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Wir müssen auf diesem Planeten mit einer ganzen Reihe schwer krimineller Staaten zusammenleben. Das konfrontiert die freie, demokratische Welt mit einer großen Herausforderung: Wie sollen wir mit solchen Staaten umgehen? Wo liegen rechtlich, politisch und moralisch akzeptable Strategien, die zweifellos irgendwo zwischen dem Führen von Kriegen wie gegen den Nationalsozialismus und dem gleichgültigen Ignorieren aller Verbrechen liegen sollten? Nicht einmal innerhalb der EU ist dazu ein wirklicher Konsens herstellbar, geschweige denn die so notwendige Einigkeit mit den anderen demokratischen Rechtsstaaten. Einige grundsätzliche Überlegungen dazu, warum bestimmte Unrechtsstaaten die schlimmsten und gefährlichsten sind, sowie zum Instrumentarium, das die demokratische und von Rechtsstaatlichkeit geprägte Welt gegen diese Staaten einsetzen kann – und wann dieses Instrumentarium auch wirklich eingesetzt werden sollte.
Eigentlich wünscht man sich für die internationalen Beziehungen so etwas wie eine Ampel, die internationale Rechtsbrecher-Staaten je nach Gefährlichkeit und Widerlichkeit in verschiedene Kategorien einteilt. Wo man je nach Ampelschaltung sofort weiß, was jeweils zu tun ist. Jedoch: So wie in Sachen Corona der Traum des österreichischen Gesundheitsministers von einer sinnvolle Signale gebenden Ampel in der Realität ein lautes Scheitern erlebt hat, so schwierig ist die Entwicklung einer Ampel mit konsistenten Regeln für die internationalen Beziehungen.
In der Theorie scheinen ja die beiden Hauptziele einer akzeptablen österreichischen wie europäischen Außenpolitik eindeutig:
Dabei war mit ganz wenigen Ausnahmen in der Geschichte immer das erste Ziel wichtiger als das zweite. Mit gutem Grund. Dass sich Staaten und staatsähnliche Gebilde friedlich verhalten, dass sie nicht eine eventuelle innere Destabilisierung auch noch nach außen tragen oder gar die Eroberung fremder Territorien versuchen, ist für den Rest der Welt wichtiger als die Frage, wie es den Menschen innerhalb solcher Staaten geht. Diese klare Prioritätenreihung heißt aber nicht, dass das zweite Ziel irrelevant wäre. Denn aus vielen Gründen kann es den demokratischen Staaten und Menschen nicht gleichgültig sein, dass es in Russland, China, Belarus, der Türkei und im Iran wie auch in Nordkorea oder Venezuela landesintern um die "Rule of law", um die Demokratie und die Freiheit der Bürger schlecht bestellt ist.
Bevor wir uns mit diesen Gründen näher befassen, sei noch ein weiterer außenpolitischer Zielkonflikt angesprochen: Was ist, wenn die Demonstration allzu starken Interesses an den inneren Zuständen in anderen Ländern den eigenen nationalen Interessen krass widersprechen sollte?
Das ist eine noch viel schwierigere Frage, die gar nicht generell beantwortet werden kann. Es sei denn, man ist total zynisch und hat nur das eigene Interesse im Auge. Oder man ist weltfremd-naiv und fegt alle nationalen Interessen als unerlaubt vom Tisch. Über diese Frage kann nur nach der Analyse jedes Einzelfalls entschieden werden.
Dabei sind folgenden drei Parameter wichtig:
Gerade in Österreich sagen zu diesem Thema erstaunlich viele Menschen: Eigentlich können uns doch die inneren Verhältnisse in fremden Ländern gleichgültig sein.
Nein, das können sie nicht. Aus vielen Gründen: vor allem schon einfach deshalb nicht, weil wir Menschen sind. Oder ausführlicher:
Es ist eigentlich absolut widerlich, dass das Schicksal der vielen Millionen von Diktaturen Betroffenen in anderen Ländern vor allem linke Medien und Parteien viel weniger interessiert als etwa die Förderung der illegalen Migration. Das ist alles andere als human, weil es die Zustände in der Dritten Welt nicht verbessert, aber die Perspektiven der eigenen Heimat verschlechtert. Das lässt sogar den üblen Verdacht aufkommen, dass dahinter eine emotionale Aversion gegen die durch zweitausend Jahre Christentum, den bürgerlichen Rechtsstaat und den Triumph von Marktwirtschaft und Wissenschaft geprägte Identität Europas steht, die als Folge von Massenmigration und Islamisierung stark erodieren würde.
