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Die Wiederentdeckung Mitteleuropas

Die österreichische Außenpolitik im vergangenen Jahr war kein sehr erfreulicher Anblick. Teilweise war sie gar nicht erkenntlich, teilweise ging sie in die völlig falsche Richtung, teilweise bestand sie aus wenig relevanten Luftblasen (siehe etwa den Koalitionspakt). Doch jetzt gibt es plötzlich sehr erfreuliche Akzente. Denkt da am Ende doch jemand darüber nach, dass ein kleines Land mehr internationale Freunde braucht, als es derzeit hat? Dass die EU-Mitgliedschaft keineswegs von dieser dringenden Pflicht enthebt?

Ein kurzer außenpolitischer Rückblick auf 2018/19, auf die wenig erbaulichen Akzente der letzten Monate von Schwarz-Blau, auf die diversen Übergangskrisen und die jetzige Regierungsbildung:

  1. Österreich und insbesondere die größte Regierungspartei ist im Zuge der Hetze linker EU-Parteien und der Juncker-Kommission gegen Ungarn und Polen alles andere als loyal zu seinen Nachbarländern gestanden. Die ÖVP hat sich in Brüssel unter Einfluss von Othmar Karas sogar mehrheitlich für Strafmaßnahmen in der "Europäischen Volkspartei" gegen Ungarn ausgesprochen.
  2. Österreich hat auch weder gegenüber den USA noch gegenüber Großbritannien irgendwie erkennen lassen, dass es die Chance begriffen hätte, mit diesen wichtigen Ländern besonders gute Beziehungen zu knüpfen, seit sie mit Brüssel, Berlin und Paris in den Clinch geraten waren.
  3. Österreich hat eine Außenministerin gehabt, die selbst in der sie nominierenden Partei kein Standing gehabt hat, international erst recht nicht.
  4. Kurz hat zwar als spannender junger Politiker rasche und ehrenvolle Termine bei allen wichtigen Großmacht-Präsidenten bekommen. Aber entwickelt hat sich daraus gar nichts.
  5. Im Koalitionsabkommen sind die vielen Seiten über "Österreich in Europa und der Welt" eine – höflich ausgedrückt – lieb- und belanglose Aneinanderreihung von Stehsätzen, die den Eindruck erwecken, jede Ministerialabteilung habe halt zwei Zeilen beisteuern dürfen, die unkoordiniert aneinandergereiht worden sind. Ein europa- oder außenpolitisches Konzept oder gar eine Vision ist da nicht erkennbar.
  6. Im Kabinett Kurz II wirkt der Außenminister wie ein beamteter Platzhalter für den Bundeskanzler, der sich selbst in der Außenpolitik am wohlsten fühlt. Dazu gibt es auch noch eine eigene Europaministerin. Dazu kommt, dass jeder Finanzminister europapolitisch eine starke Rolle spielt ...
  7. Und am dramatischsten von allen Aspekten: Es spricht sehr viel dafür, dass Sebastian Kurz den Koalitionswechsel von Blau zu Grün aus dem – vielleicht auch nur unterbewussten – Wunsch heraus unternommen hat, in Brüssel und Berlin besser angeschrieben zu sein. Eine solche Motivation spricht freilich ganz und gar nicht für ihn, daher wird er sie auch nie offen zugeben.

Doch gibt es jetzt plötzlich erstaunliche Anzeichen, dass Sebastian Kurz möglicherweise doch ernstere außenpolitische Akzente vorhat, als im gemeinsamen Programm zu finden sind. Dafür spricht insbesondere die erstaunliche Auswahl der ersten Reisen von Bundeskanzler und Europaministerin. Denn Politiker überlassen die Wahl, wohin sie als erstes reisen, keineswegs dem Zufall, sondern sie versuchen damit sehr gezielt ein Signal zu setzen.

Das erste Reiseziel des Bundeskanzler ist – abgesehen von den Pflichtterminen bei den EU-Spitzen – überraschenderweise Prag. Und das erste Ziel der Europaministerin ist ausgerechnet Paris. Nichts da von Berlin, dem großen Nachbarn. Und nichts da von der Schweiz, die jahrzehntelang den ersten Besuch neuer österreichischer Außenpolitiker bekommen hat.

Besonders interessant an dem Treffen in Prag ist: Dort stößt Sebastian Kurz gezielt zu einem Treffen der vier Visegrad-Länder, also der Regierungschefs aus Tschechien, Polen, Ungarn und Slowakei. Das ist nun wirklich eine Sensation. Denn bisher hat man in Österreich meist einen weiten Bogen um diese Kooperation der vier Länder gemacht, obwohl sie sehr eng und sehr effizient ist.

Bisher stand lediglich das gebetsmühlenartige Und-ewig-grüßt-das-Murmeltier-Begehren an der Spitze der Nachbarschaftspolitik: "Ihr müsst eure Atomkraftwerke verschrotten." Das hat freilich dort nur noch Belustigung ausgelöst. Die Tschechen haben Deutschland sehr pointiert darauf hingewiesen: Wenn wir die Atomkraftwerke zusperren: Woher  will denn dann Österreich eigentlich seine Stromimporte nehmen?

