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Die Agonie von Christ- und Sozialdemokratie

Bald ist Österreich das letzte EU-Land, wo seit 1945 – mit einer kleinen dreijährigen Ausnahme – immer die gleichen zwei Parteien die stärksten gewesen sind. Bisher ist das auch in Deutschland so gewesen. Dort aber zeichnen sich jetzt dramatische Umbrüche ab. In vielen anderen Ländern hat es sich schon früher gezeigt: Sowohl Christdemokratie wie auch Sozialdemokratie haben ihre besten Zeiten deutlich hinter sich. Das haben soeben auch die Wahlen in den Niederlanden bestätigt. Das wird durch spannende Entwicklungen von Ungarn bis Slowenien noch beschleunigt. Zwar haben Schwarz und Rot im EU-Parlament – auf Grund ihrer bisher alle Mitgliedsstaaten umfassenden Struktur – noch eine relativ starke Rolle. Aber in den meisten Ländern schmelzen die beiden einstigen Volksparteien wie Gletscher im Sommer – wenn nicht überhaupt gleich ganze Eisberge abbrechen. Sie haben ein gemeinsames Problem: Während die abgehobenen Parteieliten immer mehr nach links abschwimmen und ihren bisherigen Wesenskern verlieren, bewegen sich die Wähler immer mehr nach rechts.

Das hat sich jetzt wieder in den Niederlanden deutlich gezeigt. Dort haben zwar die beiden Hauptregierungsparteien, die man als rechtsliberal beziehungsweise linksliberal einordnen kann, dazugewonnen. Das ist zweifellos eine Folge der Corona-Krise, die vielen Amtsinhabern vorübergehend einen – kürzeren oder längeren – Bonus gebracht hat. Das ist aber eben auch Folge eines weiteren Abschmelzens bei den einst dominierenden Christdemokraten, Sozialdemokraten, Sozialisten, die alle drei nun endgültig zu Kleinparteien geworden sind.

In der vielfältigen Parteienlandschaft der Niederlande hat sich aber noch etwas deutlich gezeigt (auch wenn die Berichte der Mainstreammedien das peinlich zu ignorieren trachten): Die Abgeordneten, die links vom Mitte-Block der beiden liberalen Parteien stehen, sind deutlich weniger geworden, während es rechts deutlich mehr geworden sind. Dort gibt es jetzt gleich Parteien, die man als rechtspopulistisch bezeichnen kann. Das zeigt, dass selbst in Zeiten, wo Corona alles zu überschatten scheint, die Themen der Rechtspopulisten – also vor allem Migrations- und Islam-Kritik – weiterhin Wählerwirksamkeit haben.

So wichtig die Niederlande mit ihren über 17 Millionen Einwohnern als siebentgrößtes EU-Land auch sind, so ist doch Deutschland als einwohnerstärkstes noch wichtiger. Und dort droht es die lange so dominante CDU/CSU derzeit geradezu zu zerreißen. Sie hat zum Unterschied von Rutte nicht nur ihren Corona-Führungsbonus vom vergangenen Frühjahr inzwischen schon wieder verloren. Die Unionsparteien werden gleichzeitig durch mehrere Korruptionsaffären erschüttert, bei denen sich Abgeordnete bereichert haben dürften.

In den Unionsparteien hat man gemeint, wenn man die Partei gemäß dem Merkel-Kurs geschickt nach links verschiebt, ist die eigene Mehrheit (und Zeit zum Geschäftemachen) garantiert – solange man alles rechts von der CDU als "Nazi!" denunzieren kann.

Dieses Modell ist jetzt im Platzen. Lebhaft drängt sich der Vergleich mit anderen europäischen Ländern auf, insbesondere mit Italien und Spanien. Auch dort haben die Christdemokraten lange dominiert, haben sich dabei auch immer mehr nach links verschoben und sind dann vor etlichen Jahren mit einem Knall durch Korruptionsaffären implodiert. In Italien hat es die damals mitregierenden Sozialisten noch mehr zerrissen. Auch in Frankreich hat sich auf der Rechten wie der Linken ein totaler Wandel vollzogen.

