Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (13 Euro pro Monat/130 pro Jahr) ist jederzeit beendbar und endet einfach durch Nichtzahlung. 

weiterlesen

Latein, die Briten und die Klassenunterschiede

Man ist sich jahrzehntelang als hoffnungslos verzopft vorgekommen, wenn man den Wert der lateinischen Sprache auch nur zu erwähnen versucht hat. Doch neuerdings fühlt man sich gar nicht mehr so alleine mit dieser Überzeugung.

Denn in Großbritannien wird auf breiter Front Latein wieder als Schulfach eingeführt. Während dort die Sprache der alten Römer seit längerem fast nur noch in Privatschulen Unterrichtsgegenstand gewesen ist, wird sie künftig auch wieder an staatlichen Schulen angeboten. Und zwar erfolgt die Einführung, so Gavin Williamson, der Bildungsminister der konservativen Regierung, mit besonderem Schwerpunkt auf sozial schwache Gegenden.

Das ist ein begeisterndes Konzept. Das zeigt einen Versuch, die gerade in Großbritannien traditionell deutlichen Klassenunterschiede zu reduzieren, der so ganz anders ist als das in Mitteleuropa Gewohnte: Die Unterschiede werden nicht nach sozialistischer Art durch Nivellierung nach unten, durch Reduktion der Leistungsanforderungen reduziert, sondern ganz im Gegenteil durch erhöhte Leistungsansprüche, durch ein Upgrading für Kinder aus benachteiligten Wohnvierteln, denen dabei aber gezielt geholfen wird.

Williamson begründet das auch ganz offen so. "Wir wissen, dass Latein den Ruf hat, ein elitäres Fach zu sein, das nur wenigen Privilegierten vorbehalten ist. Aber das Fach kann jungen Menschen so viele Vorteile bringen, also möchte ich diese Kluft beenden."

Das ist ein typisch konservativer Ansatz. Man hilft gezielt begabten jungen Menschen, indem man ihren Zugang zu anspruchsvollen Inhalten fördert. Linke Ansätze versuchen hingegen genau das Gegenteil: Sobald es etwas gibt, was nicht alle schaffen, was Unterschiede zeigt, wird es eliminiert.

Genau das ist in unserem Schulsystem in den letzten Jahrzehnten durch "fortschrittliche" Reformen, durch Beseitigung von angeblichem "Müll" auch unter "schwarzen" Ministern passiert – und im britischen noch viel intensiver. Daher braucht es wohl einen besonders mutigen und unkonventionellen Mann wie den britischen Premier Boris Johnson, um der Dekonstruktion des Lateinischen entgegenzuwirken.

Dinge wie Latein zu eliminieren, war längere Zeit den vermeintlich "fortschrittlichen" Reformern besonders leicht gelungen, da der Nutzen der Sprache nicht unmittelbar auf der Hand liegt.

Dabei ist der Nutzen ein gewaltiger – auch wenn man keinem alten Römer auf der Straße begegnen wird, mit dem man sich jetzt auf Lateinisch unterhalten könnte. Aber der Wert des Erlernens von Latein ist dennoch sogar ein doppelter: Er liegt sowohl in der Sprache an sich als auch in der durch sie verkörperten Kultur.

Die Sprache

Die lateinische Sprache ist eine faszinierende Konstruktion sprachlicher Präzision und imponierender Knappheit. Sie ähnelt unter allen Sprachen durch ihren logischen Aufbau der Mathematik weitaus am meisten, also der zentralen Grundlage aller naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen. Sie ist ein prickelndes Glasperlenspiel und Gehirntraining.

Latein ist für all jene, die sich mit dieser Sprache etwas intensiver befassen, auch der beste Lehrmeister, die eigene Sprache besser zu verstehen. Was man einst quasi mit der Muttermilch erworben hat, wird vielfach erst durch das Lateinlernen in seiner Konstruktion geistig durchdrungen. Meine Erfahrung zeigt mir (ohne leider empirische Daten dazu zu kennen), dass jeder, der Latein kann, sich auch in der eigenen Sprache viel präziser ausdrücken kann. Das gilt vor allem für die meisten europäischen Sprachen, die aus dem Lateinischen hervorgegangen oder durch Latein stark beeinflusst worden sind.

Darin liegt wohl auch ein Grund, weshalb die katholische Kirche Latein bis heute so intensiv pflegt.

Die römische Kultur

Noch stärker ist der Wert von Latein in den mit der Sprache verbundenen kulturellen Dimensionen.