Freilich ist ebenso klar, dass wir von außen nicht viele Möglichkeiten haben, die Dinge in grob rechtswidrigen Ländern zu ändern. Krieg führen, um Diktatoren wie etwa einst das Nazi-Regime zu beseitigen, ist aus vielerlei Gründen für den Westen heute völlig undenkbar. Dennoch sollten wir uns zumindest bewusst sein, dass ohne den Zweiten Weltkrieg die Beseitigung einer der übelsten Diktaturen der Geschichte und das Entstehen blühender freiheitlicher Demokratien in Österreich und Westeuropa kaum denkbar gewesen wären.
Zugleich wissen wir aber, dass die Alliierten, also auch die Demokratien, nicht etwa deshalb in den Krieg gezogen sind, um den Menschen in Hitlers Machtbereich beizustehen, sondern erst dann, als Hitlers Armeen auch für sie selbst zur Bedrohung geworden sind. Die Freiheit der Menschen in Österreich und der Tschechoslowakei wie auch das Schicksal der Juden war den meisten Nationen hingegen ziemlich egal, jedenfalls waren das für sie keine Gründe zum Eingreifen. Die Wiedererringung der Freiheit Österreichs war leider nur ein zwar erfreuliches, aber 1938 noch von niemandem im Ausland beabsichtigtes Nebenprodukt des Anti-Hitler-Krieges. Und in Hinblick auf die Menschen Osteuropas haben die westlichen Demokratien überhaupt nichts unternommen, um sie davor zu retten, nach der braunen Diktatur vier Jahrzehnte lang zu Opfern einer roten zu werden.
Angesichts der Schwäche des Westens und angesichts der atomaren Gefahren kann Krieg heute aber jedenfalls noch viel weniger eine ernsthafte Option sein, um die inneren Zustände in anderen Ländern zu verbessern, als es schon damals der Fall gewesen ist. In der Geschichte spricht aber ohnedies viel für die Annahme, dass wirklich nachhaltige Änderungen zum Positiven nicht von außen, sondern nur von innen kommen können. Solche nachhaltigen Änderungen zum Besseren brauchen Zeit, brauchen vor allem eine Änderung in den Köpfen, bevor es dann zu scheinbar disruptiven, zu revolutionären Umbrüchen mit Langzeitwirkung kommt.
So wäre etwa in Österreich die Etablierung eines demokratischen Rechtsstaats im Jahr 1945 niemals so gut gelungen, wenn nicht Demokratie, Freiheit, Marktwirtschaft und Rechtsstaat hier schon viel ältere Wurzeln gehabt hätten, wenn nicht die große Mehrheit der Österreicher 1945 ein Ende nicht nur des Krieges, sondern auch von Diktatur und Fremdherrschaft ersehnt hätten.
Die Wurzeln, auf denen dann die bisher für die Menschen beste Zeit der österreichischen Geschichte aufbauen konnte, reichen nicht nur bis 1918 zurück, sondern in Wahrheit mindestens bis zum Grundrechtskatalog von 1867, aber eigentlich auch bis zur Revolution von 1848, zum bis heute großartigen ABGB aus den Jahren 1792 bis 1811 und bis zu den aufklärerischen Reformen von Joseph II. und Leopold II. (Man denke nur an die epochalen Leistungen alleine dieser beiden Kaiser: Aufhebung der Leibeigenschaft, Beschränkung der Adelsvorrechte, Abschaffung der Verstümmelungsstrafe, Einführung des heute noch so wichtigen Legalitätsprinzips und des Toleranzpatentes zugunsten von Protestanten und Juden – was für ein Unterschied zum Österreich der Jahrhunderte davor!).
Ohne auf all dem aufbauen zu können, wäre mit Sicherheit das dreiviertel Jahrhundert nach 1945 in Österreich nicht so großartig gelungen. Man schaue nur nach Osteuropa: Die mittelosteuropäischen Staaten, die auf einer ähnlichen Vorgeschichte aufbauen konnten, haben ihre Wende nach 1989 ebenfalls sensationell geschafft. Den Balkanstaaten, die auf viel weniger aufbauen konnten, gelingt das viel schlechter.
