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Nawalny, Nord Stream und der Zar zu Moskau: die richtige Antwort

 

Es kann keinen vernünftigen Zweifel geben, dass der russische Präsident Putin zumindest indirekt die Verantwortung für mehrere Giftmordversuche wie jenen gegen den Oppositionspolitiker Nawalny trägt. Es kann keinen vernünftigen Zweifel geben, dass Putin die Verantwortung für kriegerische Eroberungen von großen Regionen in Georgien, Moldawien und der Ukraine trägt. Es kann keinen vernünftigen Zweifel geben, dass sich der weißrussische Diktator Lukaschenko ohne Unterstützung Putins nicht mehr im Amt halten könnte. Es kann keinen vernünftigen Zweifel geben, dass bei der jüngsten russischen Kommunalwahl im Interesse Putins grob manipuliert und betrogen worden ist. Wie aber soll die Europäische Union auf all das in Summe Unerträgliche reagieren? Da gibt es eigentlich eine eindeutige Antwort – aber sie wird nirgendwo auch nur diskutiert.

Diskutiert wird statt dessen überall nur das Verlangen, die Fertigstellung der Gaspipeline Nord Stream 2 zu stoppen,

  • weil sich Europa durch deren Inbetriebnahme in seiner Energieversorgung (die ja nur im Märchenbuch der Grünen durch Windmühlen & Co ausreichend erfolgen kann) für eine längere Zukunft allzusehr von Russland abhängig machen würde,
  • weil Russland als Folge Transitländer wie die Ukraine jederzeit unter Druck setzen könnte, indem sie ihnen den Gashahn abdreht,
  • weil ein Pipeline-Stopp die einzige Antwort darauf zu sein scheint, dass sich Russland in keiner Weise an internationale Rechtsregeln hält,
  • weil Russlands gegenwärtiges Verhalten eine dauerhafte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Europa darstellt,
  • weil Russland immer intensiver mit anderen Verbrecherstaaten kooperiert (wie etwa gerade jetzt durch gemeinsame Manöver mit dem Iran!),
  • weil die russisch-deutsche Pipeline insbesondere die Polen und Balten lebhaft an den ebenfalls über sie hinweg abgeschlossenen Molotow-Ribbentrop-Pakt am Beginn des zweiten Weltkriegs erinnert, der für sie so bittere Folgen hatte,
  • und weil diese Länder – immerhin gleichberechtigte EU-Mitglieder mit einem Anspruch auf gleichberechtigte Berücksichtigung ihrer Interessen – das schon seit vielen Jahren fordern (übrigens auch die USA, was aber weniger relevant sein sollte).

Jedoch: Das alles hätte man sich vor Beginn des Baus von Nord Stream 2 überlegen sollen (auch wenn zuzugeben ist, dass sich Russland bei Baubeginn noch deutlich zivilisierter benommen hat). Wenn Europa hingegen jetzt im allerletzten Augenblick die Fertigstellung von Nord Stream 2 abbricht,

  • dann würde es nicht nur Russland, sondern in hohem Ausmaß auch sich selber bestrafen;
  • dann würde die EU ähnlich vertragsbrüchig sein, wie man es jetzt – wohl zu Recht – den Briten im Brexit-Poker vorwirft;
  • dann wären Milliardenwerte an Pipeline-Investitionen sinnlos in der Ostsee versenkt worden;
  • dann kämen auf Europa auch noch gewaltige Schadenersatzprozesse diverser durch einen Baustopp schwer geschädigter Unternehmen zu;
  • und dann würde sich Europa allzusehr von den Preisforderungen US-amerikanischer Flüssiggas-Exporteure abhängig machen.

Zugleich müssen wir uns im Klaren sein,

  • dass Russland und sein zwar kleiner gewordenes, aber noch immer vorhandenes Potenzial nicht aus der Welt geschafft, nicht aus der europäischen Landkarte eliminiert werden kann;
  • dass Russland militärisch noch lange bedrohlich sein wird;
  • dass es zugleich kulturell – insbesondere in der klassischen Musik und Literatur – ein wichtiger und positiver Teil der europäischen Hochkultur ist (was selbst das realsozialistische Banausentum nicht ganz ausrotten hat können);
  • dass wir auch in den Sechziger, Siebziger und Achtziger lernen mussten, irgendwie mit – oder neben der großen Supermacht im Osten zu leben. Oft nicht gerne, aber doch, weil ja die Alternative allzu riskant gewesen wäre.

