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Und was ist, wenn Sebastian Kurz nicht mehr …?

Vielen ÖVP-Wählern ist in den letzten Stunden und Tagen zum ersten Mal, aber dafür gleich brennend heiß die bange Frage gekommen: Was ist, wenn plötzlich Sebastian Kurz nicht mehr zur Verfügung stehen sollte? Die langandauernde "Sommergrippe" des Parteichefs macht ihnen gleich zweierlei bewusst: Einerseits, wie gewaltig der Druck ist, der auf Kurz lastet, der aus vielerlei Gründen viel größer ist als bei den meisten seiner Vorgänger. Und andererseits, dass sich angesichts der Jugend und der bisherigen Erfolge des ÖVP-Chefs bis vor wenigen Tagen noch absolut niemand über die Frage einer eventuellen Nachfolge für Kurz den Kopf zerbrochen hat. Umso hektischer haben jetzt hinter etlichen ÖVP-Türen erste Diskussionen über die Notfallsvariante "Wir müssen ohne Kurz weitermachen" begonnen (mit nachträglicher Ergänzung).

Nun hoffen wir, dass Kurz bald wieder voll zur Verfügung steht. Immerhin wollen – trotz des leichten Rückfalls im Frühjahr – noch immer mehr als doppelt so viele Österreicher (nämlich 29 Prozent) den Wiener als Bundeskanzler wie irgendeinen der übrigen Parteichefs. Das ist sensationell hoch – insbesondere im Vergleich zu Deutschland und vielen anderen westeuropäischen Ländern. So erreicht der CDU-Spitzenmann Armin Laschet nicht einmal die Hälfte der persönlichen Werte von Kurz und liegt weit hinter SPD-Mann Scholz zurück und gleichauf mit der Grünen Baerbock.

Tatsache ist, dass Kurz einerseits einer der begabtesten Politiker ist, die Österreich seit langem gehabt hat. Er findet vor allem in der Kommunikation mit dem Wähler fast immer den richtigen Ton. Und er hat in Sachen Migration dem Mut zu einem absolut historischen Kurswechsel gehabt.

Andererseits ist es ebenso – eine eng mit seinen Erfolgen zusammenhängende – Tatsache, dass das System Kurz so stark allein auf den Spitzenmann zugeschnitten ist, wie es seit den Zeiten Bruno Kreiskys bei keiner Partei mehr der Fall gewesen ist. Das schafft eine ungeheure Belastung, auch für einen überaus sportlichen und jungen Mann wie Kurz. Noch dazu hat Kreisky zum Unterschied von Kurz mit seiner Partei alleine regieren können, während die Koalition mit den Grünen wohl am besten mit der Umformulierung eines alten Filmtitels zu charakterisieren ist: "Der Todfeind im eigenen Ehebett".

Kurz hat allerdings auch den Vorteil, dass er in der eigenen Partei viel weniger Opposition hat als Kreisky einst in seiner – ein Fall Hannes Androsch ist Kurz zumindest bisher völlig erspart geblieben. Othmar Karas, den bekanntesten Kurz-Gegner, nimmt nur Karas selber ernst, ähnlich verhält es sich bei einer bisweilen gegen Kurz stänkernden Tiroler Landesrätin. Ein wenig bedenklicher für Kurz ist da schon, dass der Tiroler Landeshauptmann Platter geschmackvollerweise ausgerechnet während der Kurz-Erkrankung begonnen hat, sich an Kurz als angeblich Schuldigen an den Corona-Vorfällen des Vorjahres in Ischgl abzuputzen. Aber auch Platter wird außerhalb Tirols eher belächelt.

Die Stärke von Kurz hat aber auch ihre Schattenseiten: Es ist alles personell wie inhaltlich so total auf ihn als Brennpunkt der gesamten ÖVP aufgestellt, dass praktisch keine ernstere Sachentscheidung ohne ihn fällt. Daher geht dort, wo er sich um die Sachfragen nicht kümmern kann oder will, ziemlich wenig voran, werden kaum noch wahrnehmbare Akzente gesetzt. Besonders fällt das in jenen Bereichen, wo er früher selbst zuständig war, auf: bei Außen- und EU-Politik ebenso wie bei der Migrations- und Integrationspolitik. Gewiss agiert Bildungsminister Faßmann bisweilen eigenständig – aber schon dafür wurde er von Kurz intern getadelt: Denn es sei ja nicht Faßmann, sondern nur Kurz, der Wahlen gewinnen müsse, wurde dem Bildungsminister klargemacht.

