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Viele ethnische Konflikte in Europa sind älter als jeder lebende Mensch. Dennoch konnten sie bis heute nicht gelöst werden. Alle Lösungsversuche sind gescheitert, egal ob sie von Diplomaten am grünen Tisch ausgehandelt oder von Armeen aufgezwungen worden sind. Denn man hat dabei immer eine Kleinigkeit übersehen: die Menschen, die in den umstrittenen Gebieten leben. Auch wenn die internationale Politelite noch so heftig schimpft auf den bösen Nationalismus der Menschen, so gilt doch ganz eindeutig: Wenn ein signifikanter Teil der Bevölkerung nicht in dem Staat leben will, in dem er leben muss, dann wäre es langfristig immer viel klüger, nicht nur gerechter, man richtet sich nach dem Willen der Menschen, man befragt diese ordentlich, in welchem Staat sie leben wollen, und man ist bereit, gegebenenfalls auch Grenzen zu ändern. Andernfalls wird man wohl ewig mit regelmäßigen Konfliktausbrüchen leben müssen. Und die Staaten werden nicht funktionieren können.
Auf die Menschen zu hören hat jetzt der slowenische Regierungschef Jansa in Hinblick auf Bosnien vorgeschlagen. Das hatte einst auch der britische Premier Major in Hinblick auf Nordirland vorgeschlagen. Das hat nach dem ersten Weltkrieg der amerikanische Präsident Wilson in Hinblick auf die europäischen Konflikte und Grenzfragen vorgeschlagen, aber sehr oft nicht durchgesetzt – siehe etwa Südtirol, siehe etwa die deutschsprachigen Gebiete in der Tschechoslowakei, siehe etwa Siebenbürgen (Transsylvanien), siehe etwa auch Elsass und Lothringen. Dort, wo Wilson das Selbstbestimmungsrecht durchsetzen konnte, hat es eindeutig Konflikte entschärft, siehe etwa Südkärnten.
Es ist ethisch in Wahrheit eines der fundamentalsten Grundrechte einer Bevölkerung, in jenem staatlichen Rahmen leben zu können, den die Mehrheit will. Dieses kollektive Grundrecht sollte vor allem dann Anspruch haben, respektiert zu werden, wenn es mit einem starken, völkerrechtlich verankerten Minderheitenschutz für die meist im gleichen Territorium lebenden anderen Volksgruppen verbunden ist.
Letztlich werden immer nur auf Selbstbestimmung beruhende Lösungen von den Menschen innerlich anerkannt werden. Nur dieses Prinzip verkörpert auch den Respekt vor der Freiheit der Menschen. Demgegenüber sind alle Berufungen auf "historische" oder "natürliche" Grenzen reiner Mumpitz, der nur die wahren Fakten tarnt. Diese bedeuten nichts anderes als die Herrschaft des Faustrechts, das "Recht" des Stärkeren.
Die internationale Diplomatie steht jedoch fast immer auf der Seite der Stärkeren. Sie will Konflikte beruhigen, statt sie zu lösen versuchen. Ihr stärkster Antrieb ist der Wunsch, Konflikte aus den Schlagzeilen draußen zu haben, aber keine echte Lösungskompetenz. Auch die EU zeigt sich bei allen Konflikten innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen als krampfhafte Bewahrerin des Status quo. Sie versucht höchstens, mit möglichst viel Geld Situationen zu beruhigen. Was aber immer nur kurzfristig funktioniert.
Aber nicht nur in der EU, sondern auch in vielen anderen vom Zeitgeist beherrschten Institutionen begreift man nicht, dass die Bindung der Menschen an ihre Heimat und die Sehnsucht, mit Menschen gleicher Sprache und Kultur – bisweilen auch Religion – zusammenzuleben, eine stärkere und auch legitimere Kraft ist als viele andere vom linken Zeitgeist erwünschte Kräfte. Man mag sie als Nationalismus, Zionismus oder was auch immer denunzieren. Sie ist dennoch nicht aus der Welt zu bringen.
Als Gegenbeispiel, dass das friedliche Zusammenleben mehrerer Sprachgruppen und Religionen gut funktionieren kann, wird gerne die Schweiz ins Spiel gebracht. Ja, diese funktioniert exzellent, sowohl zwischen Katholiken und Protestanten, wie auch zwischen den vier Sprachgruppen.
Aber zum Unterschied von den anderen genannten multiethnischen Konfliktzonen sind die Schweizer Kantone wirklich freiwillig zum gegenseitigen Schutz gegen französische und kaiserliche Ansprüche zusammengegangen. Die Schweizer haben auch sehr bewusst, um keine Konflikte zwischen den Sprach- und Religionsgruppen aufkommen zu lassen, mehr Kompetenzen hinunter zu Kantonen, Gemeinden und Stimmbürgern verlegt als irgendein anderes Land – eigentlich haben sie diese gar nicht verlegt, sondern dort belassen.
