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Hundert Jahre Trianon: Ungarn, Österreich und Europa

In Ungarn ist der hundertste Jahrestag von Trianon mit großer Intensität als nationaler Trauertag begangen worden. Trianon ist jener Friedensvertrag nach dem ersten Weltkrieg, der den Verlust eines Großteils des historischen ungarischen Gebiets festgeschrieben und der viele Ungarn plötzlich zu Bürgern fremder Staaten gemacht hat. Dieses nationale Gedenken der Ungarn müsste Österreich in seiner Geschichtsvergessenheit eigentlich zutiefst beschämen, das ja durch den Vertrag von Saint Germain ein ähnliches Schicksal erlitten hat. Hierzulande denkt aber niemand daran, da in Österreich weit und breit kein Politiker, kein Medium, keine gesellschaftliche Gruppe zu finden ist (von den universitären Historikern gar nicht zu reden), die noch eine Nahebeziehung zur eigenen Geschichte hätte.

Das war nicht immer so. Siehe etwa die Zeit nach 1945, als die Österreicher in der tiefsten ökonomischen Not ihrer Geschichte gesteckt und nach internationalen Vergleichsstudien das ärmste Land Europas gewesen sind. Damals war die allererste Forderung der wiedererwachten österreichischen Außenpolitik die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht für Südtirol. Diese Prioritätensetzung trotz Hunger und Elend wirkt aus heutiger Perspektive eigentlich erstaunlich. Heute ist Österreich dieses Engagement nämlich nur noch peinlich und lästig.

Gar nicht zu reden von Befassung mit den Millionen anderer deutschsprachiger Österreicher, die durch Saint Germain zu Ausländern geworden waren. Das waren vor allem jene in Böhmen und Mähren. Die werden in einer kollektiven Bewusstseinsverschiebung einfach in ihrer Gänze zu Nazis erklärt, samt unterschwelliger Rechtfertigung und oberschwelligem Ignorieren ihrer grausamen Vertreibung nach 1945, also auch von dort, wo sie in relativ geschlossenen Besiedlungsgebieten gelebt haben.

Gewiss haben Menschen den Hang, Unangenehmes aus der eigenen Vergangenheit zu verdrängen. Es ist nur die Frage, ob das gesund ist oder ob es zu einer neurotischen Identität führt, wenn die Österreicher so gut wie alles aus ihrer mehr als tausendjährigen Geschichte verdrängen, höchstens mit der Ausnahme von Mozart, Beethoven und irgendwelchen Sisi-Schnulzen (wobei gerne übergangen wird, dass alle drei eigentlich aus damals nichtösterreichischen Landen zugezogen waren ...).

Nun werden manche reflexartig einwenden, das betonte ungarische Gedenken zu hundert Jahre Trianon sei typisch für (den von vielen außerhalb Ungarns ja verteufelten und gehassten) Premier Orbán. Sie übersehen dabei nur: Der Jahrestag ist keineswegs nur von Orbán und seiner Partei begangen worden, sondern wirklich von allen Ungarn, also etwa auch vom grünen Budapester Bürgermeister. Dieser hat gleich über die ganze Stadt eine Gedenkminute verhängt, in der alle Autobusse, Bahnen und Autofahrer anzuhalten hatten.

Nur wer diese geschlossene Haltung aller Ungarn zu ihrer Nation und ihrer Geschichte versteht, kann daher auch das Land verstehen. Nur dann wird man auch begreifen müssen, dass sich Ungarn - auch wenn es sonst innerlich zerstritten ist - keinesfalls einem äußeren Druck beugen wird, wie er jetzt etwa von einem Teil der EU versucht wird, haben die Magyaren doch auch vier Jahrzehnte dem sowjetrussischen Druck zu widerstehen verstanden.

Europäisch formuliert: Wer wirklich an einer funktionierenden europäischen Integration arbeiten will, der muss sich des großen Stellenwerts der nationalen Gefühle in vielen europäischen Nationen bewusst sein. Die gibt es nämlich nicht nur bei den bösen Ungarn und den bösen Polen, sondern etwa auch bei den Balten, Slowenen, Kroaten oder Rumänen. Für alle osteuropäischen Länder war gerade die Stärke des nationalen Identitätsgefühls die entscheidende Kraft, mit der sie die Überwindung von vier Jahrzehnten sowjetkommunistischer Herrschaft geschafft haben.

Aber auch viele westeuropäische Kulturen versteht man nicht, wenn man nicht die aus dem nationalen Identitätsgefühl erwachsenen Kräfte berücksichtigt. Diese sind entscheidende Fakten für Europa, auch dort, wo sich dieses Identitätsgefühl nicht mit Staatsgrenzen deckt, wie etwa in Katalonien und Flandern.

Selbst wenn es durchaus möglich ist, dass diese Gefühle eines Tages nicht nur bei einer kleinen politmedialen Elite von einer primär paneuropäischen Identität überdeckt werden sollten, so wird das doch noch Generationen dauern. Vor allem wird sich eine solche paneuropäische Identität überhaupt nur dann entwickeln können, wenn die europäischen Nationen und Volksgruppen, also die Menschen Europas, auf dem Weg dorthin das Gefühl haben, mitgenommen zu werden und akzeptiert zu sein.

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