Die österreichische Coronastrategie unter dem Mikroskop
12. Juli 2020 00:06
| Autor: Andreas Unterberger
Lesezeit: 10:30
Auch wenn wir noch lange vieles über die Corona-Epidemie nicht wissen, ist es doch dringend am Platz, eine erste Zwischenbilanz über die Erfolge, Gefahren und Nachteile der österreichischen Krisenstrategie zu ziehen – schon auch, um daraus zu lernen.
Die wichtigsten Eckpunkte eines solchen Überblicks:
- Österreich hat so wie ganz Europa den Ausbruch einer unbekannten Epidemie viel zu spät als ernsthafte Bedrohung registriert. Nachrichtendienste wie auch der diplomatische Apparat haben versagt. Wir haben viel zu lange der Weltgesundheitsorganisation WHO vertraut und nicht begriffen, wie stark diese von einem äthiopischen Kommunisten geleitete Organisation von China beeinflusst ist – und damit auch von dessen wochenlangen Unwahrheiten. Der Chef der WHO hat etwa noch am 15. Februar folgenden unglaublichen Satz gesagt: "Der größte Feind ist nicht das Virus, sondern das Stigma." Solche Sätze sagen politisch korrekte Menschen sonst immer in Hinblick auf Aids …
- Es rächt sich einmal mehr, dass wir – ebenfalls unter Druck Pekings – keinerlei Kontakt zu Taiwan haben, das schon der Sprache wegen viel besser Bescheid weiß als alle anderen, was im einwohnergrößten Land der Welt vor sich geht. Dabei ist Wissen über China von großer Bedeutung. Ist es doch immer noch eine brutale Diktatur voller Selbstinszenierung. Taiwan hat jedenfalls schon im Dezember, zweieinhalb Monate vor Österreich die ersten Anti-Corona-Maßnahmen gesetzt.
- Österreich hingegen hat noch bis in den März Flugzeuge aus China ungehindert landen lassen und die Passagiere auch nicht kontrolliert – also noch lange nachdem auch Peking selbst die Epidemie zugegeben und erschreckende Bilder aus Wuhan gezeigt hatte.
- Österreich hat bis März keine wahrnehmbaren Vorbereitungen gesetzt, wie etwa Einschränkung des Zugangs zu Spitälern, Beschaffung von Material wie Schutzkleidung und Masken, Einkauf der nötigen Chemikalien für Massenimpfungen oder konkrete Notfallsplanungen.
- Ab Mitte März wurde dann die Richtung plötzlich um 180 Grad gedreht. In kurzen Stufen kam es durch ständig neue, oft widersprüchliche Verordnungen des Gesundheitsministers zum völligen Lockdown. Schulen, Veranstaltungen, Museen, Kirchen, Gasthäuser fast alle Geschäfte wurden geschlossen. Das kam wie ein lähmender Schock über Österreich. Kein Oppositionspolitiker und nur wenige Journalisten haben das zu kritisieren gewagt.
- Offensichtlich hat die Politik erst auf Grund schockierender Bilder aus Italien reagiert, wobei freilich bis heute nicht wirklich klar ist, warum es in Italien, Spanien oder Belgien so schlimm zugegangen ist. Es gibt Hinweise auf sehr spezifische Fehler in diesen drei Ländern, etwa auf den Zustand der Spitäler oder die Tatsache, dass die spanische Linksregierung noch am 8. März in 75 Städten zu feministischen Frauenmärschen aufgerufen hatte.
- Bundeskanzler Sebastian Kurz hat mit drastischen Erklärungen die auch in allen Medien ausgebrochene Panikstimmung unterstützt. So sagte er, dass bald jeder jemanden kennen werde, der an Corona gestorben ist; oder dass es in Österreich 100.000 Tote geben wird.
- Später bekannt gewordene Protokolle zeigten, dass Kurz durchaus absichtlich Alarmstimmung ausgelöst hat. Eigentlich müsste das zu einem politischen Vertrauensproblem führen. Jedoch hielten die Österreicher auch im Nachhinein sein Vorgehen für richtig. So zeigte auch zwei Monate nachher eine Umfrage, dass erstaunliche 58 Prozent der Meinung waren: "Auch wenn es übertrieben war", sei die Warnung des Bundeskanzlers nötig gewesen. Lateinkenner erinnern sich an den Satz: Mundus decipi vult, ergo decipiatur. Die Welt will getäuscht werden, also sei sie getäuscht. Sogar drei Viertel der Bevölkerung haben auch im Nachhinein die (inzwischen wieder zum guten Teil gelockerten) Maßnahmen für richtig gehalten.