Überdies ist die Arbeitskapazität von Kurz als Bundeskanzler in dieser Regierung nicht nur durch die Vielfalt europäischer und österreichischer Sachthemen und den immer schwierigen Umgang mit einem Koalitionspartner stark in Anspruch genommen worden, sondern auch durch die Corona-Pandemie, die ja mehr als ein Jahr lang alles überlagert hat. Da mussten und müssen oft in mühsamer Detailarbeit viele sachliche Fragen ausdiskutiert und koalitionsintern harmonisiert werden. Da blieb kaum noch Politik-Zeit für andere Bereiche, auch nicht die, die eigentlich zum Markenkern einer liberalkonservativ-christdemokratischen Partei gehören müssten. Wie etwa Gesellschaftspolitik, Familienpolitik, Sanierung des Pensionssystems, Verteidigungspolitik, Rechtspolitik.

Da rächte es sich zunehmend, dass Kurz bei der Auswahl jener Menschen, die er in Führungsaufgaben in Partei, Fraktion und Regierung oder auch nur als Mandatare geholt hatte, zu viel Akzent auf Loyalität (neben dem richtigen Geschlecht) gelegt hat, und zu wenig auf Kompetenz, Argumentations- und Führungsqualität.

In der Geschichte kann man immer wieder beobachten, dass sich auch überragende Männer in Spitzenfunktionen bisweilen gefährlich überschätzen. Ein ähnlicher Vorgang hat bei Kurz etwa dazu geführt, dass er sich auf seine Aussagen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss schlecht vorbereitet hatte. Denn dort hat er auf die Frage nach Gesprächen mit Thomas Schmid über dessen Bestellung zum Vorstand der Verstaatlichtenholding ("Haben Sie mit ihm nie darüber gesprochen, dass er das werden könnte?") missverständlich geantwortet: "Nein, es war allgemein bekannt, dass ihn das grundsätzlich interessiert, und es war sicherlich auch so, dass immer wieder davon gesprochen wurde, dass er ein potenziell qualifizierter Kandidat wäre."

Dieses Wort "Nein" war zweifellos unrichtig und ist ja auch durch den zweiten Teil der Antwort inhaltlich völlig konterkariert worden, weshalb Kurz es später auch wieder aus dem Protokoll streichen lassen wollte. Was ihm die Opposition aber infamerweise verwehrt hat (obwohl im Parlament sonst Protokolländerungen ständig üblich sind). Deshalb konnte dann die von Kurz zuvor als Teil von roten Netzwerken kritisierte Korruptionsstaatsanwaltschaft begeistert die Gelegenheit ergreifen, gegen Kurz (nach einer Strafanzeige durch die Neos, die sich ja ganz als Erben von Peter Pilz profilieren)  wegen falscher Zeugenaussage ein strafrechtliches Kesseltreiben einzuleiten. Dabei wäre ja gar nichts dabei gewesen, weil es ja eigentlich Teil der Aufgaben eines Regierungschefs ist, wenn Kurz offen gesagt hätte: Natürlich habe ich mich dafür interessiert, wer die Verantwortung über die Staatsindustrie übernimmt und auch mit Schmid darüber gesprochen, der das ja auch dann sehr gut gemacht hat. Aber die Entscheidung hat der rechtlich zuständige Aufsichtsrat getragen." 

Corona, die Hetzjagd der linken Staatsanwälte, das schwierige Koalitionsmanagement und die total auf ihn ausgerichtete Struktur der ÖVP haben jedenfalls zu einer gewaltigen, auch psychischen Belastung für Kurz geführt. Das alles ruft in Erinnerung, dass es schon zwei ÖVP-Chef gegeben hat, die unter der schweren Belastung kollabiert und ganz oder fast zurückgetreten sind – auch wenn man sich bei Josef Klaus wie Sepp Pröll in der ÖVP immer bemüht hat, die wahren (bei Pröll auch mit dem Privatleben zusammenhängende) Gründe zu bemänteln.