Ergebnis: Im zweit-, dritt- und viergrößten EU-Land sind heute sowohl auf der Rechten wie auf der Linken völlig andere Parteien dominierend als früher.

Das hängt zum Teil mit Korruptionsaffären zusammen. Diese waren aber oft nur Auslöser. Die Wähler sind in ihrer wachsenden Parteienskepsis nämlich meist zu nüchtern, um zu glauben, dass es total korruptionsfreie Parteien geben könnte. Sie finden sich meist mit Affären ab, solange diese halbwegs eingegrenzt bleiben, und vor allem, solange sie sich mit der von ihnen gewählten Partei inhaltlich identifizieren können oder zu ihrem Chef Vertrauen haben.

Die entscheidende Ursache der Erosion von Christ- wie Sozialdemokraten war der Verlust des inhaltlichen Drahtes zu den Wählern. Bei den einen hängt das mit der Erosion des katholischen wie evangelischen Christentums zusammen; bei den anderen mit der Mutation vieler Arbeiter zu Kleinbürgern. Rote wie schwarze Parteien haben beide den Fehler begangen, sich unter dem Einfluss von durch Politologie-Seminare Theorie-adipös gewordenen Beratern weg von den Wählern und hin zu linkem Ideologieschwampf zu entwickeln. Logische Folge ist, dass Christ- wie Sozialdemokraten viele Wähler an Parteien verloren haben, die jeweils rechts von ihnen positioniert sind.

Das gilt – um nur die bekanntesten zu nennen – etwa auf der rechten Seite für die Forza von Silvio Berlusconi oder die Lega von Matteo Salvini in Italien, sowie für den Partido Popular in Spanien mit seinen eigentlich franquistischen Wurzeln.

Das gilt auf der linken Seite für die "Fünf Sterne" in Italien und für die französische Macron-Partei.

In Österreich sind Christ- und Sozialdemokraten zwar noch die relativ stärksten Parteien. Aber die SPÖ liegt heute – trotz einer leichten Aufwärtsbewegung in den letzten Wochen – weit unter der Hälfte jener Wählerprozente, die sie in ihren besten Jahren unter Bruno Kreisky erreicht hatte. Auch die ÖVP hatte einst schon bessere Zeiten, wenngleich sie mit der Rechtsöffnung durch Wolfgang Schüssel und Sebastian Kurz wieder so erfolgreich geworden ist wie nie seit den 80er Jahren. Unter den linken ÖVP-Chefs Riegler, Busek, Pröll oder Mitterlehner war die ÖVP ja sogar noch tiefer gefallen als heute die SPÖ.

Diese Namen zeigen aber noch ein anderes deutliches Phänomen: Das ist die Bedeutung politischer Führungspersönlichkeiten für den Erfolg einer Partei. Was uns wieder nach Deutschland bringt.

Dort hat das Rezept der Angela Merkel etliche Jahre für die CDU scheinbar gut funktioniert: Eine ständige schleichende Linksverschiebung hat die Medien wohlwollend gestimmt, und Merkels langweilig-beruhigend-einlullende Führungspersönlichkeit hat die Wähler halbwegs bei der Stange gehalten. Viele haben sich mütterlich behütet gefühlt und nicht weiter für Politik interessiert.

Im Lauf der Zeit sind jedoch die überwiegend konservativ-bürgerlichen Wähler der CDU wegen der Inhalte der Merkel-Politik zunehmend unruhig geworden, die immer weniger die ihren waren. Sie haben jedoch nie eine Alternative zur CDU gesehen, obwohl sie von Monat  zu Monat deutlicher erkannt haben, wie katastrophal Merkels politische Hinterlassenschaft geworden ist:

  • Grenzöffnung für Migrantenmassen aus Asien und Afrika;
  • Zustimmung zum Weicherwerden des Euro wider alle Versprechungen bei der Aufgabe der D-Mark;
  • Totalabsage an jede auch nur indirekte Kooperation mit der AfD, was für die Linke die Garantie ist, dass mindestens eine ihrer Parteien immer mit in der Regierung sitzt (im Gegensatz zur ÖVP, die gerade wegen der zweimaligen Öffnung gegenüber der FPÖ ihre größten Erfolge in den letzten 50 Jahren erzielt hat);
  • Verlust etlicher früherer CDU-regierter Bundesländer;
  • und massive Schäden für die einstige deutsche Wirtschaftsstärke durch Zertrümmerung von Atom-, Kohle- und Auto-Industrie.