- Es wäre trotz der großen Umfrageerfolge der Koalition völlig falsch zu behaupten, die Regierung habe die Corona-Krise absichtlich entfacht. Schließlich hat es diese in fast allen Ländern gegeben. Aber ebenso falsch wäre es zu glauben, dass sich die Regierungsmitglieder über die positiven Imagefolgen für sie selbst nicht sehr bewusst geworden wären.
- Es gab freilich auch in vielen anderen Ländern erhebliche Imagegewinne für die Regierungen: Von Boris Johnson bis Angela Merkel und Viktor Orbán. In Spanien hingegen erlitt die sozialistische Regierung einen dramatischen Vertrauensverlust. Sie hat nicht den Eindruck erwecken können, die Lage im Griff zu haben. Für die anderen Länder und eben auch Österreich aber gibt es eine ganz klare Erklärung, die man schon aus der Bibel kennt: In Stunden der Angst und Gefahr drängen sich die Schafe um den Hirten.
- Selbst wenn eigentlich viel zu spät reagiert worden ist, so ist doch Tatsache, dass Österreich im europäischen Vergleich sehr gut dasteht. Sei es wegen einer besseren Hygienekultur. Sei es, weil Österreich ein gut ausgebautes Gesundheitssystem hat, wo jeder bei Bedarf ein Intensivbett bekommen hat. Sei es, weil hier trotz allem in Relation früher und energischer reagiert worden ist. Jedenfalls schauen alle Vergleichszahlen für Österreich im Vergleich zu Süd- und Westeuropa sehr günstig aus (so hinterfragbar jede einzelne Statistik auch ist). Noch günstiger sind allerdings die Zahlen der östlichen Nachbarn.
- Seine Reaktion hat Österreich jedenfalls international Gutpunkte gebracht. Selbst Angela Merkel musste sagen: "Österreich war uns immer ein Stück voraus." Und laut der Agentur Bloomberg hat die amerikanische Regierung genau bei drei "Musterstaaten" Wege für den Umgang mit der Pandemie zum Abkupfern gesucht: bei Südkorea, Singapur und Österreich.
- Dennoch ist eindeutig, dass eine Fülle von Fehlern begangen worden ist, nicht nur in der Hektik der ersten Tage. So zum Beispiel:
- Eine mir bekannte Juristin hatte nach einer Asienreise eindeutige Symptome, ihr ist aber vom Corona-Telefon des Gesundheitsministeriums ein Test verweigert worden. Sie war alles andere als ein Einzelfall.
- Selbst die Mitarbeiter des ersten bekannten Corona-Kranken mussten die Tests auf eigene Faust und Rechnung bei einem privaten Labor durchführen lassen.
- Durch die totale Orientierung auf Corona sind zwei Monate lang viele medizinische Behandlungen unterblieben. Operationen und Untersuchungen wurden abgesagt, Menschen sind oft nicht zum Arzt gegangen, haben Spitäler als Quelle der Ansteckung gemieden. Gespenstische Folge: Sogar die Zahl der registrierten Herzinfarkte ist um 40 Prozent zurückgegangen. Der Lockdown hat mit Sicherheit zu vielen gesundheitlichen Problemen mit Langzeitwirkung geführt.
- Es wurden keine Obduktionen gemacht, sodass man nie wissen wird, wie viele nur mit dem Virus gestorben sind und wie viele wirklich an ihm gestorben sind.
- Der am meisten publizierte Fehler war der Fall Ischgl, wo Anfang März einige Tage zu spät auf Erkrankungen reagiert worden ist. Das hat eine vierstellige Zahl an Infektionen ausgelöst, in Ischgl selbst allerdings nur zu zwei (wahrscheinlich) mit Corona zusammenhängenden Todesopfern. Unklar ist jedoch, warum Ischgl so explodiert ist und zu einem schweren Imageschaden für Österreich geführt hat. Hatte man damals vom Gesundheitsminister bis zum Bezirkshauptmann noch nicht begriffen, was die Krankheit bedeutet? Oder hat man aus Rücksicht auf die auslaufende Skisaison mit Verzögerung reagiert? Allerdings dürfte die Empörung der Opposition über Ischgl kontraproduktiv sein: Vor allem in Westösterreich sieht man jede negative Schlagzeile primär als Schaden für den Tourismus an.
- Der empörendste Fehler der ganzen Corona-Zeit ist erst im Mai, also nach der teilweisen Entspannung passiert, wo man sich nicht mehr auf das Chaos eines plötzlich ausgebrochenen Notstandes ausreden konnte. Er bestand darin, dass afrikanische Asylanten, die wegen einiger Infektionen in ein Corona-Zentrum der Gemeinde Wien verlegt und mit einem Quarantäne-Bescheid belegt worden sind, einfach den ganzen Tag arbeiten gegangen sind und dann in einem Paketzentrum der Post viele andere infiziert haben. Niemand in diesem Quarantäne-Zentrum hat sie am Weggehen gehindert. Es wurde keine Meldung an die Polizei gemacht. Der Quarantänebruch ist offenbar nicht einmal aufgefallen.
- Nicht nur angesichts eines solchen provozierenden Verhaltens der Gemeinde Wien bröckelt die Stimmung inzwischen wieder etwas. So glauben nicht mehr alle, sondern "nur" noch drei Viertel der Österreicher, dass die Regierung absolut richtig gehandelt hat. So haben am Höhepunkt noch 23 Prozent das Virus als sehr bedrohlich bezeichnet, sechs Wochen später waren es nur noch 6. So sehen jetzt statt 20 Prozent schon 31 Prozent die Gefahr durch das Virus als übertrieben dargestellt an.
- Auch wenn man noch lange nicht alles weiß, muss man im Rückblick auf die Kernfrage tendenziell zum Schluss kommen: Österreich hat wie viele Länder überreagiert. Man hat durch die totale Konzentration auf die Seuche so viel Schaden angerichtet, dass dieser noch ein Jahrzehnt schwere Nachwirkungen haben wird. Gesundheitlich, sozial, psychologisch, ökonomisch. Es wird aber noch lange bis zu halbwegs seriösen Gesamtanalysen aller Schäden dauern. Diese laufen ja oft auf vielen Umwegen: beispielsweise auf dem Weg beruflicher Existenzverluste – Depression – Selbstmord.
- Freilich: Selbst wenn man aus heutiger Sicht die allzu scharfen Maßnahmen für falsch hält, so waren sie dennoch alternativlos. Aus zwei Gründen:
- Politisch: Hätte die Regierung weniger scharf reagiert, wäre sie weggefegt worden. Siehe etwa die schwere Krise der spanischen Regierung. Alle Medien haben wochenlang auf "Volle Kraft Panikmodus" geschaltet und damit der Regierung kaum eine andere Option gelassen. Die Medien taten das im Wissen, dass jede Emotion, ganz besonders Angst und Panik die Auflagen treiben. Die unter jahrelangem Leserverlust leidende "Zeit im Bild" des ORF etwa ist plötzlich auf zwei Millionen Zuseher hochgeschnallt (inzwischen freilich wieder auf knapp mehr als eine Million zurück). Daher hat die Regierung bei Geheimgesprächen mit Chefredakteuren diese keineswegs von der Richtigkeit des Panikmodus erst überzeugen müssen. Allerdings haben die Medien in ihrer Paniklust nicht begriffen, dass sie damit ihre zweite, wichtigere Einnahmenquelle total zertrümmern: die Anzeigeneinnahmen. Das aber hat die Regierung in bedenklicher Großzügigkeit blitzschnell aus Steuergeldern kompensiert.
- Ökonomisch: Jenes Industrieland, das am wenigsten herunterreguliert hat, ist Schweden. Das Land verzeichnet bei leicht größerer Einwohnerzahl zwar sechs Mal so viele Corona-Todesopfer wie Österreich (aber deutlich weniger als etwa Belgien, Italien, Spanien, Frankreich, Großbritannien). Aber Schweden hat dennoch nichts davon. Es kommt wirtschaftlich kaum besser aus der Krise. Die jüngste Wirtschaftsprognose der EU prophezeit Schweden für die Suumme der 2020 und 2021erwarteten Entwicklungen sogar eine schlechtere BIP-Entwicklung als Österreich! Es zeigt sich: Kein modernes Industrieland kann sich wirtschaftlich abkoppeln. Dazu ist die Globalisierung und gegenseitige Abhängigkeit schon viel zu weit fortgeschritten.
- Man könnte also zu dem Schluss kommen, dass Sebastian Kurz alles richtig gemacht hat: Er hat brillant kommuniziert, die erwähnten Pannen werden ihm nachgesehen, Österreich steht international exzellent da, es hat relativ früher reagiert und relativ niedrige Opferzahlen. Dennoch muss man ganz eindeutig sagen: Nein, Kurz verantwortet trotz all dieser Erfolge zwei ganz schlimme Fehler, die nicht bloß in kurzfristigen Pannen bestehen, wie einem kurzen Gedränge der Begeisterung im Kleinen Walsertal, die von Opposition und Medien hochgespielt worden sind. Es geht vielmehr um zwei sich über Wochen hinwegziehende politische Linien des Bundeskanzlers und der Minister.
- Der eine große Fehler war der fahrlässige Umgang mit Grundrechten und Rechtsstaat. Die Politik scheint aus der Geschichte nichts gelernt zu haben. Die vielen "Nie wieder"-Beschwörungen riechen nach heißer Luft. Man hat die fundamentale Bedeutung des Rechtsstaats für Freiheit und Demokratie gerade in Krisenzeiten nicht begriffen. Siehe etwa:
- die unglaubliche Aussage in einem offiziellen Regierungstext, es würde "vorerst" keine Kontrollen im privaten Bereich geben, ob man auch dort Abstand hält – diese Bemerkung enthüllt unbewusst ein ganz gefährliches Denken, dass es in der Gnade der politischen Macht liegt, auch beliebig in private Wohnungen einzudringen;
- die kontinuierliche Falschinformation, dass die Österreicher nur zum Füße Vertreten auf die Straße dürfen. Dabei steht eindeutig in der entsprechenden Verordnung, man dürfe auch ohne irgendeinen Grund hinaus;
- die fortschreitende Einschränkung der Meinungsfreiheit: Es wurden sogar Polizeischüler auf die Jagd nach sogenannten Fake News geschickt, als ob sie oder die Regierung im Besitz einer objektiven Wahrheit wären;
- Die massiv überdrehte Formulierung des Innenministers, wer den Abstand nicht hält, sei als "Lebensgefährder" zu verfolgen;
- die Eliminierung eines vom "Kurier" veröffentlichten Interviews mit dem Klestil-Arzt und Lungenspezialisten Graninger aus dem Internet;
- die Behauptung des Bundeskanzlers, da ginge es nur um "juristische Spitzfindigkeiten";
- seine coole Aussage, dass die Maßnahmen eh auslaufen würden, bevor der VfGH darüber urteilt, dass also gleichsam die Einschränkungen der Grundrechte (Meinungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit) egal wären;
- der verzweifelte, verständliche, zu begrüßende - aber rechtsstaatlich bedenkliche Versuch des Bildungsministers, die schikanösen Verordnungen des Gesundheitsministers zur Wiedereröffnung der Schulen mit dem Satz, es käme primär auf den gesunden Menschenverstand an, zu relativieren;
- der vom Gesundheitsminister bejahte Gedanke, dass man die repressiven Corona-Maßnahmen eigentlich auch auf die Bekämpfung der Klima-Erwärmung ausdehnen sollte, was auf deutsch eine unbefristete und totalitäre Öko-Diktatur bedeuten würde;
- die, sagen wir es höflich, allzu enge und vor allem auch finanzielle Kooperation der Regierung mit den Medien, die von der vierten Gewalt zu gekauften Staatsmedien geworden sind.
- Ebenso langfristiges Gift war der Satz "Was immer es kostet", der zuerst vom Bundeskanzler und dann von allen Regierungsmitgliedern zu hören war. Dieser Satz wird uns noch zehn Jahre belasten. Wenn eine Regierung den Eindruck erweckt, dass Geld keine knappe Menge mehr sei, dass man nirgendwo sparen müsse, dass jede Forderung erfüllt werde, dann ist das Land wirtschaftlich rettungslos verloren. Dieser Satz löste unerfüllbares Anspruchsdenken aus. Dieser Satz führte zu Zombie-Firmen, die nur durch Steuergeld überleben können. Dieser Satz führt auch mit Sicherheit zu Steuererhöhungen (wenn auch erst nach der Wien-Wahl). Und Dutzende Male hat er schon zu Forderungen geführt, die beginnen: "Wir haben ja jetzt gesehen, dass genug Geld da ist, also …".
Dieser Text erscheint in ähnlicher Form auch in der Wochenzeitung "Zur Zeit".
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