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Was macht eine Demokratie aus? Wann sind Wahlen korrekt? Die EU-Kampagne gegen die geplanten Wahlen in Polen wirft – unbeabsichtigt – heikle Fragen auf: nicht nur über das Wesen von Demokratie und Wahlen, sondern auch über das der EU. Es zeigt sich, dass Österreich von wirklich korrekten Wahlen genauso wie Polen noch ein gutes Stück entfernt ist. Und die EU ist noch viel weiter davon entfernt.
Eigentlich habe ich immer geglaubt, das entscheidende Hochamt jeder Demokratie wären Wahlen und Abstimmungen, bei denen die Stimme jedes erwachsenen Staatsbürgers (ab welchem Alter immer) gleich viel wiegt. In den letzten Wochen hat die EU aber etwas anderes vermittelt: Wahlen sind nur dann demokratisch, wenn der "Richtige" gewinnt. Wenn der Falsche zu gewinnen droht, verlangt man eine Absage der laut Verfassung fälligen Wahl.
Als lautstärkste Demokratie-Hüter dieser Art treten dabei ausgerechnet jene auf, deren wahre demokratische Legitimation höflich ausgedrückt eine reduzierte ist: die Exponenten der Europäischen Union. Die antidemokratische Speerspitze bildete ausgerechnet Justiz(!!)kommissar Didier Reynders, ein linksliberaler Belgier.
Das demokratische Defizit der EU ist unbestreitbar. Es wird auch vom deutschen Bundesverfassungsgerichtshof immer wieder als eines von mehreren Indizien genannt, warum es keinen schrankenlosen Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht geben dürfte. Diesen könne es nur in jenen Materien geben, wo der EU durch den Vertrag der prinzipiell souveränen Mitgliedsstaaten ein solcher eingeräumt worden ist. Aber eine nur halbdemokratische EU kann jedenfalls nie den eigenen Staat ersetzen.
Der Beweis dafür, dass das EU-Parlament nicht das Mindestmaß eines demokratischen Systems erfüllt, ist zwingend: Entfallen doch in Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien jeweils deutlich mehr als 800.000 Einwohner auf einen einzigen Abgeordneten dieser Länder im EU-Parlament. In Luxemburg und Malta ist die Vergleichszahl hingegen deutlich kleiner als 100.000. Ein solches Wahlsystem ist das absolute Gegenteil von "One man, one vote".
Das ist an sich nicht ehrenrührig, beweist aber, dass die EU eben doch ein Staatenbund und kein Bundesstaat ist. Und dass sie keine echte Demokratie sein kann, wenn das oberste Demokratie-Prinzip "One Man, One Vote" nicht gilt.
Dieser gravierende Unterschied zwischen EU und einer wirklichen Demokratie macht es so besonders infam, wenn ausgerechnet EU-Politiker die lautesten sind, die in den letzten Wochen Polen den Status einer Demokratie abgesprochen haben, weil es die fälligen Präsidentenwahlen zu dem von der polnischen Verfassung vorgesehenen Zeitpunkt durchführen wollte, allerdings der Pandemie wegen nur als Briefwahl.
Ohne jeden Beweis behauptet eine Entschließung des halbdemokratischen EU-Parlaments, die Durchführung der Präsidentenwahl könne das Leben polnischer Bürger in Gefahr bringen. Die linke Mehrheit im EU-Parlament (die es dort dank Typen wie Othmar Karas gibt) scheut in ihrer Abneigung gegen die Osteuropäer offenbar vor keinem Schwachsinn zurück. Der wahre Grund ist freilich: Karas & Co wollen den Wahlsieg einer konservativen Partei verhindern.
Dabei wurden zwei Vorwürfe bemüht:
Das stimmt zwar tendenziell. Aber keines dieser Defizite ist auch nur annähernd so gravierend, dass es besser wäre, gar keine Wahlen abzuhalten oder diese auf ungewisse Zeitpunkte zu verschieben! Eigentlich müsste man das Gegenteil sagen: Polen verliert die Qualifikation als Demokratie, wenn es fällige Wahlen nicht abhält.
Genau das ist aber nun einem Bündnis aus EU-Parlament und polnischen Linksparteien geglückt, dem sich auch ein kleiner Koalitionspartner der konservativen PiS angeschlossen hat. Sie wollten keinem Gesetz zustimmen, das die Durchführung einer Briefwahl ermöglicht.
