist zwar für die Kandidaten quälend und viel unangenehmer als die Entscheidungen einer einzigen langen Gremien-Nacht hinter Polstertüren wie in Europa. Es ist auch aufwendiger. Aber es hat den gewaltigen Vorteil, dass die beiden dabei herauskommenden Kandidaten jeweils schon vor dem eigentlichen Wahltag eine breite Unterstützung gefunden haben. Dabei kann es kaum zu Fehlentscheidungen kommen, wie sie beispielsweise Laschet, Mitterlehner und die vielen SPD-Chefs der jüngeren Geschichte gewesen sind. Das waren Fehlentscheidungen für die jeweilige Partei wie auch die Nation.

Das US-Modell hat zum Unterschied von parteiinternen Vorwahlen überdies auch den Vorteil, dass sich jeder daran beteiligen kann, der sich – ohne Mitgliedsbeitrag oder ähnliches – einfach als Sympathisant einer der beiden großen Parteien in eine Liste einträgt. Das schafft eine viel breitere Entscheidungsbasis.

Für die beiden US-Parteien hat es überdies den Vorteil, dass sie dadurch bisher immer das Aufkommen von dritten, vierten, fünften und sechsten Parteien verhindern haben können. Das ist zwar unangenehm für Möchtegern-Parteigründer. Das tut aber der Effizienz eines Systems extrem gut. In den USA müssen sich neue Trends und Ideen halt statt über Parteineugründungen über die Vorwahlen in einer der beiden Parteien durchsetzen. Was ihnen auch immer wieder gelungen ist.

In Amerika gibt es dadurch immer eine klare Entscheidung, wer Präsident wird. Dieser hat in vielerlei Hinsicht die alleinige Macht, selbst wenn im Kongress die andere Partei die Mehrheit haben sollte. Die USA ersparen sich dadurch vor allem die immer mühsamer werdende Suche nach einer Koalition.

Diese Koalitionssuche wird hingegen jetzt in Deutschland über viele Wochen oder gar Monate das Land lähmen. Aber auch in Österreich sehen wir – wie am letzten Sonntag – immer öfter das Entstehen immer neuer Parteien, während die alten zwar schrumpfen, aber keine von ihnen eingeht. Selbst die KPÖ feiert eine Wiederauferstehung. In manchen europäischen Ländern hat es sogar Jahre gedauert, bis eine Regierungsmehrheit gefunden ist. Länder wie Italien sind seit Jahrzehnten dafür bekannt, dass dort alle ein bis zwei Jahre eine schwere Krise das Land lähmt und zur mühsamen und langwierigen Suche nach einer neuen Regierung zwingt.

Das dritte effiziente und demokratische Modell geht in eine ganz andere Richtung: Das ist das Schweizer Modell der direkten Demokratie. Auch dieses Modell bedeutet eine massive Entmachtung der politischen Funktionärsklasse und einen dramatischen Machttransfer zum Souverän, also zu den Bürgern.

Damit ist in der Schweiz die für manche Länder so dramatisch gewordene Entfremdung zwischen politischer Klasse und Staatsbürgern fast unmöglich. Denn dort können die Stimmbürger absolut jede Sachentscheidung an sich ziehen, und daher ist es dort auch viel weniger heiß umkämpft, welche Personen in der Regierung sitzen. Dementsprechend gibt es dort seit Jahrzehnten sogar immer ohne langen Streit die gleiche Vierparteienregierung.

Ob Demoskopie, ob offene Vorwahlen, ob direkte Demokratie: Staaten, die zukunftssicher überleben wollen, die die Identität zwischen Staat und Bürgern bewahren wollen, sollten ihre Systeme in eine dieser Richtungen weiterentwickeln.

Sie sollten. Jedoch mag das die herrschende Klasse der Parteifunktionäre gar nicht gern tun. Wer gibt schon gern auf Dauer die (vermeintliche) Macht aus der Hand ...

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