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Immer mehr Länder Mittel- und Osteuropas sind zunehmend enttäuscht von der Europäischen Union. Aus vielerlei Gründen. Die beiden wichtigsten sind: erstens das unerträgliche Gehabe der deutschen Politik, die sich gegenüber diesen Staaten zunehmend wie ein Kolonialherr benimmt; und zweitens die Erfolge des Tricks der inneren Linksopposition in diesen Ländern, die politische Auseinandersetzung mit den regierenden Konservativen ständig über Denunziationen bei der EU zu dramatisieren (mit nachträglicher Ergänzung).
Dieser Vorgang erinnert Österreicher lebhaft an das Jahr 2000. Damals war es der SPÖ gelungen, die anderen EU-Staaten zu Sanktionen gegen Österreich wegen der Bildung einer schwarzblauen Regierung zu veranlassen. Die Sozialdemokraten waren mit dieser Strategie einige Monate sehr erfolgreich und bewirkten etliche Demütigungen der Österreicher. Europaweit wurde eine Zeitlang der Eindruck erweckt: Der Einzug der FPÖ in die Regierung bedeute die Abkehr Österreichs vom Rechtsstaat und die Zuwendung zum Rechtsextremismus (obwohl die SPÖ nur eineinhalb Jahrzehnte davor selber mit der FPÖ koaliert hat – obwohl es damals bei der FPÖ tatsächlich noch einige "Ehemalige" gegeben hat). Wie geplant ist diese Denunziation von vielen europäischen Journalisten aufgenommen worden, die ja mehrheitlich der Sozialdemokratie nahestehen; aber auch in Österreich haben sich Kronenzeitung und ORF ähnlich unrühmlich verhalten.
Das hatte damals bei den Österreichern einen schweren Schock ausgelöst. Fast ein Jahr lang standen sie unter dessen Eindruck, psychologisch in etwa vergleichbar mit den heutigen Empfindungen zur Corona-Pandemie. Die Bekämpfung dieser infamen Politik wurde für die ÖVP-FPÖ-Regierung unter Wolfgang Schüssel das, was die englische Sprache mit dem Begriff "Uphill Battle" beschreibt.
Am Ende gewann jedoch Österreich. Die öffentliche Meinung stellte sich entgegen den Erwartungen von SPÖ, ORF und Krone massiv auf die Seite der blauschwarzen Regierung. Worauf die Krone nach wenigen Tagen ihre Linie um 180 Grad wendete. Worauf ORF und SPÖ missmutig so zu tun begannen, als hätten sie mit der Österreich-Denunziation nie etwas zu tun gehabt. Worauf die EU-Länder rasch ihre Sanktionen entsorgten.
Fast wäre es damals aber gelungen, Österreich in die Knie zu zwingen. Bundespräsident Klestil war schon dabei gewesen, um an der demokratischen Mehrheit vorbei in extremer Überinterpretation der Verfassung ein Beamtenkabinett zu installieren. Erst im allerletzten Moment ist er dann davor zurückgeschreckt (woran übrigens damalige Kommentare des Tagebuch-Autors eine entscheidende Rolle gespielt haben dürften, wie mehrere Zeitzeugen bestätigt haben).
Ganz ähnlich sind die Vorgänge, die sich jetzt zwischen den EU-Institutionen und den Reformländern abspielen. Besonders im Visier der linken Denunzianten sind die Regierungen Ungarns, Polens, Sloweniens und Bulgariens. In der Slowakei und Tschechien ist hingegen die innenpolitische Lage derzeit zu chaotisch und im Fluss, als dass eine politische Kraft schon die EU-Denunziationskarte spielen hätte können, was aber auch dort jeden Tag passieren kann.
Gemeinsame Ursache der erfolgreichen Denunziations-Strategie: In all diesen Ländern haben die postkommunistischen Sozialdemokraten schwere Niederlagen erlitten. Das motiviert die Sozialdemokraten im Osten zu panischen Anklagen, und jene im Westen dazu, alle Anklagen sofort ungeprüft zu übernehmen.
