"Die Österreicher werden vorerst nicht gefoltert." Niemand kann sich vorstellen, dass die Regierung je einen solchen Satz aussprechen würde. Und doch ist er jetzt regierungsoffiziell gefallen, wenngleich nicht in Bezug auf das Folterverbot, sondern in Hinblick auf das im gleichen Verfassungs- und Menschenrechtsrang stehende Hausrecht. In einer offiziellen Information der Bundesregierung wird empfohlen, auch im privaten Bereich gegenüber Familienfremden einen Meter Abstand zu halten; und dazu heißt es wörtlich: "Es wird im privaten Bereich allerdings vorerst keine Kontrolle dazu geben." Dieses "vorerst" ist eine zutiefst das Denken von Diktaturen anzeigende Formulierung. Damit fügt sich ein weiteres gravierendes Indiz zu vielen anderen Beobachtungen, die eine rapide Entfernung dieser Republik von Rechtsstaat und Grundrechten zeigen. Das macht Angst. Denn ohne Rechtsstaat ist Österreich gar nichts mehr.
Wenn ein offizieller Text der Regierung am 27. April so formuliert wird, kann man das nicht mehr wie bei den Aktionen der ersten März-Tage tolerant damit verzeihen, dass halt in Stunden der Hektik und Panik zwangsläufig Fehler passieren (auch wenn sich ORF und FPÖ derzeit über eine Formulierung des Bundeskanzlers aus jenen Tagen maßlos erregen, die aber zweifellos in keiner Weise der behauptete Skandal ist). Da diese Formulierung auch nicht sofort als Fehler eines ahnungslosen Mitarbeiters korrigiert worden ist, ist klar: Die Regierung steht bewusst zu solchen Formulierungen.
Das ist beklemmend. Denn damit wird signalisiert, dass es jederzeit in ihrer Willkür stehen würde, in private Wohnungen einzudringen. Dass es nur eine großzügige Gunst der Regierung sei, "vorerst" darauf zu verzichten. Das ist nicht nur eine Freud'sche Fehlleistung. Das enthüllt vielmehr eine katastrophale Erosion der Grundfesten unserer Rechtsordnung.
Das ist nur das jüngste Beispiel. Diese sich häufenden Indizien mangelnder Rechtsstaatsgesinnung sind einzeln wie in Summe viel gravierender, als es die fast durchwegs lächerlichen Aufregungen des Vorjahres gewesen ist, als der damalige Innenminister das Wort "konzentriert" verwendet hat, oder als ein Provinzpolitiker Menschen in einem Gedicht mit Ratten verglichen hat. Dennoch hat beides wochenlang die Medien des Landes in Schnappatmung versetzt.
Einige der wichtigsten Vorfälle und Entwicklungen, die die schwere Erosion des Rechtsstaats beweisen:
- Am gleichen Tag dieser gnadenhalber "vorerst" nicht erfolgenden Verletzung des (seit 1867 garantierten) Hausrechts verwendet Innenminister Nehammer bedenkenlos den Ausdruck "Staatsfeinde", als er von der Verhaftung von vier sogenannten Staatsverweigerern berichtet. Diese sind eine skurrile Gruppe, die sich mutmaßlich des Betrugs, der Erpressung, der gefährlichen Drohung und ähnlicher Dinge schuldig gemacht hat, weil sie einen eigenen "Staat" gebildet hätten. Trotzdem dürfte man als Innenminister niemals Ausdrücke wie "Staatsfeinde" verwenden. Denn dieses Wort stammt eindeutig aus dem Vokabular linker und rechter Diktaturen totalitären Zuschnitts, die es ständig zur Begründung der Verfolgung und Ermordung von Dissidenten und Demokratie-Vorkämpfern verwendet haben.
- Ebenfalls am gleichen Tag wiederholt der gleiche Innenminister die schon seit Wochen von Gesundheitsminister und Bundeskanzler verbreitete Unwahrheit, dass die Corona-Verordnung (neben Einkäufen, Hilfeleistungen für Unterstützungsbedürfnisse, Abwendung von Gefahren und für berufliche Zwecke) angeblich das Verlassen des eigenen Hauses nur noch für Sport oder Spazierengehen erlauben würde. Dabei ist ganz eindeutig, dass §2 Ziffer 5 der Verordnung das Hinausgehen auch ganz ohne behördlich festgelegten Zweck erlaubt (wenn man dabei den gewissen Abstand einhält). Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals eine Regierung so konsequent falsche Aussagen über rechtliche Fakten verbreitet hätte. Das ist offensichtlich nicht irrtümlich und fahrlässig passiert, sondern vorsätzlich. Gewiss: Das Ziel war ein edles, nämlich die Menschen von der Straße zu vertreiben. Aber das kann dennoch niemals so einen gravierenden Vertrauensverlust durch bewusste ständige Unwahrheiten rechtfertigen.