Zurück zur Frage nach sinnvollen Reaktionen demokratisch-rechtsstaatlicher Gesellschaften auf Vorgänge in anderen Ländern. Kein echtes Problem ist es, dass man schwere Rechtsbrüche in der eigenen Nachbarschaft, auf dem eigenen Kontinent, gewichtiger nimmt als solche in Ostasien, solange man diese nicht generell ignoriert. Viel gravierender ist ein anderes Problem: Wie weit sind wir uns dieser Vorgänge in anderen Ländern überhaupt bewusst?
Diese Perzeption ist nämlich von einer Reihe oft nicht bedachter Faktoren beeinflusst und abhängig:
Es ist extrem mühsam, angesichts solcher nach wie vor dominierender Verzerrungen eine objektivierte Beurteilung der Vorgänge in anderen Ländern anzustreben. Dennoch muss es immer wieder versucht werden.
Ebenso wichtig wie das ständige Bemühen, die teilweise noch immer wirksame Informationskontrolle der medialen Gatekeeper zu durchbrechen und ein objektives Bild über Vorgänge in Unrechtsstaaten zu suchen, sollte es unbedingt sein, sowohl bei deren Beurteilung wie auch dann bei der Reaktion kooperativ mit möglichst vielen anderen rechtsstaatlichen Demokratien vorzugehen. Deren Bandbreite reicht ja weit über die EU hinaus, von Australien bis zu den USA, von Israel bis Südkorea, von Indien bis Japan, von der Schweiz bis Taiwan. Einzelgänge Österreichs oder auch der EU, die auf Unrechtsstaaten zu reagieren versuchen, haben viel weniger Gewicht als eine koordinierte Vorgangsweise.
Das heißt aber auch, dass man zugleich die erwähnten Interessen auch aller Partnerländer mitberücksichtigen muss. So etwa müssten die Europäer jenseits aller Handelsinteressen die nachvollziehbaren Sicherheitsinteressen Israels und der USA gegenüber dem Iran stärker respektieren.
Daher ist es sehr enttäuschend, dass es zwar eine große Fülle und Vielfalt teilweise überflüssiger internationaler Organisationen gibt, aber über die ja nur auf regionale Sicherheitsfragen beschränkte Nato hinaus keine Plattform, auf der alle rechtsstaatlichen und freiheitsorientierten Demokratien – und zwar nur solche – global zusammenfinden, um diese Fragen zu behandeln.
Dabei hätte eine ernsthafte kollektive Menschenrechts-, Friedens- und Stabilitätspolitik der Demokratien viel größere Chancen, sich nicht erpressen zu lassen, sobald sie geschlossen agiert. Um nur ein besonders krasses Beispiel zu erwähnen: Fast alle europäischen Staaten haben aus Angst vor China mit der rechtsstaatlichen Demokratie Taiwan gebrochen. Das war und ist zutiefst unmoralisch. Lediglich Tschechien – zweifellos in 40 Jahren eines kommunistischen Stahlbades moralisch gehärtet – und die Trump-USA haben in den letzten Jahren den Mut gehabt, trotz der Drohungen aus Peking Kontakte mit Taiwan zu suchen.
Die USA haben am konsequentesten ein Instrumentarium entwickelt, wie sie auf kriminelles Verhalten in anderen Ländern reagieren. Leider tun sie das neuerdings fast immer im Alleingang. Leider hält sich umgekehrt EU-Europa fast prinzipiell abseits. Siehe etwa das Desinteresse an Maßnahmen gegen den Iran. Was aber nichts daran ändert, dass das um einige Maßnahmen erweiterte US-Instrumentarium die besten Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorgehens gegen Unrechtsstaaten aufzeigt:
Ein Einsatz dieser Instrumente wäre aber eben nur dann wirklich wirkungsvoll, würden da die Europäer untereinander, mit den USA und anderen Demokratien kooperieren. Aber das gelingt oft nicht einmal innerhalb der EU.
So wollen die nordosteuropäischen EU-Länder viel schärfere und mehr Sanktionen gegen das ihnen benachbarte Belarus als der Rest Europas. Zypern und Griechenland schauen hingegen nur gezielt auf die Türkei, die sie bedroht. Was die Schlagkraft der EU deutlich reduziert. Will man wirklich effektiven Druck ausüben, müsste eine geschlossene demokratische Welt jedenfalls deutlich über rein symbolische Maßnahmen gegenüber Rechtsbrechern hinausgehen. Aber da kommen sehr bald die erwähnten nationalen Eigeninteressen einzelner Staaten bremsend ins Spiel.
Solange es keine strukturierte Plattform der Demokratien (und zwar nur der Demokratien!) zur konkreten und gemeinsamen Beurteilung von Vorgängen in anderen Ländern gibt, bleibt der Versuch, die Entwicklung anderer Länder positiv zu beeinflussen, weitgehend Theorie. In den letzten Jahren hat der Wille zur Gemeinsamkeit unter den Demokratien sogar eher abgenommen. Woran sicher Donald Trump mit seinem "America First" etliche Schuld getragen hat. Woran aber auch die Europäer, insbesondere die Deutschen, mitschuld sind, die aus einem primitiven, von rechts und links geschürten Antiamerikanismus heraus nie auf auch berechtigte Vorschläge und Forderungen der USA eingegangen sind.
Auch die Plattform der G7, die der Nukleus eines solchen demokratischen Zusammenrückens zumindest der größeren Staaten sein könnte, hat im Lauf der Zeit an Stellenwert verloren.
Entscheidend für jedes gemeinsame Agieren wäre auch die Führungsfrage: Aber auch die ist angesichts der gewachsenen europäisch-amerikanischen Aversionen weniger gelöst denn je.
Von den derzeitigen Akteuren scheint nur Frankreichs Präsident Macron das Zeug dazu zu haben. Er weiß fast als Einziger, wie wichtig auch Vorgänge außerhalb Europas eigentlich für Europa sind. Sein Land ist aber nicht unbedingt eines der stärksten …
Auf globaler Ebene hat es in den letzten Jahren einen einzigen Versuch gegeben, disziplinierend in die Souveränität der einzelnen Staaten einzugreifen: Das ist der Internationale Strafgerichtshof. Dieser hat die Aufgabe, die Schuldigen an besonders groben Menschenrechtsverletzungen und Gewalttaten zu bestrafen. Freilich muss man der Schuldigen dazu erst einmal habhaft werden.
Geht es doch dabei meist um die Warlords in Bürgerkriegen, die wenig Lust haben, freiwillig in einem Gefängnis zu landen. Außerdem haben Länder wie die USA diesen IStGH und seine Judikatur gar nicht anerkannt. Für sie ist es völlig undenkbar, dass sich etwa ein US-Soldat vor einem fremden Richter verantworten muss.
Daher hat der IStGH nur in zwei Richtungen Bedeutung gewonnen: bei der Aufarbeitung der nachjugoslawischen Konflikte und bei diversen innerafrikanischen Bürgerkriegen.
Ein noch viel größeres Defizit des IStGH liegt auf einer strukturellen Ebene. Es kann keinen echten Weltgerichtshof ohne Weltregierung und vor allem Weltpolizei geben. Dem IStGH fehlt beides.
Das allergrößte Problem mit dem Strafgerichtshof liegt aber in der Wahrscheinlichkeit, dass er konfliktverlängernd wirkt. Denn wenn die Anführer von Konfliktparteien damit rechnen müssten, vor Gericht zu landen, dann verlieren sie noch mehr jedes Interesse an einem Friedensschluss, bei dem sie nicht Sieger sind. Daher werden sie weiterkämpfen.
Womit der Strafgerichtshof in Summe eine negative Gesamtwirkung für die globale Sicherheit haben dürfte. Viel positiver wäre es, wenn es eine politische Instanz gäbe, die als Gegenleistung für einen Gewaltverzicht den Kommandanten aller Parteien verlässlich(!!) Straffreiheit trotz früherer Kriegsverbrechen zusichern kann. Ein sehr positives Vorbild sind die von den USA vermittelten Friedensschlüsse im Nahen Osten. Ein Jassir Arafat etwa musste danach eben nicht mehr bangen, als Terrorist in einem israelischen Gefängnis zu landen. Das hat den Terrorismus sicher eindeutig reduziert.
