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Seit dem Heiligen Abend sind hierzulande und in weiten Bereichen der EU die Kommentare zum Brexit fast völlig verschwunden. Dabei ist dieser nun zum Jahreswechsel in Kraft getreten. Der Grund des Schweigens: Es ist eindeutig, wie der Sieger im historischen Nervenkrieg heißt: Boris Johnson. Das aber wollen Europa-Fanatiker nicht so gern zur Kenntnis nehmen. Johnson hat eine Lösung erkämpft, die nicht nur für die nach Freiheit lechzenden Briten gut ist. Diese könnte vielmehr auch für alle zukunftsbewussten Kontinentaleuropäer nachahmenswert werden, welche zwar eine enge Zusammenarbeit samt Freihandel in Europa wollen, für die aber die eigene nationale Identität und Souveränität ein unverzichtbares Gut ist, und die daher ob der von Jahr zu Jahr unheimlicher gewordenen Machtzentralisierungstendenzen in der EU besorgt sind. Diese Tendenzen haben nun in gleich zwei Eckpunkten des Brexit-Vertrages eine schwere Niederlage erlitten.
Diese doppelte Niederlage und die gesamteuropäische Perspektive, also die mögliche Beispielswirkung des Brexit-Vertrags, sind langfristig viel wichtiger als die aktuellen wirtschaftlichen Folgen des Deals. Aber auch diese sind - wenn man die Möglichkeit eines weiteren Verbleibs der Briten in der EU ausschließt - wichtig und positiv, wie etwa an den gekletterten Aktienindizes und dem erholten Euro-Kurs ablesen kann.
Im engeren Handelsbereich wäre so gut wie jede Art eines Abkommen besser gewesen als ein vertragsloser Zustand, ein No-Deal. Und zwar für beide Seiten, wenn auch für die Inseln mehr. Dies schon deshalb, weil (naturgemäß) für Großbritannien der Handel mit der EU einen weit größeren Prozentsatz des gesamten eigenen Handels darstellt, als für die EU jener mit der großen Atlantikinsel.
Zwar wird im Handel jetzt manches bürokratischer. Zwar gibt es künftig Zollformalitäten, wo es jahrzehntelang keine gab. Zwar müssen britische Produkte künftig durch Ursprungszeugnisse nachweisen, dass sie überwiegend im Vereinigten Königreich hergestellt worden sind. Aber das ist zumindest für größere Firmen relativ leicht lösbar. Aber wichtig ist, dass es weiterhin keine Zölle geben wird, dass die Briten de facto im Binnenmarkt bleiben.
Der wirklich wichtigste Erfolg des Boris Johnson – und die größte, wenn auch nicht öffentlich eingestandene Niederlage der EU – liegt darin, dass der EU-Gerichtshof keine Rolle mehr spielen wird. Die Machtallüren dieses EuGH waren ja psychologisch ein Hauptgrund, warum die Briten beschlossen hatten, die EU zu verlassen. Brüssel hatte umgekehrt bis zuletzt darum gekämpft, dass auch künftig in Streitfällen zwischen EU und dem Nicht-mehr-Mitglied Großbritannien der eigene Gerichtshof eine Rolle bekommt. Das ist der EU nicht gelungen durchzusetzen.
Sie muss sich vielmehr künftig auf gleicher Augenhöhe mit den Briten hinsetzen, um entstehende Streitfälle zu lösen. Das zu akzeptieren, wird den präpotenten EU-Bürokraten, Kommissaren, Abgeordneten und Richtern gewiss schwerfallen. Wenn die EU mit britischen Gesetzen nicht einverstanden sein sollte und sich nicht mit den Briten einigen kann, dann bleibt ihr künftig nur das Mittel, Zölle gegen die auf Grund dieser britischen Gesetze möglicherweise bevorzugten Produkte einzuführen. Das würde London natürlich mit Gegenmaßnahmen beantworten – was wiederum die EU zwingt, solche Zoll-Einführungen nur sehr bedachtsam einzusetzen.