Also was tun? Einfach den Kopf in den Sand stecken und in alter Diplomatenmanier vorgeben, es wäre eh nichts Schlimmes passiert? Das würde ein übles Signal aussenden, dass Europa nur ein lächerlicher Papiertiger mit Funktionären ist, die niemand ernst zu nehmen braucht. Dieses Signal würde in vielen Ländern genau verfolgt werden, die an der Einhaltung korrekter internationaler Verhaltensregeln ebenfalls wenig Interessen haben. Und die Menschen in Russland müssten deprimiert zur Kenntnis nehmen, dass Diktator Putin tun kann, was er will, dennoch werden ihm die Europäer auch noch die Füße küssen …

Das kann es auch nicht sein. EU-Europa braucht vielmehr ein Bündel von Maßnahmen, mit denen es sich nicht selbst primär bestraft, die vielmehr Russland klar zeigen, dass es sich durch sein Verhalten selbst beschädigt.

Dazu sollten, dazu müssten insbesondere folgende vier Maßnahmen gehören:

Erstens, der rasche Aufbau der notwendigen Infrastruktur für den Import ausländischen, etwa amerikanischen Flüssiggases nach Europa. Dazu würden mindestens ein großer Verladehafen und eine Anschlussleitung an das innereuropäische Pipeline-Netz gehören. Damit würde Europa gegenüber beiden Supermächten seine Marktmacht als Gasabnehmer dramatisch verbessern. Es könnte dann sowohl Russen wie auch Amerikanern die klare Botschaft senden: Wenn ihr zu teuer seid, wechseln wir halt die Lieferanten. Der Vorteil der Diversifizierung von Lieferanten steht seit vielen Generationen in allen ökonomischen Lehrbüchern.

Zweitens müsste Europa in rechtlich verbindlicher Form fixieren, dass es ganz auf amerikanische Gaslieferungen wechseln würde, sollte Russland in irgendeiner Weise das Gas politisch (etwa gegen die Ukraine) einsetzen.

Drittens braucht die Absurdität einer doch irgendwie erstaunlichen Tatsache eine dringende Prüfung: Polen – das sich aus vielfältigen historischen Erfahrungen heraus von Russland möglichst unabhängig halten will – baut derzeit eine Gaspipeline von den britischen und norwegischen Gasfunden in der Nordsee nach Polen. Hingegen ist das westliche EU-Europa, welches den dortigen Gasfunden ja eigentlich viel näher liegt, an diesem Nordseegas desinteressiert. Als absurdes Ergebnis wird die polnische Gaspipeline die russisch-deutsche Pipeline im Meer kreuzen.

Viertens: Europa sollte sofort einen Boykott des noch für diesen September geplanten Formel-1-Rennens in Sotschi und ähnlicher Veranstaltungen in Russland beschließen. Dieses Rennen könnte auch an vielen anderen Orten stattfinden. Und außerdem haben ja fast alle relevanten Teams in der EU ihre Heimat, etwa in Deutschland, in Italien oder in Österreich. Die kann ein europäischer Konsens rechtlich zu einer Absage zwingen.

Gewiss: Solche Maßnahmen werden Russland nicht über Nacht ändern. Aber sie würden ohne unrealistische Selbstbeschädigung Europas ein klares und deutliches Signal aussenden, dass die EU bestimmte Verhaltensweisen nicht tolerieren kann und will. Die Union wäre damit für Millionen Menschen ein Leuchtturm mit einer Botschaft von Frieden UND Recht.

PS: Falls jemand der Moskauer Propagandathese Glauben schenken sollte, dass Putin selber von all den Giftanschlägen nichts gewusst habe, dann ist ihm wohl nicht mehr zu helfen. Denn selbst wenn immer nur Einzelgänger aus dem russischen Geheimdienst Täter gewesen sein sollten, so ist doch eindeutig, dass die russischen Behörden in keinem einzigen Fall zumindest nachher ernsthaft einen Täter gesucht hätten. Und im Fall Nawalny haben sie jetzt die Lächerlichkeit noch mehr auf die Spitze gebracht: Zwei Wochen nach der Vergiftung wird plötzlich die geheimnisvoll Unbekannte ins Spiel gebracht, die nach der Vergiftung ausgerechnet Richtung Deutschland verschwunden sei. Das alles ist nur noch grotesk (und erinnert irgendwie an den September 1939, als die Nazis einen polnischen Überfall auf den Sendern Gleiwitz als Ursache für den Weltkrieg fingierten …)

PPS: Ad Boykott eines Sotschi-Autorennens: Erstmalig könnten sich auch die vielen grünen NGOs einmal für etwas Sinnvolles einsetzen. Sie sind zwar gegen Alles und Jedes, aber bisher interessanterweise noch nie irgendwie gegen die energievergeudenden Autorennen aktiv geworden. Sind sie da etwa so intensiv geschmiert worden?

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