Nicht nur das inhaltlich und ideologisch ruinöse Erbe Merkels ist für die CDU schlimm. Die Partei hat auch Ende März noch keine Ahnung, wer für sie im Herbst des gleichen Jahres als Kanzlerkandidat ins Wahlrennen gehen soll. Beide Favoriten für diese Aufgabe – die Herren Laschet und Söder – bemühen sich seit Monaten nur um parteiinterne Zustimmung und Devotheitsgesten gegenüber Merkel, sodass sie keine Energie mehr hatten, sich um die Wähler zu kümmern.

In der Union haben sich die Funktionäre ganz offensichtlich nur noch mit parteiinternen Spielchen befasst und damit, wer am Hofe Merkels gut ankommt. Sonst hätten sie zweifellos den bei den Wählern am besten ankommenden Kandidaten zum Vorsitzenden gewählt, also Friedrich Merz, der überdies auch den Linksruck der Partei zu deren Nutzen zurückgenommen hätte. Markus Söder, der eine Zeitlang ebenfalls als interessanter Merkel-Erbe infrage gekommen ist, hat sich in den letzten Monaten zu offensichtlich opportunistisch verhalten, als dass die Wähler vor ihm noch Respekt haben könnten. Und Laschet ist immer ein Funktionär geblieben und nie eine Führungspersönlichkeit geworden.

Allerdings hat die CDU einen klaren Vorteil: Sie kann sich vielen bürgerlichen Wählern noch immer als alternativlos verkaufen. Die AfD scheint nicht das Zeug zu haben, sie so abzulösen, wie es vielen anderen Rechtsparteien in Hinblick auf die dortigen Christdemokraten gelungen ist. Denn:

  • dazu ist die AfD intern viel zu zerstritten;
  • dazu fehlt ihr eine wählerattraktive Führungspersönlichkeit, die überdies auch den undisziplinierten Haufen intern zusammenhalten könnte;
  • dazu ist es in Deutschland zu leicht, eine Partei als nazi-nahe zu denunzieren (um diese Denunziation der AfD intensivieren zu können, hat man nicht einmal davor zurückgeschreckt, den Verfassungsschutz-Chef zu feuern und einen denunziationswilligen einzusetzen).

Daher wäre es zu früh, den endgültigen Abstieg der CDU/CSU zu prognostizieren. Am ehesten dürften bei den Wahlen die rechtsliberalen – mit Rutte vergleichbaren – Freidemokraten, aber auch die bisher international unbemerkt gebliebene Gruppe der "Freien Wähler" von der CDU- und AfD-Krise profitieren. Durchaus möglich ist jedoch auch, dass bürgerliche Wähler frustriert daheimbleiben und es erstmals seit längerem wieder eine linke Mehrheit in Deutschland gibt.

Sollte es diese geben, würde mit Sicherheit auch so regiert werden. Und sollte sich die nicht ausgehen, dann droht alternativ als Grabstein der Merkel-Ära eine andere Koalition ohne CDU, nämlich eine halblinke Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen.