Was aber ist nun wirklich, wenn mit Kurz etwas Ernsteres passieren sollte, was ja etwa auch bei einem Unfall jederzeit passieren könnte?

Dann ist guter Rat für die ÖVP teuer. Sowohl in inhaltlicher wie personeller Hinsicht wäre sie dann – in wörtlicher wie übertragener Hinsicht – kopflos.

Inhaltlich stehen eigentlich nur zwei wichtige Eckpfeiler für die Zeit danach fest:

  • Der migrationskritische Kurs von Kurz wird zweifellos fortgeführt werden, wenn auch nicht mit seinem Mut; niemand in der ÖVP will den diesbezüglichen Fehler von Reinhold Mitterlehner wiederholen.
  • Die ÖVP wird zweifellos auf einem wirtschaftsfreundlichen Kurs bleiben.

Völlig offen ist hingegen – und würde vermutlich auch schwierige parteiinterne Konflikte auslösen:

  • wie sich ohne Kurz das Verhältnis zu den anderen Parteien entwickelt, hat dieser doch sowohl mit SPÖ wie FPÖ de facto gebrochen, was ein Nachfolger eventuell sogar ins Positive hin sanieren könnte;
  • wieweit die ÖVP auf den Klimapanik-Kurs der Grünen einschwenkt – Kurz hat sich da auffallend zurückgehalten, aber die Mainstream-Medien machen gewaltigen Druck zur Unterstützung der Grünen, was auch eine kopflos gewordene ÖVP zu einem fatalen Fehler treiben könnte;
  • ob die ÖVP in den oben genannten liberalkonservativen Defizit-Themen endlich wieder aktiv zu werden;
  • wie sich Österreich außenpolitisch verhält, da doch auch in Deutschland im Herbst die Karten neu gemischt werden, und da sich die Kluft zwischen den mitteleuropäischen Nachbarn und der EU ständig weiter verschlechtert – auch da hat sich Kurz sehr zurückgehalten, was aber nicht auf Dauer gehen wird.

In all diesen inhaltlichen Fragen lauern bei den kleinsten Fehlern einer Nach-Kurz-ÖVP umgekehrt Chancen für die FPÖ auf eine politische Wiedererweckung und die Rückkehr in die 30-Prozent-Region, nachdem sie ja gleich zweimal in den letzten beiden Jahren Beinahe-Selbstmord begangen hat.

Aber auch personell steht im Falle eines plötzlichen Kurz-Rücktritts gar nichts fest. Denn rund um ihn hatte niemand die Chance – oder auch die Fähigkeit – zu zeigen, dass er ein Alphatier sein kann, dass er Charisma und Führungsqualitäten hat.

Aus den Bundesländern hat absolut niemand Lust, nach Wien zu gehen. Dazu ist das Landesfürstendasein viel zu bequem und schön. Und selbst wenn einer Lust hätte, gibt es niemanden, der über die eigenen Landesgrenzen hinaus parteiintern auch nur die geringsten Chancen hätte. Auch aus der Parlamentsfraktion oder dem Parteisekretariat ist niemandem ein eventueller Sprung an die Parteispitze zuzutrauen. Da hat sich absolut niemand auch nur einen Millimeter profilieren können.

Wer aber sonst? Einer muss es ja machen. Mit ziemlicher Sicherheit wird eine im Notfall notwendig werdende Kurz-Nachfolge unter den folgenden vier Namen zu finden sein:

  • Gernot Blümel;
  • Karoline Edtstadler;
  • Karl Nehammer;
  • Wolfgang Sobotka.

Vor nicht allzulanger Zeit wäre Blümel als engster politischer Partner von Kurz eine gesetzte Bank gewesen. Aber ihm schaden zweifellos – auch wenn es niemand offen sagen wird – die Aktionen von Ausschuss, Verfassungsgericht und WKStA. Vor allem schadet Blümel jedoch parteiintern die Tatsache, dass er sich in dem von ihm geführten Wiener Wahlkampf nicht als wählerattraktiv erwiesen hat.

Nehammer wiederum wäre ein zu kantiger Vertreter eines Law-and-Order-Kurses, den jedoch etliche der ÖVP-Funktionäre scheuen.