Das hat sich als Erfolgsrezept erwiesen, auch wenn es von außen oft als "Kantönligeist" belächelt wird. Die direkte Demokratie hat sich als Mittel bestätigt, das innere Konflikte mäßigt. Auf Gesamtschweizer Ebene wird auch sehr genau auf die Gleichberechtigung der Landessprachen geachtet (dort, wo man sich auf eine einzige einigen muss, kommt bezeichnenderweise immer öfter das neutrale Englisch zum Zug – und das "CH" auf den Autos bedeutet "Confoederatio Helvetica", stammt also aus dem ebenfalls neutralen Latein).
Viele Bürger Bosniens oder Nordirlands oder Südtirols oder Kataloniens können hingegen niemals auf den Gedanken kommen, dass sie in einem freiwillig gewählten Staat leben und dass sie darin einen wirklich gleichberechtigten Status leben.
Die Serben und Kroaten in Bosnien werden dort immer das Gefühl haben, dass sie nur deshalb in diesem Staat leben müssen, weil sie den Krieg verloren haben beziehungsweise weil sie von einem westlichen Diktat in dieses Bosnien-Herzegowina hineingezwungen worden sind. Als Folge dieser kollektiven Grunderfahrung wird es auch nach Generationen nicht gelingen, die dortigen Serben und Kroaten zu einer inneren Akzeptanz ihrer Zugehörigkeit zu Bosnien zu bringen.
Der Slowene Janez Jansa, der demnächst für ein halbes Jahr die Funktion eines EU-Präsidenten ausübt, hat das auch klar erkannt. Die Slowenen sind ja als erste aus dem Völkerkerker Jugoslawien ausgebrochen. In jenen Staat haben sich einst gleich mehrere Völker nur hineingezwungen gefühlt – und zwar ausgerechnet durch die Serben. Während sich heute in einer beklemmenden Umkehrung der Geschichte die Serben in Bosnien in einen ihnen innerlich fremden Staat hineingezwungen fühlen.
Es wäre aber dümmlicher Revanchismus und für die Zukunft der Balkanregion fatal, das schulterzuckend hinzunehmen, etwa nach dem Motto: Geschieht den Serben Recht, haben sie doch die Hauptverantwortung für den Ausbruch gleich zweier großer Kriege des 20. Jahrhunderts gehabt. Am Beginn für den Ersten und damit indirekt auch ein wenig für den Zweiten Weltkrieg und am Ende für die ebenfalls sehr grausamen Jugoslawienkriege.
Dennoch ist außer Jansa kaum jemand bereit, offen darüber zu reden, dass die Menschen in Bosnien-Herzegowina nur dann eine friedliche Zukunft haben, wenn man den dortigen Serben erlaubt, sich an Serbien anzuschließen, und den Kroaten an Kroatien. Eine solche Lösung würde auch dadurch erleichtert, dass sie in Bosnien in relativ geschlossenen, wenn auch gewiss nicht ethnisch "reinen" Siedlungsgebieten leben. Notwendige Voraussetzung ist aber, dass vor(!) einer Trennung die Festlegung völkerrechtlicher Minderheitenrechte erfolgt.
Diese Lösung wäre das Gegenteil der heutigen bosnischen Realität, wo ständig die Volksgruppen und Kantone einander hassen und blockieren.
Aber, so ist zu befürchten, die große Politik hat nichts aus der Geschichte gelernt. Wieder werden die entscheidenden Themen erst dann angegangen werden, wenn eines Tages wieder viel Blut fließt. Vorher schaut die Außenwelt weg und glaubt der – nur mit viel EU-Geldern und Soldaten aufrechterhaltbare – Status quo hätte irgendeine Zukunft. Dieser ist noch dazu ein Status, wo ein von der EU eingesetzter Herrscher wie ein Kolonialherr gegen Immobilität und Dauerblockaden zu regieren versucht, weil die drei bosnischen Volksgruppen alleine es überhaupt nicht schaffen würden. Das ist ein anachronistischer Unsinn, auch wenn dieser Kolonialherr ein österreichischer Diplomat ist.
Ganz ähnlich könnte, nein: müsste eine haltbare Lösung für den Kosovo aussehen. Auch dort sollten die – wenigen – Gemeinden, die serbisch besiedelt sind, zu Serbien gehen können, und umgekehrt müsste Serbien den – wenigen – Ortschaften mit albanischer Besiedlung den Anschluss an den Kosovo erlauben; und diesem wieder, wenn es die Menschen auf beiden Seiten denn wollen, den Anschluss an Albanien. Zusätzlich braucht es auch hier, neben der vollen gegenseitigen Anerkennung, einklagbare Minderheitsrechte.
Zwar trifft man immer öfter Menschen vom Balkan wie auch internationale Experten, die insgeheim zugeben, dass nur so eine haltbare Lösung ausschauen kann. Aber dennoch wird diese nicht kommen. Die internationale Politik hat andere Sorgen und schaut daher weg, solange der Deckel auf dem Dampfkochtopf liegt.