- Der gleiche Minister hat ein paar Pressekonferenzen davor einen anderen ebenso unglaublichen Ausdruck verwendet: Wer sich nicht an diese Verordnung hält, sei ein "Lebensgefährder". Was dasselbe ist wie "potentieller Mörder". Nehammer verliert regelmäßig das erträgliche Maß in seinen Formulierungen. Was sehr besorgt macht, weil ja gerade der Innenminister die wichtigste Macht kontrolliert, die Demokratie und Rechtsstaat schützen sollte. Und nicht gefährden.
- Dass Nehammer einen engen inneren Bezug zu autoritärer Maßlosigkeit hat, war in der Corona-Krise auch daran zu merken, wie er sich mehrmals stolz darüber gezeigt hat, dass seine Polizeischüler – ja: Schüler! – eine Truppe zur Jagd auf angebliche "Fake News" gebildet haben (worunter die Regierung sehr oft das verstanden hat, was dann zwei Tage später ihre eigene Linie geworden ist, siehe Ausgangsverbote, siehe Gesichtsmasken-Pflicht). Diese Truppe amtiert noch dazu im Bundeskanzleramt, hat also ganz eindeutig den Segen von Sebastian Kurz. Dabei ist Meinungsfreiheit eines der wichtigsten Menschenrechte. Es ist aber ihr Ende, wenn eine Regierung Medienberichte zu kontrollieren beginnt, wenn sie behauptet, die Wahrheit zu wissen (sonst könnte sie ja gar nicht definieren, was Fake News wären).
- Ins gleiche Feld der Zerstörung der Meinungsfreiheit gehört der Umstand, dass die Mainstream-Medien – also ORF und Zeitungen – auf Grund ihrer finanziellen Lage noch nie so von der Unterstützung durch den Staat abhängig waren wie heute. Die Regierung überweist den Printmedien weit mehr Steuergeld als früher. Die Regierung garantiert dem ORF den weiteren Bezug von Zwangsgebühren, obwohl nur noch ein Drittel der Österreicher diese für legitim ansieht. Das ist natürlich ein massiver Widerspruch zu einer echten Presse- und Meinungsfreiheit. Das löst massive Beißhemmungen gegen die Hand aus, die einen füttert.
- Auch schon vor seiner Ministertätigkeit ist Nehammer als absoluter Antityp zu den Werten von Toleranz und Meinungsvielfalt aufgefallen, als er – freilich vermutlich auf Wunsch von Kurz – den Exekutor beim Hinauswurf von ÖVP-Politikern gemacht hat, die gegen die jeweils gerade angesagte Political correctness der ÖVP verstoßen haben.
- Aber auch Sebastian Kurz selbst ist durch einige Formulierungen negativ aufgefallen, die eine sehr flapsige Identifikation mit dem Prinzip Rechtsstaat andeuten. So bezeichnete er einmal die wahrscheinliche Verfassungswidrigkeit bestimmter Maßnahmen verächtlich als "juristische Spitzfindigkeiten".
- Ein andermal meinte Kurz zum gleichen Thema angesprochen zwei Grade zu cool, dass darüber der Verfassungsgerichtshof eh erst entscheiden könne, wenn die Maßnahmen schon wieder abgelaufen sein werden.
- Über die schlechte rechtliche Qualität der Verordnungen und Erlässe aus dem Hause des grünen Gesundheitsministers Anschober ist an dieser Stelle schon mehrfach geschrieben worden. Ebenso über seine bedrückenden Andeutungen, die gegenwärtige Ausschaltung der Grundrechte gerne auch im Kampf gegen die Klimaveränderung sehen zu wollen.
- Und ebenso über den total fehlenden inneren Bezug der grünen Justizministerin Zadic zum Rechtsstaat.
- Aber auch die Opposition hat zu den Fundamenten von Rechtsstaat und Grundrechten kaum einen Bezug. So haben sich die drei Oppositionsparteien in den letzten Wochen mehr als über sonst etwas über eine harmlose Handy-App aufgeregt und sie schließlich verhindert. Diese hätte im Dienste der Gesundheit streng anonymisiert einige Bewegungsdaten festhalten sollen, die Google, Apple und wohl auch jede Menge Geheimdienste zweifellos längst haben. Dem Großteil der politischen Klasse war unter Druck der linken Medien aber der angebliche Datenschutz wichtiger als die vielen Grundrechte, die uns genommen worden sind (Bewegungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Religionsfreiheit, Hausrecht …). Denn mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte die allgemeine Anwendung einer solchen App im Falle einer "zweiten Welle" solche Grundrechtsverletzungen weitgehend verhindert.