Ein noch schöneres Beispiel für einen Kompromissfrieden zur Beendigung eines jahrzehntelangen blutigen Bürgerkriegs ist Südafrika. Hätten die Chefs der beiden Kriegsparteien, also der schwarzen Freiheitskämpfer und der weißen Apartheid-Regierung, damit rechnen müssen, selbst vor Gericht zu landen, dann hätte der Krieg mit Sicherheit noch jahrelang gedauert. So aber waren dort alle Kriegsverbrechen strafrechtlich pauschal getilgt. Stattdessen gab es Wahrheitskommissionen, welche die auf beiden Seiten begangenen Verbrechen wie Historiker aufgearbeitet haben. Zwar ist unbestreitbar, dass die schwarze Machtübernahme zu einem langsamen Verfall der staatlichen Administration und zu einer rapiden Zunahme der Kriminalität geführt hat. Aber sie geschah ohne großes Blutvergießen. Immerhin ist Südafrika bis heute eine rechtsstaatliche Demokratie. Und immerhin leben noch immer Millionen Weiße dort, auch wenn ein Teil angesichts des langsamen zivilisatorischen Verfalls abgewandert ist.
Damit sind wir in unseren Überlegungen nach der Frage "Wie könnten wir positiv auf die inneren Verhältnisse eines Landes einwirken?" auf der Ebene zwischenstaatlicher Konflikte gelandet. Also bei jenen Fällen, wo Staaten Grenzen gegen den Willen der Gegenseite überschreiten, wo sie Raketen beziehungsweise immer häufiger Drohnen gegen Ziele in anderen Staaten richten, wo sie sich immer größere Meeresgebiete aneignen, wo sie einen jahrzehntelangen Status quo durch Gewalt zu zerstören versuchen, wo also die Außenwelt noch viel unmittelbarer herausgefordert ist als durch Vorgänge bloß innerhalb eines Staatsgebiets, so unerquicklich die auch sein mögen. Hier kann niemand mehr sagen: "Grauslich, aber nicht unser Bier."
Wenn man auf gewaltsame Grenzverletzungen reagieren will, setzt das freilich zuerst die Klärung der Frage voraus: Welche Grenzen? Das ist lange nicht so eindeutig, wie es beim Blick auf die klaren Linien eines Globus erscheint. Denn vielerorts toben territoriale Dispute um Grenzfragen:
Wir sehen, dass solche Konflikte keineswegs nur um Landgrenzen toben können, keineswegs nur in direkten Gebietseroberungen bestehen können und dennoch ebenso brisant wie explosiv sind.
Auch wenn man jede Grenzfrage einzeln abhandeln müsste, so ist doch klar: Der Großteil der zivilisierten Welt geht vom Prinzip der Unantastbarkeit der Grenzen erst ab der Neuordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg beziehungsweise nach dem Zerfall der Sowjetunion aus.
Interessant ist, dass es so gut wie nie rechtsstaatliche Demokratien sind, die fremde Territorien militärisch erobern, die Seegrenzen manipulieren, oder die bei der Teilung von Wasserressourcen zu keinem Kompromiss bereit waren. Bedrohlich sind fast immer nur Diktaturen, die ja auch im Inneren sehr problematisch sind. Diktaturen neigen auch deshalb zur Entzündung von Konflikten mit anderen Staaten, weil sie dadurch von inneren Problemen ablenken wollen und einen Grund zur Disziplinierung der Bürger suchen.
Allerdings stimmt der Umkehrschluss nicht: Keineswegs jede Diktatur ist eine Bedrohung des Friedens nach außen. So ist Belarus zwar ein widerliches und brutales Regime, aber keine Bedrohung für Nachbarn.
Zwei andere Staaten in direkter Nachbarschaft zur EU sind das hingegen eindeutig schon: Russland und die Türkei. Diese beiden Staaten sind in Sachen Frieden heute die weitaus größten Problemfälle.
Russland ist das durch seine eindeutig völkerrechtswidrigen Eroberungen in der Ukraine, in Georgien und Moldawien.
In letzter Zeit ist eindeutig die Türkei noch gefährlicher geworden. Sie hat sich in den letzten zwei Jahren in nicht weniger als drei Kontinenten in militärische Konflikte verwickelt, ohne zuvor selbst bedroht worden zu sein:
Das ist eine beklemmende Vielfalt an eindeutigen Beweisen militärischer Aggressionen durch die Türkei. Das einzige Positivum dabei: An gleich drei Fronten stehen einander Russland und die Türkei (wie schon in den Jahrhunderten davor) feindlich gegenüber. Wirklich dramatisch würde die Situation und die Lage der eigenen Sicherheit für Europa selbst erst, wenn sich die Diktatoren in Moskau und Ankara verbünden und gemeinsam marschieren. Darüber haben sie zwar im Vorjahr tatsächlich zu verhandeln versucht. Aber angesichts der vielen Differenzen zum Glück erfolglos.