So sind die modernen Rechtssysteme Europas ohne das römische Recht überhaupt nicht denkbar. Das gilt auch für die angelsächsische Rechtskultur, wenngleich diese oft als Gegensatz zur kontinentalen dargestellt wird. Das römische Recht ist bis in die Anfänge der Neuzeit hinein weiterentwickelt worden, bis 1453 geschah das über das oströmisch-griechische Reich von Konstantinopel. Es hat die atavistischen Rechtsfiguren der germanischen Stämme weitgehend überlagert, die bei weitem nicht die Qualität des römischen Rechts kannten, um ein funktionierendes Wirtschaftsleben zu ermöglichen. Erst die Aufklärung hat Ende des 18. Jahrhunderts dann begonnen, das römische Recht komplett durch vom Staat verordnete Gesetze zu ersetzen. Aber auch ihr Denken war weiterhin stark durch das lateinische Recht beeinflusst.

Bis heute kommt kaum ein Jurist ohne lateinische Redewendungen aus, weil diese immer wieder Rechtsfiguren mit brillanter Präzision und Knappheit zusammenfassen. Wie: "Do ut des", "Lex posterior derogat legi priori", "Mater semper certa est", "Ne bis in idem", "Ultra posse nemo obligatur", "Nulla poena sine lege", "Quod non in actis, non in mundo", usw.

All das sind bis heute eherne Rechtsprinzipien.

Gerade in Zeiten einer dramatisch verfallenden Rechtskultur, wie sie sich zuletzt insbesondere in den Amokläufen im und rund um den Parlamentsausschuss gezeigt hat, ist allein schon das Wiederbewusstmachen der größten Rechtskultur der Geschichte ein ganz wichtiger Wert.

Aber die lateinische Sprache dominiert nicht nur das Rechtswesen. Besonders wichtig ist sie auch in der Philosophie, in der christlichen Theologie, in der Geschichte, in vielen Ausdrücken der bürokratischen und der Alltagssprache. Wieder nur ein paar aus Hunderten und Tausenden Beispielen: "Primus inter pares", "Cogito, ergo sum", "Cuius regio, eius religio", "Curriculum vitae", "De facto", "O tempora, o mores", "Deus ex machina", "Difficile est satiram non scribere", "De mortuis nihil nisi bene", "Legibus solutus", "Viribus unitis", "Urbi et orbi", "Sic transit gloria mundi", "Pro domo", "Nolens volens", ...

Auch viele Ausdrücke der Naturwissenschaft, der Medizin und der Pharmazie wären ohne Latein völlig unverständlich und würden einen großen Übersetzungsbedarf auslösen.

Latein ist über Jahrtausende die globale Lingua franca gewesen. Auch die Versuche, das Französische international aufzuwerten, konnten die Stellung der lateinischen Sprache kaum beeinträchtigen. Heute ist zwar sicher die englische Sprache globale Lingua franca. Aber deren internationale Dominanz hat sich erst im 20. Jahrhundert wirklich durchgesetzt.

Englisch ist durch die Divergenz zwischen Schrift und Aussprache, durch die weit auseinanderfließenden Sprach- und Sprechgewohnheiten zwischen britischem, amerikanischem, indischem oder nigerianischem Englisch (um nur ein paar Varianten zu nennen) eigentlich gar nicht sonderlich gut für die Rolle als Weltsprache prädestiniert. Aber es hat sich dennoch wegen der politischen, kolonialen und militärischen Macht der Angelsachsen durchgesetzt.

Das ist etwa in Mitteleuropa rund um die Wendezeit 1989 besonders anschaulich geworden: Damals haben viele Intellektuelle bei uns intensiv gepredigt, dass jeder eine Sprache Mitteleuropas lernen soll. Das hat sich inzwischen aber als völlig überflüssig erwiesen. Denn sobald Österreicher, Polen, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Litauer, Kroaten usw. zusammenkommen, wird ganz automatisch Englisch geredet. Nur hie und da stellt sich heraus, dass es noch eine zweite gemeinsame Sprache gibt. Was dann meist – wenn auch selten – das Deutsche ist.

Eine Bildungspolitik, die unseren Kindern etwas Gutes tun will, setzt zweifellos den österreichweiten Erwerb eines guten Englisch an die erste, aber den eines guten Latein, der anderen, jahrtausendelang einzigen und bis heute wirkmächtigsten Weltsprache, an die zweite Stelle. "Alles andere ist primär", hätte ein der lateinischen Sprache unkundiger Exfussballer dazu gesagt. Und vermutlich das Gegenteil gemeint ...

Angesichts dieser Hierarchie der Weltsprachen tun sich die Briten natürlich leichter, Latein wieder aufzuwerten. Denn sie haben ja schon die wichtigste Weltsprache gut drauf.

PS: Ich selbst habe einst neben Latein auch Altgriechisch gelernt und viel Freude mit dem Zugang zur griechischen Literatur, Dramatik und Philosophie gehabt. Dennoch würde ich Griechisch heute eher nicht mehr empfehlen. Denn die Bedeutung des Englischen und des Lateinischen für heute ist zumindest zehnmal größer.

zur Übersicht

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)

Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print




© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung