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Die Geschichte wiederholt sich wohl doch

Wie sich die Bilder gleichen: Wer hat da in diesen Stunden von Minsk nicht an die Dezembertage 1989 und an Bukarest gedacht! Auch Diktator Lukaschenko wird sich dessen wohl bewusst geworden sein. Seine Alternativen sind jetzt wohl nur noch auf wenige Tage beschränkt.

Als 1989 ein Regime des real-existierenden Sozialismus nach dem anderen wie ein Kartenhaus zusammengestürzt war, nachdem der sowjetische Machthaber Gorbatschow klargemacht hatte, dass er den Diktatoren der Satellitenstaaten nicht mehr als machterhaltender Retter zu Hilfe kommen werde, war nur noch einer übriggeblieben, der glaubte, das Ende des Kommunismus aufhalten zu können: der rumänische Diktator Ceausescu.

Jedoch hatten sich auch in seinem Land die Kräfte der Opposition zu regen begonnen. Und Ceausescu hat als Reaktion genau dasselbe getan wie jetzt Lukaschenko: Beide haben geglaubt, mit einer Massenversammlung treuer Arbeiter zeigen zu können, dass sie wichtige Teile des Volkes doch noch hinter sich haben. Jedoch: Die zusammengekarrten Arbeiter pfiffen Ceausescu aus, bereiteten ihm eine katastrophale Niederlage und trieben ihn in die Flucht. Genau dasselbe hat Lukaschenko jetzt versucht – und genau die gleichen Folgen hat er hinnehmen müssen. Selbst der Hubschrauber war das gleiche Fortbewegungsmittel, mit dem sich damals wie heute der jeweilige Diktator fortbewegte – weil es auf der Straße für ihn schon viel zu gefährlich war.

Die Unterschiede liegen nur noch in Details: Lukaschenko wagte noch direkt einen Dialog mit einigen der erzürnten Arbeiter, während der abgehobene Ceausescu nur noch hoch vom Balkon zu ihnen zu sprechen wagte. Auch hat Ceausescu zum Unterschied von Lukaschenko nicht mehr nach Moskau um Hilfe gerufen. Denn er hatte schon lange vor Gorbatschow mit Moskau gebrochen und einen nationalkommunistischen Alleingang Rumäniens versucht. Der ist aber genauso gescheitert wie der nationalkommunistische Alleingang Lukaschenkos, der nur nie so direkt mit Moskau gebrochen hatte, sondern eine Art Schaukelpolitik zwischen dem Westen und dem Imperium im Osten versucht hatte.

Aber insofern gleicht sich die Geschichte wieder weitgehend. So wenig wie Gorbatschow damals die Diktatoren in den anderen Satellitenstaaten zu retten bereit war, so wenig ist es heute Putin in Hinblick auf Belarus. Putin hat genug eigene Sorgen und Lukaschenko hat ihm lange genug Probleme bereitet. Es kursiert ja sogar die recht glaubwürdige Information, dass Lukaschenko sogar wirklich eine Vereinigung von Belarus mir Russland im Auge gehabt hat – aber mit ihm selbst als obersten Chef. Solche Träume liebt man in Moskau natürlich gar nicht. Putin will zwar sicher in Belarus künftig mitmischen, aber sicher nicht mit einem Lukaschenko.

Jetzt muss Lukaschenko im eigenen Interesse darauf schauen, dass sein Schicksal nicht den gleichen Weg nimmt wie das von Ceausescu. Dem ist zwar die Flucht aus Bukarest gelungen – aber er ist nach wenigen Tagen gefangen genommen und in einem wenig zimperlichen Verfahren samt seiner Frau getötet worden. Der bisherige Langzeitherrscher von Belarus ist wohl intelligent genug, um zu begreifen, dass jetzt im Staccato-Tempo ein Pfeiler seines Systems unaufhaltsam wegbricht. Diese Automatik ist wohl nicht mehr aufzuhalten.

Offenbar wird schon an sehr vielen Orten gestreikt. Polizisten wechseln die Fronten. Sogar im Staatsfernsehen ist es schon zur Wende gekommen.

Lukaschenko kann also in Wahrheit nur noch sein eigenes Leben retten und sich etwa nach Moskau absetzen, wo man ihm unter der Auflage, sich nie wieder in der Öffentlichkeit zu zeigen vielleicht ein ungeschorenes Überleben in einer einsamen Datscha zubilligen wird. Andere Optionen gibt es nicht mehr für ihn – außer in seinem Palast zu bleiben und abzuwarten, bis man ihn von dort ins Gefängnis bringt.

Der große Held des nun beinahe schon vollendeten Umsturzes ist das Volk. Es hat die Befreiung ganz ohne äußere Hilfe geschafft, da sich die EU peinlich desinteressiert verhalten hat – und ausgerechnet dem abtrünnigen Großbritannien die honorige Rolle überlassen hat, als erste dem Diktator die Anerkennung zu entziehen!

Das sind daher für die Weißrussen selber die Tage, aus denen für viele künftige Generationen wirksame Heldengeschichten entstehen. Von den tapferen Frauen, von den gefolterten Männern, von den ersten Polizisten, die auf die Seite des Volkes gewechselt sind.