Deshalb ist der Wahltermin am vergangenen Sonntag geplatzt. Und es ist völlig unklar, wann die Wahlen stattfinden werden. Damit hat die EU-Linke gesiegt. Damit hat die Demokratie eine schwere Niederlage erlitten. Lieber keine Wahlen, als solche mit Briefwahl (wenn ein Sieg der Konservativen droht) …
Das erinnert an das Jahr 2000, wo die europäische Linke wegen einer korrekten demokratischen Regierungsbildung in Österreich ohne jede Rechtsbasis paneuropäische Sanktionen gegen das Land verhängt hat. Der wahre Grund der Sanktionen war damals, dass die Sozialdemokraten aus der Regierung geflogen sind. Der wahre Grund für die Vorgänge rund um Polen ist, dass die Kandidatin der Linken mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wahlen verloren hätte. Sie ist zwar inzwischen durch einen möglicherweise attraktiveren Mann ausgetauscht worden, hat aber zuvor der EU begründungsfrei die eigene Propaganda einreden können: Die Durchführung der Wahl wäre eine "Staatsstreich".
Das ist eigentlich absolut unfassbar. Weit sind wir nicht mehr von den Drittweltländern und mittelasiatischen Diktaturen weg, wo Wahlen unter ständig wechselnden Vorwänden oft ewig verschoben werden, weil sich Machthaber vor der Stimme des Volkes fürchten. In Polen fürchtet sich die Opposition vor der Stimme des Volkes – und das EU-Parlament unterstützt sie dabei.
Dabei sollten Verschiebungen eines Wahltermins über die verfassungsmäßige Grenze hinaus prinzipiell unakzeptabel sein. Das gilt auch in Hinblick auf die Verschiebung von Gemeinderatswahlen in Österreich (auch wenn dabei "nur" Verwaltungseinheiten gewählt werden, keine gesetzgebende Körperschaft). Es sei denn, wir hätten Verhältnisse wie im Zweiten Weltkrieg, wo in den demokratischen Ländern die Wahlen im Konsens aller verschoben worden sind. Aber davon sind wir in Europa trotz Corona ja weit weg.
Es ist völlig unklar, wie lange der Corona-Ausnahmezustand herrschen wird. Sagen doch immer mehr Mediziner, dass man nicht einmal wisse, ob wenigstens im Jahr 2021 ein sicherer Impfstoff auf dem Markt sein wird. Will das EU-Parlament solange nicht wählen lassen (es sei denn, die Richtigen haben Siegesaussichten)?
Der EU-Vorwurf, Polen wolle deshalb wählen, weil die regierenden Konservativen gute Aussicht auf Wiederwahl ihres Präsidenten haben, ist wirklich ungeheuerlich. Denn er heißt ja umgekehrt, verfassungsmäßig fällige Wahltermine sollen abgesagt werden, wenn Konservative gewinnen. Das aber wäre das Ende jeder Demokratie.
Besonders kritisiert wird das Instrument Briefwahl. Dabei gibt es längst viele demokratische Länder, die Wahlen per Brief oder Internet-Votum ermöglicht haben. Zwar braucht es dabei gewiss strenge Regeln, um die persönliche wie auch geheime Wahlausübung sicherzustellen. Aber das ist im Grund überall gelungen (und die Strenge des österreichischen Verfassungsgerichtshofs scheint übertrieben, der vor zwei Jahren die ganze Bundespräsidentenwahl wiederholen hat lassen, weil in einigen Bezirken die Überkuverts mit den Wahlkuverts schon vor dem protokollierten Zeitpunkt geschlitzt worden waren, ohne dass es den geringsten Hinweis auf Wahlmanipulationen gegeben hätte).
Umgekehrt habe ich selbst vor vielen Jahren erlebt, wie sehr auch die traditionelle Wählform missbraucht werden kann: Als Student habe ich als Wahlzeuge in einer Wahlkommission in Wiens größtem Altersheim 100 Schilling dazuverdient. Dort sah ich einigermaßen erstaunt, wie die Kommission von Bett zu Bett wanderte und die diensthabende Schwester jeweils hinter einem Leintuch mit dem Patienten verschwand, um das Kreuz auf den Zettel zu machen. Dabei waren viele dieser apathisch vor sich hinstarrenden Menschen völlig außerstande, irgendeinen Wunsch oder Auftrag zu äußern. Die Schwestern haben aber dennoch durchwegs gültige Stimmzettel produzieren dürfen. Dementsprechend war das Ergebnis in diesem Wahlsprengel …
Auch Wahlen per Internet tragen zur Demokratie bei. Solche praktiziert etwa schon seit längerem mit exzellenten Ergebnissen Estland.
