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Was wäre wenn: Corona-Seltsamkeiten von Tirol bis Wien

Es ist wie in den Nachkriegsjahren an den Zonengrenzen der Besatzungsmächte: Zwischen österreichischen Bundesländern werden nun wieder alle Reisenden kontrolliert. Ob man auch damals 1000 Uniformierte für die Abriegelung eines einzigen Bundeslandes gebraucht hat, ist zwar ungewiss (es hat freilich damals noch keine Autobahnen gegeben …). Klar ist jedoch, dass die nun für das Bundesland Tirol beschlossenen Maßnahmen ähnlich unpopulär sind, wie es einst die Kontrollen durch die Besatzungsmächte gewesen sind.

Diese Assoziation und dieser Mangel an Popularität lassen freilich noch offen, ob die nunmehrigen Maßnahmen in Sachen Seuchenbekämpfung falsch oder notwendig sind. Aber immerhin wird Tirol doch nicht abgeriegelt, wie tagelang verlangt, sondern jeder aus Tirol Ausreisende muss einen aktuellen Test vorweisen können. So wie halt damals eine I-Karte.

In einer einzigen Hinsicht sind die jetzigen Maßnahmen rund um Nordtirol freilich unvermeidlich und notwendig: Wären sie nicht beschlossen worden, wäre Österreich als Ganzes vom Zuchtmeister Europas, also von Deutschland, mit Quarantäne belegt worden, seit das eine aus Deutschland stammende, wenn auch in Innsbruck wirkende Virologin gefordert hat. Daher ist wohl nicht viel anderes übriggeblieben. Das hat inzwischen sogar der Tiroler Landeshauptmann begriffen.

Das ändert aber absolut nichts am Frust und Zorn, an der Depression und Verzweiflung nicht nur in Tirol darüber, dass wir dem schon mehrfach versprochenen Licht am Ende des Tunnels einfach nicht näherkommen. Es scheint vielmehr, dass es sich bei diesem Licht bloß um das Licht an der Rückseite eines vor uns mit hoher Geschwindigkeit davonfahrenden anderen Fahrzeuges handelt.

Unsere Wut wird auch dadurch nicht gerade kleiner, dass allzu viele Fragezeichen über der Tirol-Kontroll-Entscheidung hängen:

  • Die Entscheidung wird mit der mangelnden Wirksamkeit des AstraZeneca-Impfstoffes gegen die in Tirol kursierende "südafrikanische Variante" begründet, auf den die österreichischen Impf-Pläne zuletzt am meisten gesetzt haben. Aber: Gibt es für diese Annahme überhaupt ausreichende wissenschaftliche Beweise? Bekannt ist nämlich nur eine relativ kleine Studie aus Südafrika. Und immerhin hat die Weltgesundheitsbehörde WHO erst am Tag vor den Tiroler Beschlüssen die Freigabe genau dieses Impfstoffs offiziell empfohlen: und zwar für alle Altersgruppen!
    Damit ist zumindest eine andere, ebenfalls ein paar Wochen lang kursierende Negativ-Information über diesen Impfstoff widerlegt, dass er nämlich bei Älteren nicht wirken würde (einzige Grundlage dieser Befürchtungen ist gewesen, dass es anfangs zu wenige Tests über die Wirkung auch bei höherem Alter gegeben hat).
  • Ein weiteres Fragezeichen ist die erstaunliche Tatsache, dass ausgerechnet Tirol derzeit signifikant niedrigere Ansteckungs- und Erkrankungsraten aufweist als der Durchschnitt der Nation. Das scheint ein eindeutiger Widerspruch zur Befürchtung zu sein, die kursierenden Virus-Mutationen wären deutlich ansteckender.
  • Und: Nachdem es sehr aufwendig ist und viele Tage dauert, um herauszufinden, welche Virus-Variante eigentlich kursiert, kann niemand wirklich sagen, ob es nicht auch anderswo viel mehr "südafrikanische" Fälle gibt als bekannt. Die halt nur nicht auf die Mutation hin untersucht worden sind.

