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Warum es 70 Jahre nicht zum großen Krieg gekommen ist

Stefan Karner, Österreichs derzeit interessantester Historiker, hat zusammen mit etlichen anderen Experten erstmals in den von ihm schon öfter besuchten russischen Archiven über den Übergang vom Kalten Krieg zur Ära der Entspannung forschen können. Damit liegt letztlich die epochale Frage vor uns: Was war eigentlich die Ursache, dass es damals und in dem halben Jahrhundert seither nicht zu der großen Konfrontation zwischen Ost und West, also zum Atomkrieg gekommen ist, den gerade in den 70er und 80er Jahren, über die Karner geforscht hat, so viele Europäer gefürchtet, ja als fast unausweichlich angesehen haben?

Karner hat zusammen mit seinen Kollegen Borchard, Küsters und Ruggenthaler in den Moskauer Dokumenten Erstaunliches herausgefunden (und dieses nun in einem großen Werk "Entspannung im Kalten Krieg" veröffentlicht): Der damalige sowjetische Machthaber Leonid Breschnjew spielte eine sehr persönliche Schlüsselrolle beim Weg zur Entspannung. Statt wie seine Vorgänger die kommunistische Ideologie offensiv in die Welt tragen zu wollen, hat er sich lieber – wenn auch recht erfolglos – darauf konzentriert, statt der Schwer- die Konsumindustrie zu forcieren. Breschnjew musste dabei aber massive interne Widerstände überwinden: im sowjetischen Politbüro, aber auch bei den anderen kommunistischen "Bruderländern", insbesondere der DDR und Polen.

Breschnjew wollte aber nicht nur eine stärkere Konsumorientierung herstellen, sondern der Sowjetunion angesichts der wachsenden Bedrohung durch China auch den Rücken Richtung Europa und Amerika freihalten. Er wollte überdies die im Zweiten Weltkrieg und durch die Vereinbarungen von Jalta erfolgte Eroberung halb Europas abgesegnet bekommen.

Andere Historiker sehen hingegen Willy Brandt und dessen engsten Mitarbeiter Egon Bahr als die Architekten der Entspannung. Die beiden haben mit ihrer "Ostpolitik" den Ausbruch aus der Enge der deutschen Hallsteindoktrin gesucht und gefunden (diese Doktrin bestand in der Weigerung Deutschlands, mit einem Staat Beziehungen zu unterhalten, der die in der sowjetischen Besatzungszone geschaffene DDR als Staat anerkennt). Wieder andere Experten sehen schon in der Politik des 1963 ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy den klaren Weg zur Entspannung vorgezeichnet.

Wahrscheinlich haben alle Recht. In vielen Hauptstädten wurde damals gleichzeitig das Ruder zunehmend auf Frieden und Entspannung, auf Ostpolitik und (in Moskau) auf Westpolitik gedreht.

Merkwürdigerweise wird von den Historikern, die dazu viele Details herausgefunden haben, jedoch kaum die gemeinsame Antriebskraft der Entspannungspolitik gesucht. Warum hat dieser Prozess überall so gleichzeitig stattgefunden, dass sich die Staatsführer Richtung Entspannungspolitik bewegen? Diese Gleichzeitigkeit des Entspannungs- und Friedenswillens führender Staatsmänner kann nicht bloß ein voluntaristischer Zufall gewesen sein.

Ursache dieser Gleichzeitigkeit ist vielmehr mit großer Wahrscheinlichkeit die durch Fakten erhärtete und vielerorts gleichzeitig eintretende objektive Erkenntnis gewesen: Große Kriege sind nicht mehr führbar, sind nicht mehr gewinnbar. Diese Erkenntnis hat damals zu komplett neuen Spielregeln und Verhaltensweisen in der Weltpolitik geführt:

  • Daher haben sich alle Seiten politisch einige Schritte von allzu gefährlichen Konfrontationslinien zurückbewegt.
  • Daher ist es zu einer Reihe von Abkommen gekommen, die auch die Gefahr reduzieren konnten, dass es durch Zufälle oder Pannen zu einem Krieg kommt.
  • Daher wurde die Einteilung der Welt in Einflusszonen gleichsam eingefroren. Vor allem die Sowjetunion konnte in ihrer Einflusszone ungehindert und totalitär regieren. Die sogenannte Breschnjew-Doktrin einer bloß begrenzten Souveränität der Satellitenstaaten ist für Moskau dabei oberstes strategisches Gebot geworden.
  • Daher sind sich sowjetische und amerikanische Truppen nie mehr so gefährlich nahegekommen wie noch 1962, als die Sowjets versucht haben, auf Kuba Atomraketen zu installieren.
  • Daher haben die Amerikaner im Vietnamkrieg lieber eine demütigende Niederlage eingesteckt, als das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen einzugehen (den manche Generäle empfohlen hatten).
  • Daher hat Russland im Gegensatz zu den unmittelbaren Nachkriegsjahren seine expansiven Eroberungen nur noch dort gesetzt, wo von vornherein keine unmittelbare Involvierung der USA oder der Nato zu befürchten war: in Georgien, in Moldawien und der Ukraine. Moskau attackierte jedoch nie einen Nato- oder Bündnis-Partner der USA, wie etwa die baltischen Staaten. Dabei gibt es in diesen drei Ländern eine russische Minorität.

Die Ursache für all diese positiven Entwicklungen war keine plötzliche wundersame Zunahme von Verantwortungsbewusstsein. Die ganz eindeutige Ursache war vielmehr die Atombombe. Denn spätestens während der 60er Jahre hat sich überall, vor allem in Moskau und Washington, die Erkenntnis durchgesetzt (deren Vorläufer schon in den 50er Jahren zu einer ersten Entspannungswelle geführt hatten, siehe etwa den österreichischen Staatsvertrag): Ein Atomkrieg ist im Gegensatz zu allen bisherigen Kriegen der Geschichte nicht gewinnbar. Er kann nur mit der totalen Zerstörung beider Kriegsparteien enden.

Beider Seiten! Ein Überraschungsschlag, dem es gelänge, alle Atomwaffen der Gegenseite zu vernichten, bevor diese abgeschossen werden können, ist absolut undenkbar geworden. Vor allem aus zwei Gründen:

  1. Die Entwicklung von U-Booten mit Atomraketen, die unentdeckbar irgendwo in den Weltmeeren stationiert sind, hat beiden Seiten garantiert, auch als Angegriffener immer zu einem Zweitschlag imstande zu sein;
  2. Die Entwicklung von Spionagesatelliten, die aus dem Weltraum jede irgendwo auf der Welt startende Rakete entdecken, und daher sofort den Gegenschlag auslösen würden.

Das heißt aber: Während der gesamten Nachkriegszeit haben die Atomwaffen ein historisch ungeahntes Ausmaß an Frieden gesichert. Zwar toben derzeit wie praktisch zu jedem Zeitpunkt der Geschichte viele regionale Konflikte (übrigens fast alle in der islamischen Welt: Afghanistan, Jemen, Irak, Syrien, Libyen). Aber bei keinem besteht die Gefahr einer globalen Explosion. Hingegen:

  • Ähnlich wie zwischen Ost und West zeigt auch zwischen Indien und China die Atomwaffe ihre friedensstiftende Wirkung. Wenn es an der – im geographischen Verlauf recht unklaren – indisch-chinesischen Grenze Zusammenstöße mit etlichen Toten gibt, reagieren beide Seiten sofort so zurückhaltend, dass es bald wieder Ruhe gibt.
  • Ähnliches kann man auch an der Grenze Indiens mit Pakistan beobachten: Der Hass zwischen den beiden Ländern ist zwar seit ihrer Gründung gewaltig. Aber weil es da wie dort Atomwaffen gibt, sind die Konfrontationen kontrolliert geblieben.
  • Ähnlich ist Israel durch seine Atomwaffen (die es eindeutig, wenn auch offiziell verheimlicht,  besitzt) vor einer Wiederholung der früher regelmäßigen arabischen Überfälle geschützt. Diese Attacken gibt es seit dem Vorhandensein israelischer Atomwaffen nur noch durch Terrorgruppen, aber nie mehr durch ganze Staaten mit ihren offiziellen Armeen.