Wenn Wahlen MIT Briefwahlmöglichkeit heute vielerorts problemlos möglich sind, dann kann es nicht undemokratisch sein, dass Polen die Wahlen der Corona-Sorgen wegen NUR auf diesem Weg stattfinden lassen wollte. Einen Brief aufzugeben ist kein größeres Hindernis, als in ein Wahllokal zu gehen.
Und wie sieht es mit dem zweiten Argument aus: dass während der Corona-Restriktionen nicht so wahlgekämpft werden kann wie sonst? Das ist zweifellos eine ernstere Frage, kann aber auch kein Grund sein, einfach nicht wählen zu lassen. Denn jetzt schon findet überall der überwiegende Teil von Wahlkampagnen nicht bei Versammlungen in Hallen oder auf Plätzen statt, sondern im Internet, im Fernsehen, in Zeitungen, auf Plakaten oder durch Briefe. Die meisten Österreicher sind nie zu einer Versammlung gegangen oder haben mit einem Kandidaten gesprochen.
Sehr wohl am Platz wäre es aber, würde eine internationale Konvention genaue Regeln erarbeiten, wie denn ein Wahlkampf aussehen müsste, damit er als demokratisch angesehen werden kann (diese müssen ja nicht so kleinlich-kasuistisch sein, wie die österreichischen Corona-Verordnungen …). Solange es da jedoch keine klaren Regeln gibt, solange da etwa auch in Österreich massive Probleme zu sehen sind, kann man Polen nicht tadeln, dass es während Zeiten der Versammlungseinschränkungen wählen lässt.
Dabei sind im Internet auch in Corona-Zeiten neben absurden Gerüchten und Verschwörungstheorien (Bill Gates, G5, die Juden oder die Migranten seien schuld ...) auch viele relevante und wichtige Informationen kursiert, die vom Mainstream unterdrückt worden sind.
Umgekehrt bin ich einmal selbst auf sogenannte Fake News hineingefallen, also auf eine grob falsche Meldung, die aber stand – in einer sogenannten Qualitätszeitung. Diese hatte im Blattaufmacher unter Bezug auf eine medizinische Studie berichtet, dass Bluthochdruckmedikamente ganz schädlich für den Verlauf einer Corona-Infektion wären. Weil das seriös klang, wollte ich deshalb gleich ein Familienmitglied von diesen Medikamenten abbringen. Das wäre aber ein absoluter Wahnsinn gewesen, wie unser zum Glück angerufener Arzt sofort sagte.
Es gibt kein Medium, das nie grob Falsches transportieren würde; umgekehrt bringt das Internet neben Schrott auch viel mehr und viel freier viel Wesentliches.
Es hat den Staat einfach nichts anzugehen, wenn ein Medium einmal etwas Falsches meldet. Wissen doch Politiker und Beamte – nichts anderes ist ja "der Staat" – selbst meist nicht, was richtig und was falsch ist. Woher auch, sind sie doch nicht der liebe Gott. Es hat sich in den letzten Wochen auch abenteuerlich oft das geändert, was laut Regierung Fake News sind. Einmal war es die Aussage, Masken wären sinnvoll, dann wieder die Information, in Kürze würden Ausgehbeschränkungen kommen. Ein paar Tage später war dann das Gegenteil wahr ...
In Hinblick auf die notwendigen Rahmenbedingungen ordentlicher Wahlen sollte ganz klar sein: Sobald sich ein Staat als vorgeblicher Besitzer der Wahrheit in den Austausch von Meinungen, Fakten, Gerüchten oder Informationen zwischen den Bürgern einzumischen beginnt, bedeutet das das Ende von Freiheit und Demokratie.
Damals hat die SPÖ unter Führung eines Werner Faymann in den allerletzten Tagen vor der Wahl im Parlament Bestechungsgeschenke an wichtige Wählergruppen durchgedrückt (eine Pflegegeld-Erhöhung, eine Verlängerung der "Hacklerregelung" und ein Aus für die Studiengebühren). Das hat der SPÖ tatsächlich einen Wahlerfolg gebracht. Das hat aber dann jahrelang Milliarden-Belastungen für alle Österreicher und die Notwendigkeit von Sparpaketen ausgelöst.
Eine ähnliche Orgie an Verantwortungslosigkeit hat sich in etwas abgeschwächter Form unter Beteiligung aller drei Parteien vor der Nationalratswahl 2019 abgespielt.
