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Es ist zwar nur ein deutsches Höchstgerichtsurteil. Aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit werden auch diesmal die österreichischen Richter sehr bald ähnlich wie die deutschen agieren. Dabei ist das deutsche Urteil in mehrfacher Hinsicht erschreckend: erstens wegen des Zeitpunkts; zweitens weil es ein weiteres Element für die Aushebelung der Demokratie ist; drittens wegen des Menschenbildes, das da von einer Elite zunehmend durchgesetzt wird; und viertens wegen der zu erwartenden Konsequenzen.
Das Urteil ist knapp erklärt: Das deutsche Verfassungsgericht hat das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt.
Die Höchstrichter in Karlsruhe haben das ausgerechnet am Aschermittwoch bekanntgegeben. Sie haben den Zeitpunkt zwar wohl primär in der Annahme gewählt, dass das Urteil in der Berichterstattung um die diversen – oft grenzwertigen – Aschermittwoch-Reden (sowie in der allgemeinen Virus-Aufregung) ein wenig untergehen könnte. Sie haben damit aber auch gezeigt, wie wurscht ihnen dieser für die Christen besondere Tag ist. Dass der Aschermittwoch für die Christen der Beginn der Fastenzeit ist, war ihnen entweder gar nicht bewusst – oder sie stehen längst auf dem Standpunkt, man könne sich ja nicht um jede marginale Minderheit kümmern ...
Dabei steht im allerersten Satz des deutschen Grundgesetzes der Satz: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben." Von dieser Verantwortung vor Gott lässt das Sterbehilfe-Urteil jedenfalls gar nichts erkennen. Diese Freigabe der Sterbehilfe ist für alle Christen mit ihrem großen Respekt gegenüber dem menschlichen Leben (an beiden Enden) überaus schmerzhaft. Sie ist ein weiteres markantes Element der Entchristianisierung Europas in den letzten Jahrzehnten, deren Intensität nur durch das Wüten der französischen Jakobiner Ende des 18. Jahrhunderts übertroffen wird.
Das Urteil ist aber weit über die Christen hinaus von Bedeutung. Denn es bedeutet auch eine Aushebelung der Demokratie. Dies – der zweite Kritikpunkt – ist zumindest für all jene ein Schlag in die Magengrube, die den liberalen Rechtsstaat und seine Gewaltenteilung als die größte gesellschaftliche Errungenschaft der letzten Jahrhunderte ansehen. Ob Christ oder Atheist.
Denn in einer Gewaltenteilung dürften solche grundlegenden gesellschaftspolitischen Weichenstellungen wie die Freigabe der Sterbehilfe (in Deutschland) oder der Homoehe (in Österreich) eigentlich niemals von der Judikatur vorgenommen werden, sondern immer nur von der Legislative, also dem Parlament als Vertretung des Volkes. Von diesem geht ja laut allen Verfassungen das ganze Recht aus. Und nur vom Volk. Dort vom deutschen, hier vom österreichischen.
Die dramatische Beschleunigung der Entmündigung des Volkes durch die Richterkaste ist mehr als beklemmend. Das muss auch all jene schmerzen, die persönlich Sympathien für die Sterbehilfe haben. Denn wo sind die Grenzen einer absoluten Richterherrschaft, wenn solche grundlegenden Weichenstellungen nach 70 oder 100 Jahren plötzlich aus den Verfassungen herausgelesen werden? Wohlgemerkt ohne dass der diesbezügliche Verfassungstext geändert worden wäre.
Ist es den Verfassungsrichtern einfach zu fad gewesen, immer bloß die bestehende Verfassung zu schützen und zu interpretieren, wie es eigentlich einzig ihre Aufgabe wäre? Oder sind sie von einer wachsenden Lust zur Macht gepackt worden, die in jedem Menschen schlummert?
Diese Lust zur Macht wird gefährlich, sobald es kein Gegengewicht, keine "Checks and Balances" gibt, wie sie die amerikanische Verfassung kennt, wie es einst wohl auch die Wirkung religiöser Demut gewesen ist, wie es die Schweizer Verfassung kennt, die das Referendum über alle Richter stellt.
Ungebremste Lust zur Macht führt hingegen fast direkt zu einer Gesellschaft der Elitenherrschaft.
Diese Entwicklung erinnert an die einstige Aristokratie, die ja nichts anderes war als die Machtanmaßung der sich für die Besten Haltenden. Die eng limitierten Aufgaben der Heerführer, der "Herzöge", und der als Richter fungierenden Stammesältesten sind im Laufe der Entwicklung in den absolutistischen Fürstenstaat gemündet.
Anfangs war die aristokratische Macht meist noch durch religiöse oder verfassungsähnliche Strukturen limitiert. Sei es durch das Gegengewicht einer vermeintlich mit dem Jenseits kommunizierenden Priesterkaste; sei es durch die Kompetenz der Kurfürsten, einen neuen Kaiser zu wählen; sei es durch die bloße Belehnung mit einem "Lehen". Aber im Lauf der Geschichte konnten die Lehens- und Machtinhaber all diese Begrenzungen beiseite wischen. Sie bestimmten weitgehend bei Bischofsbesetzungen. Sie setzten fast immer die Vererbung ihrer Macht auf die eigenen Kinder durch, die sie mit einem skurrilen "Gottesgnadentum" oder einer noch skurrileren Überlegenheit des "blauen Blutes" mythologisch abzusichern versuchten.