Der zweitwichtigste Erfolg der Briten ist, dass sie auch bei einem weiteren Punkt, der sie aus der EU hinausgetrieben hat, nicht nachgegeben haben: Bei der von der EU betriebenen "Personenfreizügigkeit". Dahinter verbirgt sich psychologisch für die britischen Bürger (und viele andere Europäer) weit mehr als bloß die vertragsrechtliche Binnenmarkt-Freizügigkeit. Als deren Symbol hat zwar der "polnische Installateur" gegolten, der ob seiner Tüchtigkeit für das nicht sonderlich effiziente britische Kleingewerbe zur Bedrohung geworden ist. Viel wichtiger für die Mehrheit der Briten war aber schon beim damaligen Brexit-Referendum der Zorn über die – gar nicht aus, sondern nur über andere EU-Länder kommende – illegale Massenmigration aus Asien und Afrika.
Die Briten hatten ja im Juni über den Austritt zu entscheiden gehabt. Und da war die öffentliche Stimmung besonders stark von den Berichten über die im Herbst 2015 begonnene Massenmigration geprägt. Dieser Migrationstsunami hat ja etwa auch in Österreich den Machtwechsel in ÖVP und Regierung ausgelöst.
Da aber die drei EU-Machtzentren (der Gerichtshof noch mehr als Parlament und Kommission) trotz vieler solcher Anzeichen nicht ihre Pro-Migrations-Einstellung geändert haben, da weiterhin auf eine obligatorische "Flüchtlings"-Umverteilung gedrängt wird, da die ähnlich migrationsskeptischen Mitgliedsstaaten Polen und Ungarn in der Folge sogar noch stärker vom Rest der EU deswegen gemobbt worden sind, ist für die Briten beim jetzigen Brexit-Nervenkrieg glasklar gewesen: Weder eine weitere Rolle des EuGH, noch eine Regelung, die irgendwie Personenfreizügigkeit vorsieht, sind akzeptabel.
Beides war und ist Volk und Regierung der Insel wichtiger als die zweifellos existierenden, wenn auch überschaubaren Einschränkungen für den britischen Handel. Beides haben sie nun durchgesetzt.
Es ist übrigens ziemlich erschütternd, wie viele Mainstream-Journalisten diese zentralen Zusammenhänge nicht erkennen wollen, sondern weiterhin so tun, als ob die Briten nur aus Blödheit austreten würden, oder weil sie irgendwelchen Träumereien vom einstigen Empire nachhängen, oder weil Premier Johnson ähnlich wie seine Vorgänger Cameron und May ein Trottel wäre, der sich nicht einmal ordentlich frisieren kann.
Boris Johnson hat sich aber im Gegenteil jetzt zum wichtigsten und erfolgreichsten britischen Politiker seit Winston Churchill und Margaret Thatcher gemausert. Selbst die durchaus auch wichtigen und positiv einzuordnenden Premierminister John Major und Tony Blair stehen bei der historischen Einschätzung im Schatten dieser Drei. Sein jetziger Erfolg wird auch dadurch bestätigt, dass sogar der einstige Entzünder der Austritts-Forderung, Nigel Farage, nun voll Johnson zujubelt.
Johnson ist so wie Donald Trump ein konservativer Staatsmann, der energisch für die Interessen seines eigenen Landes kämpft. Aber er ist weit intelligenter, charmanter und raffinierter als der eitle Macho Trump.
Vielfach unbemerkt bei uns ist die Tatsache geblieben, dass sich in Großbritannien die Konservativen und Sozialdemokraten zuletzt deutlich näher gerückt sind. Das hat der Verhandlungsstärke Johnsons deutlich geholfen. Das ist auch ein hoffnungsgebendes Signal dafür, dass in der internationalen Sozialdemokratie wieder ein Gegentrend zum Linksruck der letzten Jahre (der für noch mehr Migration, für noch mehr Steuern und Regulierung, für noch mehr Umverteilung fremden Geldes agitiert) eintreten könnte, wofür es auch in anderen Ländern, sogar in österreichischen Bundesländern, zarte Indizien gibt.