Und nun, 2020, findet sie neuerlich statt, diesmal in der Stadt Wien, wo nach dem Sommer gewählt werden soll. Da verteilt Bürgermeister Häupl im Stile eines Monarchen, der bei jedem Kirchgang Münzen unters Volk streut, Geschenke an die Wähler. Einmal gibt es Taxigutscheine für die Senioren, ein andermal Wirtshausgutscheine für alle.
Das ist übelster Populismus. Das ist besonders verantwortungslos angesichts der durch Corona in historischem Ausmaß angespannten öffentlichen Finanzen. Das macht es aber auch besonders lächerlich, wenn die Bürgermeister gleichzeitig zum Bund laufen und Milliardenunterstützung wegen der Pandemie fordern.
All die hier skizzierten Missstände sind also in Österreich offenbar völlig legal. Wählerbestechungen, Einschränkungen der freien Meinungsäußerungen, grob ungleiche Berichterstattung über einzelne Parteien auch oder gerade durch öffentlich-rechtliche Medien.
Noch um drei Stufen schlimmer ist jedoch zweifellos das, was sich in der Türkei und Russland (sowie vielen Drittweltländern) abspielt. Abgesehen davon, dass es starke – aber nie unabhängig nachgeprüfte – Hinweise auf direkte Fälschung von Teilen der Ergebnisse gibt, werden dort regelmäßig und reihenweise oppositionelle Politiker und unabhängig-kritische Journalisten aus politischen Motiven eingesperrt. Dadurch sind die dortigen Wahlen – selbst wenn die Stimmzettel korrekt ausgezählt werden sollten – nur noch eine Farce. Sie haben mit Demokratie absolut nichts mehr zu tun.
Tatsache ist, dass die skizzierten (und oben mit fetten Punkten gekennzeichneten) Phänomene auch die österreichische Demokratie solchen Nicht-Demokratien nähergerückt hat. Das ist bedrückend. Das sollte vor allem davon abhalten, oberlehrerartig über Polen zu urteilen, weil es Briefwahlen geplant hatte.
Es gibt einen dritten gewichtigen Aspekt, der zweifellos Wahlen beeinflusst, selbst wenn all die genannten Kritikpunkte gelöst sein sollten: Das ist der Zeitpunkt, zu dem Wahlen stattfinden. In vielen Ländern – etwa in Großbritannien, dem Mutterland der Demokratie, – ist es seit jeher Tradition, dass sich die jeweilige Regierungspartei den Zeitpunkt aussucht, zu dem sie wählen lässt. Dort dauert fast keine Periode den vollen Zeitraum. Dort sucht sich jede Regierung den für sie günstigsten Zeitpunkt aus.
Das wird aber erstaunlicherweise von keinem Briten als undemokratisch angesehen.
Genau, um diese nicht unbedenkliche Verzerrung der Demokratie zu vermeiden, haben umgekehrt die USA die Präsidentenwahlen zu einem absolut unverrückbaren Zeitpunkt festgelegt: alle vier Jahre am Dienstag zwischen 2. und 8. November. Das gilt selbst dann, wenn der amtierende Präsident ermordet wird. Dann rückt halt der Vizepräsident nach.
Einige Beispiele, wie sehr der Zeitpunkt relevant ist, egal ob gezielt ausgesucht oder verfassungsmäßig determiniert:
Nur: Gegen die Auswirkungen des Zeitpunkts auf den Wahlausgang kann man kaum rechtliche Vorkehrungen treffen, außer durch das amerikanische System eines fixierten Wahltags.
Zurück zu Polen und der EU: Die europäische Kampagne gegen die polnischen Briefwahlen zum verfassungsmäßig eigentlich vorgesehenen Zeitpunkt ist ein Skandal, ist viel stärker eine Verletzung der Demokratie als die Tatsache, dass in Polen keine Partei Versammlungen durchführen kann.
Sehr wohl aber würde eine internationale – oder europäische – Konvention die Qualität der Demokratie in allen Ländern deutlich verbessern. Sie sollte genau all das katalogisieren, was alles zu wirklich korrekten Wahlen gehört, vom Prinzip "One Man, One Vote", über echte und ungehinderte Meinungsfreiheit bis hin zu breiten und fairen Präsentationsmöglichkeiten für alle Parteien vor der Wahl. Das wäre gut und wichtig. Für Polen, für Österreich und für die EU.