Das Versagen der Politik oder: Österreichs unmöglichster Job
14. April 2021 00:34
| Autor: Andreas Unterberger
Lesezeit: 8:00
Es hatte sich abgezeichnet: Gesundheitsminister Anschober ist zum nächsten Opfer der Pandemie geworden. Der nette, aber schwer überforderte Oberösterreicher wird trotz seines Rücktritts physisch und psychisch noch lange brauchen, um sich von seiner persönlichen Long-Covid-Erkrankung zu erholen, auch wenn diese keine Folge einer Virus-Infektion ist. Dahinter steht ein vielfaches und schweres Scheitern: nicht nur Anschobers, sondern der ganzen Politik, aber auch das immer weitere Auseinanderklaffen der illusorischen Erwartungen der Gesellschaft und der noch illusorischeren Versprechungen der politischen Klasse.
Die einzelnen Etappen dieses vielfachen Versagens:
- Das erste Versagen Anschobers:
Über Kranke, Sympathische und Zurücktretende soll man nur Gutes sagen. Bei allem Mitleid, dass sich Anschober seit 14 Monaten und gerade in diesen Stunden verdient hat, darf aber dennoch die Tatsache nicht aus den Geschichtsbüchern verschwinden, dass sich Anschober als zuständiger Minister sträflicher Weise mehr als ein halbes Jahr lang nicht ausreichend um die Beschaffung von möglichst viel durchaus zusätzlich erhältlichem Impfstoff für die Österreicher gekümmert hat. Dabei musste man kein Gesundheitsspezialist sein, um spätestens im Sommer 2020 die Wichtigkeit einer möglichst großen Beschaffung zu erkennen. Er hat statt dessen einen eitel-überforderten Beamten unkontrolliert in diesem Bereich werken lassen. Er hat ihm weder den nötigen klaren Auftrag gegeben, noch hat er auch nur ein einziges Mal zum Finanzminister gesagt: "Geld her, damit wir alles an Impfdosen bekommen, was möglich ist!"
- Das Versagen der EU:
Auch die Europäische Union selbst hat selten einen so veritablen Bauchfleck hingelegt wie bei der Impfstoffbeschaffung. Niemand in der aufgeblähten und präpotenten EU-Bürokratie hat (im Gegensatz zu Israel, Großbritannien oder den USA) irgendwann diesbezüglich wirklich Druck gemacht.
Angesichts ihres Scheiterns in solchen Bereichen außerhalb ihres eigentlichen Gründungszwecks kann man der EU nur zurufen: Schuster bleib bei deinem Leisten! Bleib Wirtschaftsgemeinschaft und Binnenmarkt! Dort bist du erfolgreich und nützlich! Der Rest ist selbstbeschädigende Macht-Hybris!
- Das zweite Versagen Anschobers:
Die von Anschober mehrmals verkündete Ampel hat nie wirkliche Bedeutung erlangt. Praktisch nie haben bestimmte Infektions- (oder Spitals-)Werte automatisch zu vorher klar bekannten Regeln geführt. Aber genau das war von ihm jedoch mehrfach angekündigt worden.
- Das dritte Versagen Anschobers:
Dieses hängt gewiss auch damit zusammen, dass in seinem Ministerium alles andere als Professionalität herrschte. Weder die vorgefundene noch die von ihm installierten Beamten haben bei der Formulierung der über hundert Corona-Verordnungen juristische Fähigkeiten gezeigt. Etliche Verordnungen mussten außerhalb des Ministeriums noch repariert werden, einige wurden vom Gericht zerlegt, und ihre Inhalte kamen immer weniger bei den Bürgern an. Bis dann zunehmend die Landeshauptleute das Kommando übernahmen.
- Das Versagen einer Koalition:
Welch Eiseskälte in der Regierung herrscht, die noch frostiger ist als alles, was die Bürger ohnedies schon mitbekommen haben, ist nun durch Anschobers Rücktrittserklärung klar geworden. Er dankte Gott und der Welt bis hin zu jenen Bürgern, die ihm Mehlspeisen ins Amt geschickt haben; er dankte explizit dem Wiener Bürgermeister; aber er hatte keine Silbe über für den Koalitionspartner.
Der Honeymoon zwischen dem "Besten aus zwei Welten" ist damit wohl endgültig zu Ende. Die Ursachen dieser frühen Eiszeit:
- dass ihm der Bundeskanzler angesichts der offenkundigen Überforderung Anschobers weit intensiver in die Speichen gegriffen hat, als die Verfassung vorsieht;
- dass die Polizei entgegen den Protesten der Grünen und ihrer Medien (also vor allem des ORF) gerichtlich beschlossene Abschiebungen vorgenommen hat;
- und dass das grüne Justizministerium reihenweise persönliche Nachrichten von beschlagnahmten Handys hinausgespielt hat, die für ÖVP-Politiker extrem peinlich, wenn auch nicht strafbar sind.