Noch etwas ist ganz anders als 1989 in Rumänien: Das ist das Internet: Die Kontrolle der traditionellen Medien half dem Diktator gar nichts mehr. Über das Internet und über Satelliten verbreiten sich Wahrheiten heute viel schneller, als sie alle Kontrollversuche knebeln könnten.

Man kann fast so optimistisch sein, anzunehmen, dass in Zeiten des Internets so totalitäre Langzeit-Diktaturen, wie sie lange Phasen des 20. Jahrhunderts geprägt haben, nie mehr entstehen können. Lediglich im total abgeschirmten Nordkorea gelingt das noch weitgehend. Hingegen dürfte das chinesische Regime nur so lange Erfolg haben, als es durch ein ständiges Konsum-Wachstum die eigene Bevölkerung ruhigstellen kann – ein Wachstum, das aber jetzt durch Corona, die Weltwirtschaftskrise, die Boykottmaßnahmen wegen Hongkongs und durch den von den USA geführten Wirtschaftskrieg bedroht ist.

Aber auch schon in Epochen lange vor dem Internet haben römische wie auch deutsch-römische Kaiser oder französische Könige bei aller absoluten Macht immer wieder erleben müssen: Irgendwann kann es krachen, wenn das Volk allzu unzufrieden ist. Diese Unzufriedenheit kann man dann mit Brutalität eine Zeitlang niederhalten. Aber je mehr man das tut, umso gewaltiger wird letztlich die Befreiungsexplosion.

Wie aber kann es weitergehen, nachdem das Land fast sicher eine Zukunft ohne Lukaschenko haben dürfte?

In Brüssel sollte man jedenfalls damit rechnen, dass sehr bald von einem weiteren europäischen Staat ein Beitrittsantrag im Posteinlauf sein wird. Dieser Antrag aber wird der EU genauso wenig Freude machen wie der von etlichen anderen. Denn die Südeuropäer wollen keinesfalls schon wieder einen weiteren Mitesser am Tisch haben, an dem sie sich so lange so üppig bedienen konnten. Und die Deutschen sind unter Merkel total von Ängstlichkeit geprägt, nur ja nichts zu machen, was Moskau missfallen könnte.

Entscheidend wird daher erstens Frankreich sein, das einzige Land, das noch geopolitisch denkt; und zweitens, wie sehr sich die Mittelosteuropäer, vor allem Nachbar Polen, jetzt für Belarus engagieren – wodurch dann wirklich ein mächtiger Block entstehen würde.

Aber zugleich gibt es noch einen größeren – und gefährlicheren Nachbarn des Landes im Umbruch: nämlich Russland. Man sollte nicht vergessen, dass Belarus geographisch näher zu Moskau liegt als alle anderen Ex-Sowjetrepubliken. Welches Spiel wird Moskau spielen? Droht Belarus jetzt etwa gar ein ukrainisches Schicksal, wo man zwischen der EU und Moskau zerrissen wird und in einem unerquicklichen Zwischenstadium steckenbleibt? Mag durchaus sein.

Aber so und so sollte sich das Volk von Belarus noch in einer anderen Hinsicht an 1989 erinnern, und zwar an die Folgejahre der in die Freiheit gelangten Völker: denn bei aller Freude über die wiedergewonnene Freiheit und nationale Identität sind diesen sehr bittere Jahre bevorgestanden, bevor sie nicht nur in der EU gelandet, sondern auch jenen Wohlstand und jenen Erfolg hatten, die heute in den vier Visegrad-Ländern und den drei baltischen Staaten herrschen. Hingegen gibt es den in Rumänien zum Teil noch immer nicht, wo die Postkommunisten und sogar der Geheimdienst Securitate zulange noch mitgemischt haben, und ebensowenig in Bulgarien. Das sind beides heute die Armenhäuser der EU.

Die Menschen von Belarus könnten aus den unterschiedlichen Schicksalen der anderen Mittelosteuropäer vor allem eines lernen: Der Weg zum Wohlstand geht umso schneller und erfolgreicher, je konsequenter man zu einer Schocktherapie bereit ist. Diese ist freilich bei keinem Volk sonderlich populär – so sehr es auch ihre Früchte und Ergebnisse mag und ersehnt.

Daher wird es in den kommenden Jahren nach den Monaten der Freude über den Erfolg der Revolution sehr darauf ankommen, dass Belarus weise Führer findet, die den Menschen klarmachen können, dass der Erfolg über Lukaschenko nur die Ouvertüre zu einer mutigen Reformpolitik sein kann.

PS: Ob ich mich zu weit vorwage mit meiner Prophezeiung, dass Lukaschenko sich nicht mehr lange halten kann und dass Russland militärisch nicht intervenieren wird? Mag sein, aber dann wäre es wohl die schlimmste Fehleinschätzung meiner publizistischen Tätigkeit. Dann kann ich mich nur ein Leben lang dafür schämen (wie es etwa auch Hugo Portisch tun sollte, den ich noch im Ohr habe, wie er im Sommer 1968 viele Wochen allabendlich den Zusehern versichert hat, dass die Sowjets nicht in der Tschechoslowakei einmarschieren werden ….).

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