Aus den drei kleinen baltischen Staaten hingegen wird mit großer Wahrscheinlichkeit niemand diese Karte spielen: Dort bemühen sich alle, dass ihre Länder dem großen Nachbarn in Moskau nicht den kleinsten Vorwand liefern dürfen, etwa zur Wiederherstellung angeblich bedrohter Ordnung oder zum Schutz der russischsprachigen Minderheit zu intervenieren.
Es gibt freilich auch ganz große Unterschiede zwischen Österreich 2000 und Mittelosteuropa 2021: Heute wird nicht nur ein einzelnes Land gemobbt wie damals Österreich, sondern gleich eine ganze Reihe. Die Alpenrepublik hat sich 2000 sehr einsam gefühlt und wäre unter einer weniger mutigen Führung als unter dem Trio Schüssel/Haider/Riess-Passer wahrscheinlich eingeknickt.
Die größte Kraft der heutigen Reformländer ist ihre psychologische Stärke. Ihre heutige emotionale Identität beruht vor allem darauf, dass es ihr Patriotismus und Nationalismus geschafft hat, die brutale sowjetische Herrschaft abzuschütteln, die ja nirgendwo (bis auf die Tschechoslowakei) auch nur den Hauch einer demokratischen Legitimation hatte. Für sie sind die Versuche der EU, wieder eine supranationale Herrschaft aufzubauen, daher nichts anderes als ein Déjà-vu, das sie als kolonialistisch empfinden.
Nur sehr naive Menschen etwa in Brüssel oder Berlin können glauben, dass sich Völker in die Knie zwingen lassen, deren Selbstverständnis auf der Überzeugung aufbaut, dass ihr nationales Aufbegehren die sowjetischen Panzer vertreiben hat können (beziehungsweise im Falle Sloweniens und Kroatiens die serbischen). Diese Selbstsicht in den Reformländern ist ein zentrales Faktum, egal auf wie viele andere Faktoren für den Kollaps der Sowjetunion man bei objektiver Analyse sonst noch stoßen sollte (wie es etwa die Klugheit und der Mut der Herrn Reagan, Bush, Schmidt, Kohl, Jelzin und Gorbatschow gewesen ist, oder das totale wirtschaftliche Versagen des real existierenden Sozialismus).
Daher werden sie auch niemals bereit sein, sich wegen der EU-Transfergelder demütigen zu lassen. Das verstehen aber viele EU-Politiker nicht, und verhalten sich immer wieder oberlehrerhaft gegenüber diesen Ländern, weil sie glauben, die (relative) wirtschaftliche Stärke der EU verleiht ihnen die dazu nötige Macht und Legitimation. Es gibt in Westeuropa heute weit und breit keine Politiker mehr, die eine Ahnung von Osteuropa haben, die geopolitisch zu denken imstande wären. Solche Politiker gibt es übrigens auch nicht mehr in Österreich. Sehr zum Unterschied vom späten 20. Jahrhundert, als in Wien einige große Persönlichkeiten eine stark starke mitteleuropäisch geprägte Außenpolitik gemacht haben, wie ein Mock, ein Busek, ein Schüssel, ein Rohan (auch wenn sie zum Teil untereinander zerstritten waren …).
Vor allem in Deutschland, dem größten EU-Land fehlen heute zum Unterschied von damals solche Persönlichkeiten. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher hingegen waren damals nicht nur mitentscheidend, dass die Wende so gut gelungen ist. Sie waren auch emotional den mittelosteuropäischen Völkern sehr zugewandt. Sie haben ähnlich wie schon vorher Willy Brandt aus der Geschichte gelernt: dass Deutschland niemals wieder die mittelgroßen Völker von den Polen bis zu den Kroaten von oben herab behandeln darf. Von dieser deutschen Haltung – die wirklich noch die Bezeichnung Haltung verdient hat – hat übrigens auch Österreich etliche Male profitiert.
Diese Linie vor allem eines Helmut Kohl ist heute jedoch in Deutschland völlig verschwunden, und damit auch aus der EU. Schon unter dem SPD-Mann Schröder und erst recht unter der CDU-Frau Merkel sind nicht einmal mehr Spurenelemente davon vorhanden. Jeder Deutsche glaubt (wieder), dass man all die Völker zwischen Deutschland und Russland als Verschubmasse behandeln kann, als Schulbuben, die man beliebig an den Ohren ziehen kann. Dass man (wenigstens) in Mittelosteuropa wieder Großmacht spielen kann.