- Das Versagen der politischen Klasse:
Dieses zeigt sich anschaulich an allen drei bisherigen Wechseln in der Koalition. Denn jedes Mal wurde dabei ein Berufspolitiker durch einen Fachmann, einen politischen Quereinsteiger ersetzt. Im Kulturbereich kam die einschlägige Fachbeamtin; ins Arbeitsministerium kam der Wirtschaftsforscher; und jetzt kommt der Arzt Wolfgang Mückstein (übrigens kommt auch im Wirtschaftsforschungsinstitut jetzt ein exzellenter Fachmann; dieser ist sogar der derzeit beste Ökonom des ganzen deutschen Sprachraums).
Jedoch Vorsicht bei zu viel Quereinsteiger-Jubel:
- Erstens braucht ein Staatsgefüge sehr wohl den Typus Politiker mit seiner Universalkompetenz; lauter nur auf den eigenen Bereich blickende Experten würden nie die Zusammenschau schaffen (zwischen den vielen unterschiedlichen Ressorts und Sachwünschen, zwischen Partei und Regierung, zwischen Parlament und EU, zwischen Medien und Öffentlichkeit).
- Zweitens sollte insbesondere der Jubel über einen Arzt als Gesundheitsminister zurückgehalten werden. Denn es sind bisher alle Ärzte in diesem Job gescheitert. Die Allmachtszumutung an den Arzt im weißen Kittel beim Krankenbett kontrastiert total mit der Ohnmachtsrealität des Arztes als Gesundheitsminister.
- Das Versagen fast aller Politiker, Beamten und Ärzte:
Die Pandemie hat ein besonders großes Defizit an dem gezeigt, was im letzten Jahr so nötig gewesen wäre – nämlich Organisationsfähigkeit. Diese lernt man in keinem dieser drei (an sich honorigen und qualifizierten) Berufe. Diese lernt man fast nur im rauen Wirtschaftsleben. Dieses Corona-Jahr hat jedenfalls unglaublich viel organisatorisches Versagen auf Bundes- und Landesebene gezeigt.
Es hat nur drei Ausnahmen gegeben, wo auch auf staatlicher Ebene gut organisiert worden ist, die aber alle nichts mit dem Gesundheitsministerium zu tun haben:
- Der Bildungsminister hat für die Schulen eine gute und auch international oft nachgeahmte Test-Architektur entwickelt;
- Die Gemeinde Wien hat zusammen mit einem großen Handelskonzern mit den Gurgeltests etwas Eindrucksvolles auf die Beine gestellt;
- Das Bundesheer hat bei Teststraßen und Straßenkontrollen gezeigt, dass dort Organisieren noch immer genetisch beheimatet ist (auch wenn das Heer für seinen eigentlichen – und nach wie vor wichtigen – Zweck, also die Landesverteidigung, längst wohl völlig unbrauchbar geworden ist).
- Das Versagen der Verfassung:
Die einschlägige Kompetenzaufteilung in Österreich ist von Anfang an eine Fehlkonstruktion gewesen, seit Bruno Kreisky das Gesundheitsministerium überhaupt geschaffen hat. Denn trotz des neuen Ministeriums sind seither die wichtigsten gesundheitspolitischen Kompetenzen dennoch bei den Bundesländern geblieben.
Angesichts der Nähe der Bundesländer zu den Menschen muss das zwar gar nicht so schlecht sein, wenn sie auch das Personal und die Spitäler kontrollieren. Das führt aber zu logischen Reibereien, seit es im Bund einen Gesundheitsminister gibt, der aber nur Restkompetenzen hat. Wie eben die für eine Pandemie.
- Das Versagen der Realverfassung:
Nicht nur zwischen Bund und Ländern gibt es diese Reibungsflächen in Sachen Gesundheit; sondern auch durch die Macht von Kammern und Gewerkschaften im Gesundheitssystem, gegen die ein Gesundheitsminister oft nur wie ein lächerliches Würstel wirkt. Das zeigt sich vor allem in der Macht der sogenannten Sozialpartner in der Gesundheitskasse.
Aber auch Ärzte- und Apothekerkammer sind gewichtige und standespopulistische Mitspieler.
- Das Versagen aller Gesundheitsminister seit den 70er Jahren (als Konsequenz genau dieses Sozialversicherungssystems und Föderalismus):
Kein Minister hat es geschafft, die dadurch entstandenen Fehlentwicklungen umzudrehen.