Noch komplizierter ist die Lage in Nordirland. Denn dort leben die verfeindeten Katholiken und Protestanten oft nur nach Stadtviertel getrennt. "Katholik" ist dort in Wahrheit kein religiöses Bekenntnis, diese Bezeichnung kennzeichnet vielmehr Menschen, die sich nicht als Briten, sondern Iren fühlen, deren gewählte Abgeordnete als demonstratives Zeichen der Ablehnung Londons nicht einmal ihren Sitz im britischen Unterhaus einnehmen. Während die Protestanten – eine knappe Mehrheit – unbedingt weiterhin und begeistert dem Vereinigten Königreich zugehörig sein wollen.
Die Kämpfe zwischen diesen beiden Gruppen, also vor allem der Daueraufstand der "Katholiken", haben viele Tausende Tote gefordert, bis der englische Premier John Major erstmals das Selbstbestimmungsrecht in Aussicht gestellt und Nachfolger Tony Blair das "Karfreitagsabkommen" abgeschlossen hat. Dadurch hat sich der Bürgerkrieg beruhigt, aber vorerst nichts an den Grenzen geändert. Denn die probritischen Unionisten haben ja die Mehrheit.
Aber die proirischen Republikaner haben jetzt eine andere Waffe: die Aufgabe, für viele Geburten zu sorgen. Dadurch könnten sie eines Tages die Mehrheit zu erringen. In der Tat hat Nordirland heute mit 1,95 Kindern pro Frau genau aus diesem Grund die höchste Geburtenrate in Europa.
Zugleich glaubte man, der britische EU-Beitritt würde ohnedies alle Probleme lösen. Er würde das Nordirland-Problem in eine allgemeine europäische Grenzenlosigkeit hinein auflösen. Dann aber kam der Brexit. Und jetzt stellt sich das Grenzproblem stärker denn je.
Während die Briten alle anderen Probleme des EU-Austritts gut und viel besser, als von EU-Lobbyisten prophezeit, meistern konnten, ist die Nordirland-Frage zum großen Mühlstein am Halse Londons wie Brüssels geworden. Denn die EU, die sich als Advokat ihres Mitgliedslandes Irland fühlt, besteht darauf, dass die Grenze zwischen Irland und Nordirland so gut wie nicht sichtbar ist. Auch London beteuert (aus Angst vor nordirischen Konflikten), keine inneririschen Grenzkontrollen zu wollen. Die nordirischen Unionisten wollen aber gleichzeitig keinesfalls die als Ersatz vorgesehenen Grenzkontrollen zwischen Nordirland und den restlichen Teilen Großbritanniens hinnehmen.
Aber irgendwo muss es ja eine Grenze geben. Denn sonst könnten ja alle britischen Produkte weiterhin ungehindert in die EU und alle EU-Produkte ungehindert auf die Inseln gelangen. Die EZ vermutet, dass die Briten genau das wollen.
Welche Lösung man immer versucht: Sie wird sofort von einem Teil der Bevölkerung Nordirlands vehement bekämpft. Das hat schon zu ersten Unruhen geführt. Diesmal vor allem durch junge Unionisten, als sie gemerkt haben, dass wegen der Kontrollen jedes von England nach Nordirland fahrenden Schiffes plötzlich Supermarktregale leer geblieben sind. Aber es ist völlig klar, dass auch die Republikaner Bombe bei Fuß für Gegenaktionen bereitstehen.
Das Einzige, worauf sich Briten und EU derzeit einigen können – und was wohl noch auf lange das Einzige bleiben wird: Man verlängert die Suche nach einer Lösung des Grenzproblems. Obwohl dieses eigentlich schon im Brexit-Vertrag "geregelt" ist.
Letztlich kann eine Lösung, wenn es überhaupt eine gibt, wohl nur so aussehen:
Es kann jedenfalls eine Lösung nur gelingen, wenn man intensiv die Menschen mitnimmt, wenn sich die republikanischen Nordiren nicht als letztes Opfer des britischen Kolonialismus fühlen müssen. Was nach den vielen demütigenden Niederlagen der letzten Jahrhunderte und dem auftrumpfenden Britischsein der Unionisten aber nur schwer gelingen kann.
So hat der nordirische unter allen Konflikten Europas wohl die größte "Chance", noch auf Generationen unlösbar zu bleiben und immer wieder aggressiv aufzuflammen.
In Katalonien wie auch in Südtirol gäbe es hingegen viel weniger Unklarheiten, dürften sich die dortigen Bürger wider die Gewalt des Zentralstaats einmal frei entscheiden, in welchem Staat sie leben wollen. Andererseits gibt es in Spanien und gab es in Italien zum Unterschied von den hier analysierten Konflikten politische Gefangene, deren einziges "Verbrechen" darin bestanden hatte, dass sie sich für die freie demokratische Selbstbestimmung ausgesprochen haben. Was noch viel empörender, weil die massivste Verletzung des Rechtsstaatsprinzips in ganz EU-Europa ist.
Aber dazu ein andermal mehr.