Die große Corona-Erschöpfung der Menschen nach elf Monaten der unterschiedlichsten Restriktionen wird mit Sicherheit noch dramatische Folgen haben. Psychische, wirtschaftliche, gesundheitliche, soziale.

Daran ändert die Tatsache nichts, dass praktisch alle Länder der Welt mehr oder weniger ähnlich unter der Pandemie und den verschiedenen Versuchen, sie einzudämmen, gelitten haben. Diese globale Ähnlichkeit der Krise beweist freilich eines: Es ist eine totale Realitätsverweigerung, wenn manche Menschen ernsthaft die von der FPÖ seit einiger Zeit ausgestreute Gräueltheorie glauben, dass alles eigentlich nur eine bösartige Erfindung des österreichischer Bundeskanzlers wäre, und dass alles wieder gut wäre, wenn dieser gestürzt würde.

Aber Tatsache ist ebenso, dass sich die Stimmungslage im Land immer mehr polarisiert. Das sieht man am Rückgang der im Frühjahr noch überragenden Glaubwürdigkeit von Sebastian Kurz. Das sieht man an den rückgehenden Umfragewerten der beiden Koalitionsparteien. Das sieht man daran, dass erstmals zwei andere seit 2019 in Agonie gelegene Parteien einen wahrnehmbaren Auftrieb erleben: Die SPÖ als Partei des Rufes nach noch viel schärferen Maßnahmen; und die FPÖ als Partei, welche im Gegenteil alle Maßnahmen für Blödsinn erklärt, welche die Pandemie für eine normale Grippe hält.

Das ist aber nur der im Grund sekundäre Blick auf die parteipolitische Ebene. Viel problematischer ist der Blick auf den emotionalen und gesundheitlichen Zustand der Menschen in allen Ländern als Folge der Lockdowns aller Arten. Schließlich sind wir soziale Wesen, die es kaum aushalten, wenn sie monatelang, ja ein Jahr lang total abgeschlossen sind. Dennoch leben allein in Österreich seit fast einem Jahr aus Angst vor dem Virus viele Hunderttausende in totaler, weit über alle behördlichen Vorschriften und Empfehlungen hinausgehender Isolation. Und europaweit sind das viele Millionen.

Noch folgenreicher sind die gewaltigen wirtschaftlichen Verluste, die mittel- und langfristig auch wieder zwangsläufig gesellschaftliche und politische Krisen auslösen werden. Hier drängt sich statt des Blickes auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg einer auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auf: Damals glaubte man auch, die großen Schäden durch den Krieg einfach durch Gelddrucken kompensieren zu können, wodurch alles binnen kurzem wieder gut werden wird. Stattdessen kam es zu einer unaufhaltsamen Kettenreaktion: Inflation, Verlust aller Ersparnisse, Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Nationalsozialismus, Holocaust (man muss ja immer einen Schuldigen für die eigenen Fehler jagen) und Weltkrieg II.

Ganz ähnlich wie nach 1918 wird uns auch heute ständig versichert, dass durch wirtschaftliches Wachstum und die weise Politik der EZB der gesamte Corona-Schaden binnen weniger Jahre wieder gutgemacht werden kann. Wer’s glaubt – ist nicht bereit, aus der Geschichte zu lernen.

Zurück zu unserer aktuellen Corona-Lage. Diese wirft gleich fünf Fragen auf, die freilich alle einen starken "Was wäre wenn?"-Charakter haben:

  1. Sollte die in Tirol grassierende südafrikanische Mutation wirklich so gefährlich sein wie behauptet – und mein persönliches Gefühl sagt, dass das mit rund 20 Prozent Wahrscheinlichkeit vielleicht doch der Fall sein könnte, – dann wird auch die Verantwortung des Tiroler Landeshauptmannes riesengroß. Dieser hatte sich ja wie ein kleines Kind tagelang gegen jede zielführende Maßnahme gewehrt und ein altes Trotz-Spiel wiederaufgeführt: "Alle Welt ist gegen uns arme unschuldige Tiroler." Was wäre, wenn er nicht tagelang etwa die rechtzeitige Abschließung der betroffenen Bezirke und Täler verhindert hätte, wie dies im Vorjahr ja schon in Salzburg und Tirol mit einigem Erfolg praktiziert worden war? Hätte man da nicht eine deutlich größere Chance gehabt, die Verbreitung zu stoppen?
  2. Zusätzlich muss man aber auch fragen: Was wäre, wenn die Polizei einen Beschluss, der am Dienstag getroffen wird, sofort umsetzen und nicht bis Freitag brauchen würde, um einsatzfähig zu sein? Zumindest ansatzweise hätte man das zweifellos gleich machen können. Und müssen. Gibt es doch nicht allzu viele Straßen- und Bahnverbindungen, die nach West oder Ost aus Tirol herausführen (und die Bayern werden wohl mit Sicherheit schon vorher imstande sein, die Zufahrten nach Tirol zu kontrollieren). Wenn die Annahmen richtig sind, die den Beschlüssen zugrunde liegen, dann gibt es ja keine Logik, dass die "südafrikanische" Virus-Variante so lange wartet, um sich auszubreiten.
  3. Mit noch viel größerer Dringlichkeit stellt sich eine solche Frage aber vor allem in Hinblick auf die EU: Was wäre, wenn die EU schon im vergangenen Frühsommer so wie etwa das Trump-Amerika und das Netanyahu-Israel begriffen hätte, dass das Thema Impfung dramatisch und dringlich ist und ultimative Kraftanstrengung erfordert? Die EU hätte eindeutig statt der üblichen bürokratischen Gemächlichkeit schon damals keine Mühen und Kosten scheuen dürfen, parallel(!!) zur laufenden Entwicklung von Impfstoffen auch gleich deren Massenproduktion in Auftrag zu geben – selbst auf die Gefahr hin, dass da manches überflüssig sein wird. Dann wären heute längst an vielen Orten neue pharmazeutische Produktionsstätten dabei, um uns heute schon ausreichend mit Impfstoff zu versorgen. Also auch mit jenen, bei denen bis heute niemand behauptet, dass sie gegen die Mutationen unwirksam wären.
  4. Ebenso fragt man sich, was wäre, wenn sich zumindest die Mitgliedsstaaten selber – also auch Österreich – schon damals dieses Themas viel energischer angenommen hätten? Spüren diese doch viel unmittelbarer als weltfremde Brüsseler Bürokratien die Folgen der Corona-Krise. Aber auch Österreich hat sich damit begnügt, dass ein Politologe des Wiener Gesundheitsministeriums in der Führung der entsprechenden EU-Kommission sitzt (und präpotente Interviews gibt, dass eh alles in Ordnung gewesen wäre). Dabei hat Sebastian Kurz ja selber schon im März erkannt, dass die Zeiten schlimm sein werden, bis es einen Impfstoff oder ein Medikament gibt. Medikament gibt es zwar bis heute offenbar keines, aber eben Impfstoffe gäbe es.
  5. Wäre dieses "Was wäre wenn" anders gelaufen, dann wären wir heute etwa schon so weit wie Israel, wo schon 60 Prozent geimpft sind. Israel hat jetzt mit Griechenland eine gegenseitige Anerkennung der Impfungen vereinbart, sodass man mit einem Impfzeugnis wieder frei ins andere Land reisen kann. In der EU scheitert hingegen bis heute die Erstellung eines elektronischen Impfpasses am Veto deutscher und französischer Juristen, die entdeckt haben, dass dann ja Nicht-Geimpfte beim Reisen diskriminiert wären. Ja eh. So sind halt alle am Reisen gehindert. Das ist sozialistische Gleichmacherei-Gerechtigkeit.

PS: All das wird noch übertroffen durch die Dummheit des jetzt präsentierten Wiener Planes eines Teilzeit-Lockdowns während des Wochenendes, während von Montag bis Donnerstag alles offen sein soll. Offenbar hat man im Wiener Rathaus entdeckt, dass das Virus nur von Freitag bis Sonntag ansteckend ist …

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