Was beide treibt, ist klar: Beide leiden unter den Phantomschmerzen früherer Imperialreiche. Beide wollen sich im 20. Jahrhundert verlorene Gebiete zurückholen, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Beide versuchen, die Länder, die einst zum Imperium gehört haben, zumindest politisch an die Kandare zu nehmen.
Beide sind zwar gleichermaßen von Großmachtsträumen und dem Versuch angetrieben, gegenüber den eigenen Untertanen die eigene Herrschaft zu rechtfertigen, was durch einen Krieg leichter erscheint. Aber es gibt auch einen großen Unterschied: Bei Russland ist das großorthodoxe Getue nur Rhetorik, kein echter Antrieb; der türkische Diktator Erdogan ist hingegen ganz stark von großislamischem und neoosmanischen Eroberungsdenken beseelt.
Was bedeutet das nun für die EU-Länder? Was sollten sie tun?
Fast am wichtigsten wäre es in beiden Fällen, wieder zu einem strategischen Konsens mit den USA zu kommen. Das ist freilich sehr schwierig geworden. Auch ohne Trump.
Bei Russland wäre eine Lösung zumindest denkbar, mit der sich die Russen ein Ende der Sanktionen erkaufen könnten: nämlich durch Selbstbestimmungsmechanismen. Angesichts seiner bedrängten wirtschaftlichen Lage könnte Russland wirklich freie Referenden in den widerrechtlich besetzten Gebieten über die territoriale Zugehörigkeit akzeptieren. Das hätte freilich nur dann einen Sinn, wenn diese beispielsweise von UNO oder KSZE organisiert würden, wenn auch die von dort Vertriebenen mitstimmen dürften, und wenn mindestens drei Monate vor dem Wahltag auch alle anderen Seiten völlig frei Werbung machen dürften, ohne dass dies als "ausländische Einmischung" verboten würde.
Das brächte für Russland nicht nur die Chance auf gleichberechtigte Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Nationen; es könnte so einen Teil seiner Eroberungen – etwa der Krim – auch auf sauberem Weg legalisiert bekommen.
Freilich sind etliche EU-Mitgliedsstaaten ganz und gar nicht für eine Forcierung des Selbstbestimmungsgedankens. Etwa Italien wegen Südtirol, etwa Spanien wegen der Basken und Katalanen, etwa Belgien wegen der Flamen, etwa Rumänien und die Slowakei wegen der ungarischen Siedlungsgebiete.
Die Konzeption einer gemeinsamen Strategie gegenüber der Türkei ist noch viel schwieriger. Die Türkei ist aber zugleich der weitaus gefährlichste Nachbar Europas, weil bei ihr sowohl imperialistische wie auch religiöse Motive zu finden sind. Immer mehr Analysen sprechen daher schon von einer neoosmanischen Politik.
Das Osmanische Reich war vom 14. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg ein türkisches Großimperium auf drei Kontinenten. Die osmanischen Herrscher beanspruchten nach der Eroberung Ägyptens auch jahrhundertelang, das allislamische Kalifat innezuhaben, also eine Oberhoheit über die ganze islamische Welt zu besitzen. Nicht ganz ohne innere Logik, war das Osmanische Imperium ja der weitaus mächtigste islamische Staat. Der "Kalif" des Islam sah sich als Nachfolger und Stellvertreter Mohammeds, der ja zugleich Religionsgründer wie auch ein sehr brutaler irdischer Herrscher und Kriegsherr gewesen ist.
Dass das Verhalten der heutigen Türkei neoosmanische Intentionen hat, wird nicht nur durch die heutige Aggression in drei Erdteilen, sondern auch durch viele Äußerungen von Präsident Erdogan bewiesen. Fast noch bedrohlicher ist dabei der Umstand, dass die Türkei in engster Kooperation mit Islamisten-Milizen und den Muslimbrüdern vorgeht, einer mit gutem Grund nicht nur in Europa, sondern auch in vielen gemäßigten islamischen Ländern verbotenen Organisation, die überall auf eine radikal-islamische Machtergreifung abzielt. Auf der Negativseite einer türkischen Bilanz steht schließlich auch, dass das Land seine einst relativ normalen Beziehungen zu Israel unter Erdogan durch eine aggressive Feindschaft und enge Kooperation insbesondere mit der terroristischen Hamas ersetzt hat.