Die sensationelle Kurz-Teilnahme an einem Visegrad-Gipfeltreffen bedeutet mit Sicherheit, dass trotz grüner Regierungsteilnahme die Anti-AKW-Folklore nicht mehr an der Spitze der Nachbarschaftspolitik stehen wird. Das ist extrem erfreulich. Ganz abgesehen davon, dass diese Anti-Atom-Hysterie logischerweise einen totalen Gegensatz zur derzeit angesagten Klima-Hysterie bedeutet.

Dieser Prager Gipfel im Format "4+1" erweckt aber auch noch viel weitergehende Hoffnungen. Diese bestehen vor allem darin, dass Österreich möglicherweise endlich erkannt haben düfte, dass es dringend Freunde braucht. Gerade unter anderen EU-Mitgliedern. So wie die drei Benelux-Länder eng zusammenarbeiten, so wie die nordischen Länder, so wie die drei baltischen Länder, so wie die zwei griechisch sprechenden Länder zusammenarbeiten. Und für Österreich ist der mitteleuropäische Raum in Wahrheit der einzige, wo auch die Alpenrepublik solche Freunde finden kann.

Bei dieser (drei Jahrzehnte verspäteten) Wiederentdeckung Mitteleuropas geht es natürlich auch um die gemeinsame Vergangenheit. Diese verursacht keine Ressentiments mehr, sondern hat bis heute relevante Gemeinsamkeiten hinterlassen: vom Grundbuch bis zur Architektur, vom Schulsystem bis zu vielen charakterlichen Gemeinsamkeiten und der ähnlichen Lebensart. Es geht aber auch um die vielen ökonomischen Bande, die seit 1989 entstanden sind. Es geht um hunderttausende Arbeitskräfte, die da grenzübergreifend arbeiten. Und es geht eben vor allem darum, wirkliche Freunde  zu haben, damit Österreich nie mehr alleine steht. Wie 2000 (antiösterreichische Sanktionen), wie 2015 (Österreich als Opfer der deutschen Migrationspolitik).

Es könnte aber auch viel um tolle Zukunftsprojekte gehen: etwa um abgesprochene gegenseitige Unterstützungen bei internationalen Kandidaturen; etwa um neue Verkehrsprojekte, Kulturprojekte und Pipelines; etwa um eine abgestimmte (Anti-)Migrationspolitik, etwa um gemeinsame Botschaften in der Dritten Welt.

Hochinteressant wäre es aber auch, wenn es angesichts der Kleinheit des Raumes beispielsweise gemeinsame Abfangjäger geben sollte. Das ist ja gerade derzeit wieder in Österreich ein ziemlich brennendes Thema, weshalb eine geschickte Politik des Bundeskanzlers auch die Grünen motivieren könnte, Ja dazu zu sagen, würde man sich doch dadurch etliches ersparen. Ja zu sagen hieße natürlich auch neutralitätsrechtliche Neurosen zu überwinden, die von den üblichen Bedenkenträgern solchen Ideen entgegengestellt werden.

Conclusio: Wir haben einfach mit diesen Ländern viel mehr gemeinsam als mit anderen EU-Mitgliedern wie Portugal, Finnland oder Malta. Das sollte sich endlich auch in der Politik wiederspiegeln.

Umgekehrt sind diese Länder schon so selbstbewusst und wirtschaftlich erfolgreich, dass dort niemand mehr in mitteleuropäischer Zusammenarbeit ein Habsburg-Revival sehen würde.

Sebastian Kurz und seine Gesprächspartner signalisieren mit der Teilnahme in Prag aber auch noch etwas: Die von ihm selbst durch Mitmachen bei der Brüsseler Politik verursachten Spannungen mit Ungarn, das ja dort mit am Tisch sitzt, sind nicht mehr so wichtig. Dieses Signal ist umso bedeutender, als in den letzten Tagen vermehrt Anzeichen aufgetreten sind, dass sich die ungarische Regierungspartei aus der EVP verabschieden wird, weil dort noch immer starke Kräfte (vor allem aus Deutschland und Benelux) weiterhin für eine Bestrafung Ungarns eintreten. Das will sich Victor Orbán offensichtlich nicht mehr länger gefallen lassen. Dennoch fährt Kurz hin.

Gleichzeitig hat der ungarische Premier aber zuletzt international an Standing gewonnen. Das ist etwa daran ablesbar, dass mehrere internationale Medien dieser Tage beeindruckt von der überraschenden Bildung einer Achse Budapest-Paris schreiben. Das ist zwar wohl etwas übertrieben. Aber beide Länder haben die gegenseitige Kritik eingestellt. Und in der Tat sind Orbán und Frankreichs Macron heute die einzig relevanten politischen Denker in Europa, die mehr als Sprechblasen produzieren. Während etwa Angela Merkel vor zehn Jahren den letzten kreativen Gedanken gehabt haben dürfte, der über bloßes Moderieren von Aussagen anderer hinausgeht.

Daher erspart sich Österreich vorerst das Ticket nach Berlin. Daher fährt Europaministerin Edtstadler nach Paris. Daher trifft sich Kurz mit Orbán und seinen Visegrad-Gesellen. All das sind ganz sicher keine Zufälle, sondern politische Entwicklungen mit spannendem Potenzial.

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