- Bei den Sozialdemokraten ist in den letzten Tagen ein ganz besonders übler Untergriff gegen den Rechtsstaat endgültig nachweisbar geworden, den sie einst in ihren Regierungszeiten begangen hat. Das war die Strafverfolgung, die der frühere Verteidigungsminister Doskozil gegen die Firma Airbus ausgelöst hat, um mit hanebüchenen Vorwürfen Geld von der Firma für ein 18 Jahre altes Geschäft herauszupressen. Airbus hat sich aber nicht erpressen lassen und hat nun auch von unabhängigen Richtern Recht bekommen. Um es höflich zu sagen: Eine Firma, die mit so miesen Methoden wie der Herr Doskozil arbeitet, würde künftig mit Sicherheit von allen potenziellen Geschäftspartnern in großem Bogen gemieden werden.
- Wieder einmal hat sich dabei die Korruptionsstaatsanwaltschaft für solche dubiosen parteipolitischen Aktionen einspannen lassen und nicht von sich aus gesagt, was für ein Schwachsinn die Aktion Doskozils war. Auch diese Staatsanwaltschaft ist – wie schon ein langer Bogen von der Hetzjagd auf Karl-Heinz Grasser bis zur Verfassungsschutz-Affäre zeigt – alles andere als ein brauchbares Fundament für den Rechtsstaat.
- Und ganz sicher gehört auch die Causa Ibiza zu den gravierenden Beweisstücken für einen Rechtsstaatsverfall. Es ist völlig untragbar, wie sich der Chef einer der größten Parteien des Landes in so schmutzige Korruptionsgespräche ausgerechnet mit einer vermeintlichen russischen Oligarchin eingelassen hat.
- Genauso widerlich aber ist die Tatsache, wie begeistert sich die Medien mit den kriminellen Methoden des mafiosen Lauschangriffs auf zwei Politiker identifiziert haben. Wie etliche Medien diese Methoden sogar lobten und mit Preisen auszeichneten.
- Auch das schwer linkslastige Regierungsprogramm ist ein Affront gegen den Rechtsstaat, weil es zwar ständig von einer Privilegierung des Kampfes gegen Rechtsextremismus spricht, Linksextremismus aber nicht einmal erwähnt.
Die hier aufgelisteten Fakten zeigen einen katastrophalen Verlauf der Krankengeschichte des einstigen Rechtsstaats Österreich. Dieser Rechtsstaat ist niemandem mehr in der politmedialen Klasse ein Anliegen.
Das ist für unsere Zukunft weit schlimmer und wichtiger als der jeweilige Prozentsatz der Österreicher, der an Corona erkrankt ist.
Demgegenüber ist die jüngste Kampagne von ORF und FPÖ gegen Sebastian Kurz geradezu lächerlich. Kurz soll Anfang März laut einem Sitzungsprotokoll (das eine Zusammenfassung, jedoch nicht den genauen Wortlaut des Gesagten darstellt) bei einer internen Besprechung gesagt haben: "Kurz verdeutlicht, dass die Menschen vor einer Ansteckung Angst haben sollen bzw. Angst davor, dass Eltern/Großeltern sterben."
Nachdem Kurz genau das zwei Monate lang vor den Fernsehkameras zu verstärken versucht hat, ist ein solches Protokoll in keiner Weise eine Sensation. Kurz wird ja nicht bei internen Sitzungen das Gegenteil dessen sagen, was er nach außen tut. Der ORF macht dennoch eine solche daraus. Ganz offensichtlich, weil er damit endlich nur den schwarzen Teil der Regierung und nicht auch die ihnen am Herzen liegenden Grünen zu treffen vermeint. Und die FPÖ veranstaltet sowieso einen dauernden Generalangriff auf die Regierung.
Vom ORF ist dieser Vorwurf auf Kurz vor allem auch deshalb besonders verlogen und widerlich, weil der ORF seit Monaten genau das tut, was er Kurz jetzt so heuchlerisch vorwirft: Der Gebührensender hat rund um die Uhr den Menschen Corona-Angst eingejagt – und damit zum ersten Mal seit Jahren kurzfristig ein deutliches Plus bei den Zusehern erreicht.