Die wirtschaftlichen Nachteile für Großbritannien durch den Brexit sind jedenfalls keineswegs so groß, wie Brüssel und seine Propagandisten uns lange einzureden versucht haben. So ist die für London so wichtige Finanzindustrie vor Ort geblieben. So ist der Großkonzern Unilever extra wegen des Brexits ganz nach Großbritannien übersiedelt. So zieht kein größeres Industrieunternehmen ab.
Ein nie ausgesprochener Grund für das weitgehende Nachgeben der EU liegt im Sicherheitsbereich. Denn Großbritannien hat die stärksten Streitkräfte Europas. Das ist in Zeiten wichtig, da die benachbarten Diktaturen in Russland und der Türkei immer unberechenbarer geworden sind und immer mehr dazu neigen, die drückend gewordene eigene wirtschaftliche Schwäche durch außenpolitische Abenteuer zu kompensieren. Das letztlich erkannt zu haben, spricht nun doch auch für die Klugheit der heutigen EU, so blöd in den Jahren vor 2016 auch ihr Verhalten Großbritannien gegenüber gewesen ist.
Wie aber wird sich die Union nun selbst weiterentwickeln? Das scheint noch ziemlich offen. Da gibt es zwei Wege.
Einerseits haben mit dem Ausscheiden der Briten die Stimmen der wirtschaftlichen Vernunft, der nationalen Identität und der Vorteile der Marktwirtschaft jetzt ihren kräftigsten Partner verloren. Das ist ja die wahre Katastrophe des Austritts. Das könnte bedeuten, dass sich die zentralistisch-planwirtschaftliche-migrationswillige Linke in der EU nun noch mehr durchsetzen könnte. Schon das ablaufende Jahr hat ja der europäischen Unvernunft noch mehr Platz geschaffen: Das sah man am Weitergehen des Polen/Ungarn-Bashing, an der erstmaligen Schuldenaufnahme durch die EU und am prinzipiellen abgemilderten Festhalten an der Welcome-Politik sowie Flüchtlingsumverteilung.
Andererseits könnten aber doch die klügeren Europäer aus dem lauten Paukenschlag des Brexits lernen und die EU wieder auf jenen Erfolgskurs zurückführen, auf dem sie bis in die 90er Jahre gewesen ist. Das würde eine bewusste Beschränkung auf Handel und Binnenmarkt bedeuten, eine Aufgabe aller Träume von "Vereinigten Staaten von Europa", eine echte Subsidiarität.
Sollte die EU hingegen weiter in die Mitgliedsländer hineinregieren wollen, wird die Begeisterung für sie dort noch weiter abnehmen, auch wenn es die Menschen in den EU-Zentralen nicht verstehen, weil sie sich selbst ja wie ein aufgeklärter absoluter Monarch für überklug halten. Europa sollte sich daher dringend bewusst werden, dass mit dem britischen Austrittsvertrag jetzt ein Modell auf dem Tisch liegt, das auch andere Mitgliedsländer für sich einfordern könnten, wenn der europäische Weg zu sehr in die falsche Richtung geht, wenn sich einzelne Länder zu sehr gemobbt fühlen, wenn sich der Gerichtshof weiterhin zu sehr in die einzelnen Länder einmischt. Wie er es etwa auch bei Österreichs Studienzulassungs-Regelung und Sozialversicherungssystem getan hat.
Sollten sich jedoch die Klügeren durchsetzen, dann könnte das britische Modell endlich auch für die Schweiz eine Lösung darstellen, mit der seit Jahrzehnten erfolglos gerungen wird. Also ein Modell mit voller Teilnahme am Binnenmarkt, aber ohne Personenfreizügigkeit. Dafür zu kämpfen wäre auch gerade für Österreich wichtig. Liegt die Schweiz doch in Österreichs Außenhandelsstatistik an vierter Stelle, Großbritannien hingegen nur an neunter.
Das Gesamturteil mit einem Satz: Der Austritt der Briten an sich ist eine Tragödie, aber das Wie des Austritts ist im letzten Augenblick überraschend gut gelöst worden.
PS: Der von manchen Medien zur Stunde groß herausgestellte Widerspruch der schottischen Regionalparlaments zum Brexit-Vertrag ist rechtlich völlig irrelevant. Sehr wohl könnte er aber einen neuen Anlauf für ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum darstellen.