Der Westen hat aber absolut kein Rezept, wie da dagegenzuhalten ist. Er zeigt mit Ausnahme des französischen Präsidenten und etlichem Anschein nach auch des österreichischen Bundeskanzlers nicht einmal eine wirkliche Problemerkenntnis. Was sich schon daran zeigt, dass die Türkei weiterhin Nato-Mitglied, formaler EU-Beitrittskandidat und Mitglied vieler anderer europäischer Organisationen ist.
Eine Antwort Europas auf die türkischen Vorstöße wird zweifellos dadurch erschwert, dass man sich dabei an die Seite Russlands stellen müsste (in Armenien, in Libyen, in Syrien). Das fällt vielen im Westen schwer, solange es keine Lösung zu den russischen Aggressionen selbst gibt. Man würde dadurch ja das Eroberungsverhalten Russlands gleichsam absegnen. Erschwerend kommt hinzu, dass man dadurch zugleich auch indirekt zu Verbündeten der üblen Herrscher in Syrien und im Iran würde. Und absolut unmöglich ist es geworden, seit Russland in jüngster Zeit offenbar Kriegsvorbereitungen gegen die Ukraine trifft.
Besonders deprimierend ist, dass die USA – und zwar beide dortigen Parteien – die Türkei vorerst keinesfalls fallen lassen wollen. Das scheint auch(!) damit zusammenzuhängen, dass sich die Türkei als Schutzmacht der in China unterdrückten Uiguren zu profilieren versucht. Deren Unterdrückung wiederum ist in Amerika zunehmend zu einem größeren Thema im Zusammenhang mit den amerikanisch-chinesischen Spannungen geworden. Aber auch Deutschland ist ein Problem für eine konsistente Türkei-Politik Europas; sind doch dort die Türken längst zu einem gewichtigen innenpolitischen Faktor geworden.
Trotz all dieser Probleme und Verwirrungselemente braucht der Westen dringend eine echte und nicht nur symbolische Antwort auf die Türkei. Denn diese ist derzeit (wenn man die Vorgänge in Ostasien ausklammert) die größte Bedrohung des Friedens.
Die wichtigsten und notwendigen Elemente einer solchen gemeinschaftlichen Strategie des Westens müssten jedenfalls sein:
Sollte Europa aber weiterhin nicht bereit zu all dem sein, sollte man aber am besten all die vielen EU-Dokumente mit dem Wort "Solidarität" müllen, sollte man das Gerede von einer "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" der EU vergessen, sollte man ehrlich zugeben, dass die Union nichts weiter als eine große Freihandelszone oder Zollunion sein kann.
Wenn einer Union die Sicherheit ihrer Mitglieder egal ist, dann ist sie eben keine Union. Dann sollte sie aber bitte auch all ihre sonstigen Einmischungen in die einzelnen Länder aufgeben, die in Österreich etwa von der Familienbeihilfe bis zur Frage reichen, welche Studenten Österreich ins Universitätssystem aufnehmen muss.
Im Übrigen sollte die fragil gewordene sicherheitspolitische Situation für Österreich ein dringender Anlass sein, seine anachronistisch gewordene Neutralität zu überdenken und abzuschaffen. Auch wenn Österreich deswegen sicher nicht nach hundert Jahren wieder eine Mittelmeer-Marine aufzubauen hätte, sondern "nur" ein funktionsfähiges Bundesheer am Boden und in der Luft.
Aber freilich: In keiner österreichischen Partei, aber auch nicht bei den anderen westlichen Demokratien, hat es in den letzten Jahren eine ernstzunehmende sicherheitspolitische Debatte gegeben. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten retten (durch rein symbolische Maßnahmen) das Weltklima, sorgen sich um Schwule und Transgender, kümmern sich um jede bedrohte Käferart, sind aber nicht mehr imstande, den allerersten Zweck jeder Staatsgründung zu erfüllen: die Sicherheit nach außen.
Dieser Beitrag erscheint weitgehend identisch auch in einem Sammelband, das zum 85. Geburtstag meines ehemaligen Verfassungs-Lehrers Heinrich Neisser erscheint.