Bei diesen beiden CDU-freien Varianten ist durchaus möglich, dass nicht die Roten, sondern die Grünen den Kanzler stellen. Die deutschen Grünen haben ja derzeit einen kräftigen Flow, sehr zum Unterschied von den verlierenden österreichischen und niederländischen Grünen. Aus mehreren Gründen:

  • Die deutschen Grünen sind nicht durch die Mühen der Regierungstätigkeit beschädigt;
  • sie können also voll als Protestpartei punkten und doch den Anschein der Seriosität haben;
  • sie haben (wie in vielen Ländern) massive Unterstützung durch die Mainstream-Medien, insbesondere die Gebühren kassierenden;
  • sie haben zum Unterschied von der SPD derzeit einige attraktive Leute an der Spitze;
  • sie sind im bürgerlich-studentisch-künstlerischen Milieu sehr modisch;
  • sie haben auch ein paar durchaus bürgerliche Spitzenpersönlichkeiten, die sich sogar deutliche Migrationskritik erlauben, was anderswo für Grüne völlig tabu wäre.

Und vor allem profitieren in Deutschland die Grünen so wie in Italien die "Cinque Stelle" oder Macron in Frankreich von einer geradezu kontinentalen Daseinskrise der Sozialdemokratie. Die klassische Arbeiterpartei hat in den meisten Ländern einfach nicht begriffen, dass viele aus der Arbeiterklasse zu Kleinbürgern geworden sind, die mit einer Partei nichts mehr anfangen können, die voll von Genderismus, Blacklivesmatter, Schwulismus, Identitätspolitik, Political Correctness und ähnlichem zeitungeistigen Geschwafel ist. Den Arbeitern ist ihr Arbeitsplatz und die sichere Stromversorgung ihres kleinen Häuschens wichtiger als irgendwelche Klimaslogans. 

Wechseln wir vom Abstieg der Sozialdemokratie wieder zurück zum Abstieg der europäischen Christdemokratie:

Es kann nur als kranker Selbstzerstörungstrieb bewertet werden, dass als absurde Gegenbewegung zum eigenen Abstieg der Christdemokraten in vielen, besonders den einwohnerstärksten EU-Ländern jetzt die erfolgreichste Partei der "Europäischen Volkspartei" endgültig aus dieser EVP hinausgemobbt worden ist. Also die ungarische Fidesz.

Noch absurder: Dabei hat ausgerechnet die CDU/CSU am Tiefpunkt der eigenen Korruptionsaffären und Führungskrisen die traurige Hauptrolle gespielt (gegen den Widerstand aller ÖVP-Abgeordneter, sei zu deren Ehre gesagt – freilich wie immer mit Ausnahme von Othmar Karas).

Und am absurdesten: Ausgerechnet die Fidesz-Partei ist die einzige Partei der europäischen "Christ"-demokraten gewesen, die deutlich christliche Inhalte gesetzt hat, nicht nur Worte. So hat sie etliche gezielte Hilfsprogramme für die christlichen Minderheiten in islamischen und anderen Ländern organisiert und finanziert. So hat sie die weitaus beste Förderung von Familien mit Kindern von ganz Europa gestartet. Aber Familienförderung und Hilfe für Christen ist den nach links abgeschwommenen Parteieliten halt zu rechts. Sie bleiben lieber unter sich und fördern wie die CDU lieber islamische Einwanderer.

Christen würden zu einer solchen Christdemokratie sagen: Der Heilige Geist weht halt, wo er will, und nicht dort, wo "christlich" draufsteht, wo aber in Wahrheit als einziger erkennbarer Inhalt EU-zentralistischer Machtanspruch auf Kosten und zum Schaden der einzelnen Nationen drinnen ist.

Viktor Orbán ist inzwischen schon dabei, ein neues Bündnis mit der starken polnischen Regierungspartei unter Jaroslaw Kaczyński zu schmieden. Genau zu diesem Thema hat es jetzt auch direkte Kontakte zwischen dem slowenischen Premier Janez Jansa, der (noch?) in der EVP verblieben ist, und dem Italiener Salvini gegeben, der wiederum (noch?) mit der FPÖ in einer EU-Fraktion steckt. Alle vier genannten Politiker sind in Sachen Corona ziemlich einig – aber gänzlich anders unterwegs, als Herbert Kickl derzeit die FPÖ führt.

PS: Aus einer nicht allzu fernen ÖVP-Vergangenheit ist übrigens in Erinnerung, wie eng Wolfgang Schüssel sowohl mit Jansa wie auch Orbán gewesen ist ...

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