Die bestehen vor allem darin, dass es viel zu wenig Kassenärzte gibt, und dass diese in etlichen Bereichen sogar immer weniger werden. Da die Kassen sie ganz schlecht bezahlen, verzichten immer mehr Mediziner, die keine Massenabfertigung wollen, auf einen Kassenvertrag und arbeiten lieber als Wahlärzte.
Als Folge erhalten immer mehr Bürger auch nur noch bei Wahlärzten die notwendige Betreuung – oder gehen überhaupt gleich in die Spitäler, selbst wenn es medizinisch gar nicht nötig wäre (und die Migranten sind es von daheim sowieso gewöhnt, gleich ins Spital zu gehen). Oft schicken die überlasteten Kassenärzte aber auch selbst die Patienten dorthin.
Absurdes Ergebnis: Weil bei der billigsten medizinischen Schiene, also bei den Kassenärzten, übertrieben gespart wird, fließt in Österreich unnötig viel Geld in die teuersten Schienen, also in Spitäler und Wahlärzte.
- Das vierte Versagen Anschobers:
Er hat nicht einmal versucht, in diesem zentralen Problem der Gesundheitspolitik etwas zu tun. Selbst beim Abschied hat er zwar viele Reformen genannt, an denen er neben der Corona-Krise gearbeitet habe, aber die Kassenproblematik hat er nie angerührt. Ihm war sogar der Tierschutz wichtiger.
- Die Fehlkonstruktion der Ministerienstruktur in dieser Regierung:
Man hat geglaubt, das Gesundheitsministerium sei angesichts der geringen Kompetenzen ohnedies nicht wichtig und hat es daher in Wahrheit eingespart, hat es neben einigen sonstigen Kleinkompetenzen wie etwa den Konsumentenschutz ans Sozialministerium angehängt.
Dieses aber ist für überhaupt den größten Budgetbrocken der Republik zuständig. Dadurch war Anschober noch viel mehr überfordert, als dann über Nacht das Gesundheitsministerium zum wichtigsten Ressort der Republik geworden ist.
Noch dazu, da Anschober ja alles andere als ein Gesundheitspolitiker war und ist. In seinem früheren Job als Landesrat war er für Umwelt und Integration zuständig, hatte aber nie etwas mit Gesundheit zu tun.
- Das fünfte Versagen Anschobers:
Anschober hatte folglich weder Vorerfahrung noch Zeit, um sich um den größten Budgetbrocken Österreichs zu kümmern. Und das sind die Pensionen, wo der Zuschussbedarf aus Steuern und Schulden immer mehr ansteigt, wo sich die Alterspyramide immer negativer auswirkt.
Freilich sollte man da nicht alleine Anschober Vorwürfe machen: Denn auch kein anderer Minister, kein Regierungsprogramm, kein Bundeskanzler, kein Bundespräsident, kein Oppositionspolitiker hat es gewagt, von einer Pensionsreform auch nur zu reden. Wolfgang Schüssel war der letzte. Dabei wäre eine solche dringender denn je.
Über das zweite, fast ebenso wichtige Problem aus dem eigentlichen Sozialministerium ist zwar zumindest anfangs viel geredet worden. Aber auch da ist dennoch weit und breit keine konkrete Lösung in Sicht: Das ist die Pflegereform.
- Das Versagen der Gesellschaft vieler Länder:
Ganz offensichtlich erwartet man sich überall von Gesundheitsministern, dass sie Wunderwuzzis und Medizinmänner mit dem Zaubertrank sind, der jedes gesundheitliche Problem eins, zwei, drei beseitigen kann. Das kann natürlich niemand auch nur annähernd erfüllen. Tatsache ist daher, dass in keinem anderen Bereich der Politik international 2020 so viele Minister ihren Job verloren haben wie in den Gesundheitsministerien.
- Das Versagen der österreichischen Gesellschaft:
Das Beklemmendste an Anschobers Rücktritt war sein Bericht über mehrere Morddrohungen gegen ihn. Was sind das nur für Menschen, die gegen den Innehaber des schwierigsten und unmöglichsten Jobs dieser Republik, der zwar gewiss überfordert gewesen ist, der sich aber immer anständig verhalten und rund um die Uhr bemüht hat, Morddrohungen ausstoßen!
Das Lob für Anschober
Es ist absolut vorbildlich, dass Anschober offen mit seinen Krankheitszuständen umgegangen ist – sehr im Gegensatz zu den Zeiten eines Kreisky oder Mock, die dazu auch oft gelogen haben.
Es ist auch immer ergreifend, wenn sich ein Mensch bis zum Letzten anstrengt. Auch und gerade dann, wenn am Ende ein Scheitern steht. Aber irgendwann scheitern wir ja alle. Und Anschober kann wenigstens mit erhobenem Kopf abtreten.
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