Damit stehen wir – weit jenseits der Wichtigkeit einzelner Staatsmänner – vor dem größten Paradoxon der Weltgeschichte: Die fürchterlichsten je entwickelten Waffen, Waffen, die das gesamte menschliche Leben auf Erden auslöschen können, haben mehr als alle Friedenskonferenzen der Weltgeschichte zusammen ein früher ungeahntes relatives Höchstmaß an Frieden auf Erden geschaffen.

Damit hat sich auch das globale Bewusstsein total verändert: Während in den 70er und 80er Jahren die Angst vor dem Atomkrieg alles durchdrungen hat, fürchten sich die Menschen heute vor vielem, aber kaum mehr vor einem Atomkrieg. Das bestätigt jede Meinungsumfrage. Umfragen zeigen die größten Ängste der Europäer (egal ob berechtigt oder übertrieben): vor der Massenmigration, vor der Islamisierung, vor einer Klimaveränderung, vor Umweltschäden bei Wald oder Wasser, vor einer wirtschaftlichen Verarmung Europas, vor neuen Pandemien, vor Künstlicher Intelligenz, vor dem Rassismus, vor dem Antirassismus, vor gewalttätigen Extremismen ...

Aber kaum einem Europäer kommt – total im Gegensatz zu den 70er und 80er Jahren – Angst vor einem Atomkrieg in den Sinn.

Freilich: Die Atomwaffen sind trotz etlicher Abrüstungsverträge immer noch vorhanden, wenn auch in kleinerer Zahl. Während damals einzig die zwei Supermächte alle einschlägigen Analysen dominiert haben, ist ihnen heute mindestens China fast gleichgewichtig an die Seite getreten. Das macht die alten Abrüstungsmodelle hinfällig, wo die Russen einfach ein Gleichgewicht gegenüber den Amerikanern beanspruchen konnten.

Das, wovon viele träumen, ist jedoch völlig ausgeschlossen: eine Welt ohne Atomwaffen. Nicht nur weil es dann mit Sicherheit wieder viel mehr konventionelle Kriege geben würde (wobei die "Konvention" der beiden Weltkriege oder der Napoleonischen Kriege oder des Dreißigjährigen Krieges ja jeweils für Millionen Menschen den Tod bedeutet hatte …). Sondern auch, weil längst zu viele Staaten solche Waffen haben, als dass Abrüstung eine Chance hätte. Sondern auch, weil das Wissen um die Atombombe nun einmal in der Welt ist und nie mehr aus dieser entfernt werden kann. Was fast jederzeit die Gefahr des Baus neuer Nuklearwaffen möglich macht.

Gewiss sollten wir – unabhängig von den bisherigen Fortschritten bei der Friedenssicherung – jede Chance nutzen, die Gefahren eines Atomkriegs weiter zu reduzieren, durch Reduktion der technischen Fehlermöglichkeiten, durch ständigen Einsatz für Konfliktlösungen auf Basis des Völker- und Naturrechts, also durch mehr Gerechtigkeit (weil nur solche dauerhaft sind).

Wir sollten, tun aber nicht.

Aber unabhängig davon gilt: Letztlich muss die Menschheit – auch wenn sie das verdrängt – mit der eigentlich schizophren machenden Tatsache leben, dass sie ihren Frieden einer fürchterlichen Drohung verdankt, dass die Gefahr irgendeiner letalen Panne bei allen Bemühungen nie mehr aus der Welt geschafft werden kann.

Am schlimmsten aber ist die Gefahr, dass eines Tages einmal in irgendeiner Staatskanzlei ein Wahnsinniger sitzen könnte, der von der kranken Lust gepackt wird, auf den Auslöseknopf zu drücken.

Letztlich war ja das größte Glück der letzten 70 Jahre, dass überall rationale Menschen agieren, die alle die Sinnlosigkeit eines Atomkriegs begreifen.

Auch wenn es bedrückend ist: Ich sehe keine Perspektive, dass nicht doch einmal ein solcher Wahnsinniger am Werk sein könnte.

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