Im dadurch entstandenen absolutistischen Fürstenstaat hat sich staatliche, militärische, richterliche und Steuereintreibungs-Macht mit absoluter persönlicher Macht gepaart, bis hin zu solchen Widerlichkeiten wie dem "Ius primae noctis". In vielen protestantischen und islamischen Staaten hat man auch gleich die oberste religiöse Macht mit der staatlichen verbunden.
Niemand weiß, wie viele Menschen im Aufbegehren gegen diese aristokratischen Machtanmaßungen gestorben sind, bis dann endlich die großen bürgerlichen Revolutionen der Aufklärung zum Ende des Feudalsystems geführt haben.
Gewiss, von Vererbung der Machtpositionen und manch anderen Absurditäten sind wir weit entfernt. Aber am Weg zu einer neuerlichen Entmündigung der gewöhnlichen Menschen ist die Schritt für Schritt voranschreitende Usurpation der Macht durch sogenannte Eliten schon weit gekommen. Und Rechtsschöpfung an allen demokratischen Strukturen vorbei ist eine absolut zentrale Etappe auf diesem Weg.
Das ist doppelt besorgniserregend, weil ja parallel eine politmediale Elite ihre Macht auszubauen versucht, die durchaus in erstaunlicher Harmonie mit der richterlichen Klasse agiert. Eliten unter sich.
Damit sind wir beim dritten großen Vorwurf gegen das Sterbehilfe-Judikat. Der richtet sich gegen das dahinter stehende Menschenbild. Die Richter begründen ihr Urteil mit der "Freiheit" der Menschen. Die Menschen, das Volk, haben also die Freiheit bekommen, sich nun auch mit Hilfe von Geschäftemachern umzubringen. Geht es aber wirklich um die Freiheit der Menschen? Und nicht primär um die Befreiung des Staates und der Gesellschaft von der unangenehmen Last, sich um kranke Menschen zu kümmern?
Auf vielen anderen Gebieten kümmern sich die Richter hingegen absolut nicht um die Freiheit der Menschen – nämlich solange diese noch am Leben sind. Es ist den meisten Richtern offensichtlich völlig egal, dass sowohl die europäische wie auch die nationale Gesetzgebung das wohl wichtigste Element dieser Freiheit der Bürger immer mehr einschränkt: die Meinungsfreiheit. Da bringen sie Verfassung und Menschenrechtskonventionen nicht ins Spiel.
Das alles stört aber die richterlichen "Freiheitshüter" nicht.
Wir dürfen also zur Kenntnis nehmen: Die Justiz gewährt den Menschen Freiheit, auch mit geschäftlicher Unterstützung aus dieser Welt zu verschwinden. Aber solange sie noch auf dieser Welt sind, steht den Menschen immer weniger Freiheit zu. Ihnen wird die Meinungsfreiheit genommen. Zehntausende Paragraphen schränken sie auch sonst in jeder Hinsicht in jeder Lebensphase ein. Aber das alles stört die Justiz nicht. Ein grausliches Menschenbild.
Viertens: Grauslich sind auch die konkreten Konsequenzen des Sterbehilfe-Urteils. Da dieses ausdrücklich das Verbot der "geschäftsmäßigen" Sterbehilfe aufhebt, geht es also weit über die Tolerierung eines ärztlichen oder ehepartnerlichen Mitleidsaktes hinaus. Statt dass man behutsam darüber nachgedacht hätte, Ärzte aus der bisherigen panischen Angst vor dem Staatsanwalt zu befreien, wenn sie einem Schwerkranken etwas Sedierendes und gegen Schmerzen Wirksames geben, sind die Richter gleich ins andere Extrem gekippt und haben dem Geschäft mit dem Tod Tür und Tor geöffnet (auch wenn sie scheinheilig dazusagen, es dürfe keine Geschäftemacherei geben …).
Die moralische Verantwortung und Last dieser Richter ist gewaltig. Sie tragen Mitschuld am Tod vieler Menschen, die nun vorzeitig aus dem Leben scheiden, weil sanfter Druck – "Es ist ja jetzt erlaubt" – auf sie ausgeübt wird. Weil für Depressive jetzt der scheinbare Ausweg durch den Tod noch leichter und allgemein akzeptierter erscheint. Weil Schwerkranke glauben, ihren Angehörigen oder der Gesellschaft eine zu große Last zu sein. Weil das, was man jetzt glaubt, nur für wenige Ausnahmefälle zugelassen zu haben, sich nun mit Sicherheit weithin ausbreiten wird. Weil mit dem Urteil das ärztliche Ethos der unbedingten Lebensrettung fundamental ausgehöhlt worden ist.
Wenn sich der Mensch zum Herrn über Leben und Tod macht, wenn im Denken wieder das "lebensunwerte Leben" schleichend Platz findet, ist das immer zutiefst beklemmend. Von der Abtreibung zur Sterbehilfe. Vom Designerbaby zum Designertod.
PS: Im Grund passt übrigens das Vorgehen der europäischen Elite gegen Polen haargenau in dieses skizzierte Schema eines Richterstaates, obwohl es nichts mit Sterbehilfe zu tun hat. Polen hat versucht, mit Gesetzen die politische Agitation durch Richter zu verhindern - diese sollten durch ihre Urteile, nicht durch Pressekonferenzen sprechen. Allein: Wenn es um die Meinungsfreiheitsprivilegien von Richterkollegen geht, dann kämpfen die internationalen Höchstrichter sehr wohl energisch gegen jede Einschränkung der Meinungsfreiheit. Obwohl gerade hier eine Einschränkung durchaus sinnvoll wäre.