Nirgendwo gibt es jedoch den leisesten Beweis, dass Kurz oder die Regierung die Angst deshalb geschürt haben, weil sie damit breite Zustimmung bei der Bevölkerung erreichen könnten. Das hat Kurz erst im Laufe der Ereignisse gespürt.
Die Motivation zu den sehr stark die Angst betonenden Auftritten des Bundeskanzlers am Beginn der Corona-Krise war eindeutig eine ganz andere: Wie sämtliche Regierungen der Welt (mit Ausnahme der schwedischen) ist auch die österreichische damals selbst von Angst vor der Pandemie gepackt worden. Die Angst richtete sich vor allem darauf, dass man nicht genug Betten zur Beatmung der Erkrankten haben könnte. Dass also Menschen nur deswegen sterben müssen, weil es da zu Engpässen kommt, weil Ärzte ihnen nicht die lebensrettende Behandlung geben können. Wenn das eingetreten wäre, hätte das auch zu einer staatspolitischen Katastrophe geführt. Von der Pest bis zur spanischen Grippe 1920 tauchten die schlimmsten Seuchen der Geschichte vor ihren Augen auf.
Es sind zwar heute jene Argumente und Analysen – auch von vielen Ärzten – sehr gut nachvollziehbar, dass Österreich und viele andere Länder überreagiert haben. Aber es ist mindestens ebenso nachzuvollziehen, dass die Regierung sehr echt Angst hatte, dass Österreich unterreagiert. Dies ist vor allem deshalb nachzuvollziehen, weil die Wissenschaft (im Grund bis heute!) weitgehend im Dunkeln tappt über so gut wie alle relevanten Aspekte der Epidemie. Weil jeder Wissenschaftler das Gegenteil von den anderen gesagt hat und sagt.
Der fast totale Stillstand des Landes, für den sich die Regierung in dieser Situation entschlossen hat, war – zumindest wahrscheinlich – die Hauptursache, dass die Infektionszahlen auf rund ein Zwanzigstel zurückgefallen sind. Es gibt jedenfalls keine andere glaubwürdigere Erklärung. Dieser Stillstand aber wäre mit absoluter Sicherheit nicht erreichbar gewesen, wenn nicht auch die Bevölkerung voll mitgezogen hätte. Und das war wiederum – da hatte Kurz eindeutig Recht – nur dadurch erreichbar gewesen, dass man der Bevölkerung möglichst eindringlich die eigene Angst vermittelt hat.
Diesen Vorgang jetzt als Spiel mit der Angst zu denunzieren, ist ziemlich mies, wenn auch ORF-typisch. Noch dazu, wo fast alle anderen Parteien in der Vergangenheit das Spiel mit der Angst viel zynischer betrieben haben.
- So ist der gesamte letzte Klima-Wahlkampf der Grünen ein ununterbrochenes Spiel mit einer künstlich geschürten Angst vor dem angeblichen Klimatod der Erde gewesen, der angeblich menschengemacht sei. Auch bei jenem Angstschüren spielte der ORF eine eindeutige Schlüsselrolle.
- So hat die SPÖ mindestens schon zwei Wahlkämpfe bestritten, in denen sie der Bevölkerung Angst einzujagen versucht hat, dass die ÖVP die Pensionen kürzen würde.
- So lebt die FPÖ geradezu von der Angst der Bevölkerung vor Überfremdung aus Afrika und Asien sowie vor Islamisierung. Das ist zwar die einzige der genannten Ängste, die auch ich in hohem Maße teile. Aber dennoch können die Freiheitlichen nicht leugnen, dass sie rund um die Uhr nichts anderes als diese Angst thematisieren. Dass sie die Ausländer-Aversionen auch gegen Polen, Slowaken oder Kroaten gehegt haben, von denen ich von Anfang an jeden einzelnen als Bereicherung erlebt habe. Das ist halt herzlich wenig.
Heute nach – scheinbar – überstandener Epidemie kommt die Story, dass Kurz und alle anderen Regierungen der Welt die Angst vor dem Virus nur künstlich erfunden hätten, bei manchen Menschen mit kurzem Gedächtnis gut an. Obwohl sie selber am Anfang für große Strenge waren. Aber selbst wenn man heute im Rückblick den Kanzler dafür tadeln würde, sollte doch jedenfalls eindeutig sein: Die – auch von ihm zu verantwortende – Erosion des Rechtsstaates ist eine viel gefährlichere Bedrohung unserer Zukunft.
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