Das ist eine katastrophale Haltung – auch für die EU selber. Diese steht ja überdies auch in vielerlei anderer Hinsicht jämmerlich da: Die bisherigen Tiefpunkte waren das Hinausmobben der Briten aus der EU, das Versagen bei der Impfstoffbeschaffung und die grob fahrlässige Geld- und Schuldenpolitik. Wird das Hinausekeln der Mittelosteuropäer der nächste, alle anderen noch übertreffende schwere Fehler – nicht beabsichtigt, aber letztlich logische Folge?
Zwar glauben viele EU-Mächtige, dass die Mittelosteuropäer aus Interesse an europäischen Kohäsions- und Infrastrukturgeldern, und aus Interesse am offenen Marktzugang bereit sein werden, sich zu verbiegen. Aber sie werden das in Wahrheit nur ein wenig machen. Und nur scheinbar. Dafür, dass sie nicht allzu viel nachgeben werden, sorgt nicht nur der Stolz auf ihre nationalen Revolutionen. Dafür sorgt auch die großartige wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre in den meisten dieser Länder, die rasch den Glauben entstehen hat lassen, dass man notfalls auch ohne EU-Gelder durchkommen kann.
Dafür wird nicht zuletzt auch der Blick auf Großbritannien sorgen: Sollten die Briten wirklich den Brexit gut überstehen, dann wird der Weg eines Austritts auch für andere EU-Mitglieder psychologisch attraktiv werden. Immerhin haben die Briten beim Thema Impfen schon einen tollen Triumph über die EU erzielt, und immerhin ist bisher keine der von den EU-Propagandisten angedrohten negativen Folgen für das Königreich eingetreten.
Das heißt nicht, dass weitere EU-Austritte morgen oder übermorgen stattfinden werden, oder dass sie von irgendjemandem beabsichtigt sind. Aber langfristig wird der Austritt weiterer Mitgliedsländer durch die gegenwärtige zentralistische und bevormundende Politik Brüssels und Berlins der Boden geradezu vorbereitet.
Die Folgen politischer Fehler treten ja oft erst Jahre danach und oft an völlig unerwarteter Stelle ein. Solche unbeabsichtigten Effekte sind in der Geschichte auch der letzten Jahre schon öfter passiert:
Natürlich ist in den mittelosteuropäischen Reformstaaten nicht alles perfekt. Ganz und gar nicht. Nur: Absolut jeder Vorwurf, der ihnen da gemacht wird, kann genauso gegen viele westliche Länder erhoben werden. Wenn er nicht überhaupt nur eine denunziatorische Fiktion der jeweiligen Opposition ist, was aber mangels Kenntnis der Länder und Sprachen vom Ausland oft nicht durchschaut wird.
Einige Beispiele:
Immer wieder tauchen in diesen Auseinandersetzungen aber auch sehr direkt die Pratzen eines neuen deutschen Imperialismus auf, auf die diese Völker extrem sensibel reagieren.
Immer öfter muss man in letzter Zeit zur Überzeugung kommen: Die Deutschen haben zwar in der Vergangenheit viel Tolles geschafft, aber aus der Geschichte wirklich zu lernen sind sie offensichtlich völlig außerstande (statt dessen finanziert die deutsche Regierung als angeblichen "Kampf gegen Rechts" eindeutigen Linksterrorismus …).
Nachträgliche Ergänzung: Sebastian Kurz hat sich mit seiner Impfstoff-Initiative beim jüngsten EU-Gipfel sehr energisch an die Seite der Mittelosteuropäer gestellt. Das ist angesichts der deutschen und italienischen Regierungspolitik der Beginn einer völlig richtigen Neuorientierung Österreichs - auch wenn der Erfolg in der Sache selbst noch völlig offen ist, hat doch der Gipfel die Frage den Botschaftern zur Entscheidung abgeschoben, die die Regierungschefs nicht lösen konnten. Die deutsche "Welt" sieht einen großen Erfolg von Kurz über Merkel. Die "Financial Times" sieht hingegen einen Misserfolg.