Also dürften Sobotka und Edtstadler bleiben: Beide haben zumindest das Potenzial zu einer Spitzenrolle, was freilich schwer zu bewerten ist, solange sie nie eine solche auch wirklich ausgeübt haben. Beide haben jedenfalls in mehreren wichtigen Politikfeldern persönlichen Kompetenz erworben und auch Standfestigkeit in Konflikten gezeigt. Einziger Unterschied: Sobotka wäre wohl eher ein linker Akzent, Edtstadler ein rechter.

Wer auch immer von den beiden es werden sollte: In Sachen Kommunikation und Ausstrahlung reicht zumindest vorerst keiner an Sebastian Kurz heran.

Der Fall Chorherr

Ganz unabhängig von der Kurz-Genesung sollte man sich in der ÖVP jedenfalls eine Hoffnung nicht machen: dass die von den linken Kampftruppen in der WKStA gestarteten Strafverfahren bald zu einem Ende oder zumindest zu einem Prozess vor unabhängigen Gerichten kommen werden, der Schluss mit der Dauertortur machen würde. Das wird wohl weder in Hinblick auf Kurz noch Blümel noch all die anderen geschehen, bei denen die Korruptionsstaatsanwaltschaft geglaubt hat, eine Unkorrektheit gefunden zu haben.

Denn die WKStA ist nicht nur durch ihren Politikerhass geprägt, sondern auch durch totale Unfähigkeit. Letztere haben schon Tausende Österreicher zu spüren bekommen, die von der WKStA – auch ohne politischen Zusammenhang – über Jahre verfolgt und damit schwer geschädigt worden sind, ohne dass es jemals zu einer Verurteilung gekommen wäre.

Diese Unfähigkeit ist jetzt an einem neuen Fall augenfällig geworden. In diesem Fall trifft sie sogar einen Parteifreund der Justizministerin, nämlich den früheren grünen Parteiobmann und langjährigen Wiener Planungssprecher Christoph Chorherr. Dieser hatte für einen ihm sehr nahestehenden Entwicklungshilfeverein unter anderem auch bei der Immobilienbranche heftig Spenden eingesammelt, obwohl er damals großen Einfluss auf diverse Genehmigungsverfahren des Immobilienbereiches hatte.

Das war politisch zweifellos ein schwerer Fehler. Ob es auch rechtlich ein Delikt war, das prüft diese WKStA nun schon 5 – in Worten: fünf – Jahre lang! Dabei ist der Sachverhalt unbestritten. Es geht letztlich nur um die rechtliche Qualifikation.

Doch die grüne Justizministerin hat die einzigen beiden Männer, die da Druck auf die WKStA auszuüben versucht haben, schneller und besser zu werden, kalt gestellt und durch irrelevante Personen ersetzt, welche die WKStA jetzt ungehindert Amok laufen lassen.

In Sachen Kurz könnte das nun sehr wahrscheinlich heißen, dass die WKStA-Genossen unter dem Schutz einer völlig überforderten (oder mit ihnen sympathisierenden) Justizministerin das Verfahren locker auch über die nächste Wahl hinausziehen, um den größtmöglichen politischen Schaden anzurichten.

Das muss sich zu einer schier unerträglichen psychischen Belastung für Kurz auswachsen.

Ich selbst hätte in dieser Situation jedenfalls längst alles hingeschmissen. Und mich mit der bitteren Erkenntnis abgefunden, dass Österreich in etlichen Bereichen halt kein Rechtsstaat mehr ist und mich wieder aufs Tennisspielen konzentriert.

Diese Erkenntnis muss für Kurz sogar doppelt bitter sein, da er ja selbst das Justizministerium einer linksradikalen Grünen übergeben hat, und dass er selbst davor einen unfähigen Mann aus der eigenen Partei dorthin platziert hatte (der jahrzehntelang nichts mit Straf- oder Zivilrecht zu tun hatte, sondern nur mit öffentlichem Recht – welches aber nichts mit diesem Ministerium zu tun hat!).

So könnte es sein, dass auch der talentierteste Politiker Opfer – nur scheinbar kleiner – eigener Fehler zu werden droht.

Nachträgliche Ergänzung: Mittlerweile hat sich Kurz zumindest über Facebook wieder gesund gemeldet. Was freilich an all den durch seine Erkrankung ausgelösten Überlegungen nichts ändert.

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