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Warum tut sie sich das an?

"Warum tut sie sich das an?" Das ist wohl derzeit die am häufigsten gestellte Frage in Gesprächen beim vorweihnachtlichen Glühwein. Jeder weiß sofort, um wen man sich da Sorgen macht. Da braucht man gar keinen Namen mehr zu sagen. Eigentlich könnte einem das Schicksal der Frau ja gleichgültig sein, wenn man mit ihr weder verwandt noch befreundet ist. Jedoch: Ihre Situation ist ein Fanal einer epochalen Entwicklung in ganz Europa.

Über Pamela Rendi-Wagners persönliche Entwicklung lässt sich hingegen trefflich streiten. In der psychologischen Ferndiagnose kursieren drei Bilder, die zu erklären versuchen, warum sie sich die SPÖ-Führung weiterhin antut.

  • Das eine Bild ist jenes des braven Mädchens, das immer gehorsam seine Hausaufgaben gemacht und den Müll ordentlich entsorgt hat, das dann als Erwachsene ebenso gehorsam jede ihr aufgetragene Aufgabe übernommen hat und weiter trotz aller Widrigkeiten ausführt, solange nicht das Gegenteil angeordnet wird.
  • Das zweite Bild ist das einer knallharten Aufsteigerin, die hinter dem hübschen Gesicht immer eiskalt und zielstrebig ihrem Ehrgeiz gefolgt ist, ohne Rücksicht auf Verluste.
  • Das dritte: Sie hat sich das alles ganz anders vorgestellt, weiß aber nicht mehr, wie sie da jetzt gesichtswahrend herauskommen kann.

Aber egal, welches der Bilder stimmt: Das Ergebnis ist eine SPÖ-Vorsitzende, die eigentlich keine Ahnung hat, was sie jetzt tun soll, wozu sie überhaupt an diesem Schreibtisch in der Parteileitung sitzt. Egal, ob sie nun Gehorsams- oder Ehrgeiz- oder Irrtums-gesteuert an diesen gelangt ist.

Der einzige Grund, warum man sie überhaupt noch da sitzen lässt, ist die in der Partei (weniger bei den blutlüsternen Medien, die stets nach Schlagzeilen mit dem Wort "Rücktritt" gieren) von allen geteilte Befürchtung: Selbst wenn Pamela Rendi-Wagner heute zurückträte, wäre kein einziges Problem der Sozialdemokratie gelöst, wäre die Agonie einer einst großen Bewegung in keiner Weise aufgehalten. Deshalb will auch keiner wirklich an ihrer Stelle dort sitzen.

Der einzige – relative – Trost für Rendi: Diese sozialdemokratische Agonie findet weit über Österreich hinaus statt. Im Grund lässt sie sich in einer einzigen Zeile zusammenfassen, die einst Franz Schubert wunderschön vertont hat: "Wohin soll ich mich wenden?" Da Sozialdemokraten freilich meist wenig mit dem christlichen Glauben zu tun haben, hilft ihnen auch die Antwort dieses Kirchenlieds nicht weiter. Ihre kollektive Ratlosigkeit ist umso größer: Wo liegt eine Überlebenschance der Sozialdemokratie?

Überall SP-Agonie: Großbritannien, Deutschland, Frankreich

Ein kurzer Rundblick zeigt das allerorten:

In Großbritannien steht Labour, wenn nicht alle Umfragen total danebenliegen, vor einer schweren Niederlage und die Konservativen vor einem großen Sieg. Dabei haben hierzulande alle Medien in einer wirklich abenteuerlichen Fake-Berichterstattung den konservativen Ministerpräsidenten Boris Johnson zum debilen Widerling hinuntergeschrieben. Dabei haben sie ständig behauptet, das Ja der Briten zum Austritt aus der EU sei nur durch Lügen zustande gekommen, während inzwischen eine große Mehrheit den Brexit bereuen würde. Und dennoch gewinnt dieser Johnson jetzt. Labour hingegen weiß noch immer nicht, wohin sie sich wenden soll. Wie eine Jungverliebte zupft sie am Gänseblümchen herum: "Wir sind auch für den Austritt, wir sind doch nicht für den Austritt, wir sind auch für den Austritt, …"

In Deutschland hat die SPD jetzt schon wieder einen neuen Vorsitzenden – nein gleich zwei, weil offenbar doppelt noch schlechter hält. Die deutschen Sozialdemokraten haben geglaubt, den Grünen mit ihren schon länger rasch wechselnden Doppelspitzen offenbar jeden Unsinn nachmachen zu müssen, nachdem all ihre eigenen einköpfigen Parteivorsitzenden der letzten Jahre gescheitert sind. In den letzten Monaten war die Partei durch diese Vorsitzenden-Entscheidung aller Parteimitglieder jedenfalls noch mehr gelähmt als zuvor. Und nach dieser Wahl ist sie tiefer gespalten denn je.

Bei dieser Wahl hat ein ziemlich linkes Pärchen gewonnen, von dem keine Hälfte bisher auch nur irgendwo irgendeine Wahl gewonnen hat. Die weibliche Hälfte hat in ihrem eigenen Wahlkreis noch schlechter abgeschnitten als die Partei selber, der männliche Ko-Vorsitzende hat als Finanzminister von Nordrhein-Westfalen seinen Budgetentwurf gleich dreimal vom Verfassungsgerichtshof zurückgeschmissen bekommen und sich durch hohe Schulden und den Ankauf gestohlener Daten zur Jagd auf Steuersünder einen problematischen Namen gemacht. Da zahlt es sich wohl nicht mehr aus, sich einen der beiden Namen zu merken. Die SPD ist ja schon beim 14. Parteivorsitzenden seit der Jahrtausendwende. Einzig (Be-)Merkenswertes am neuen Duo: Diesmal ist es der Mann, der aus Political Correctness einen Doppelnamen trägt.

Das überraschend gekürte SPD-Pärchen fragt sich jetzt jedenfalls ziemlich panisch, wohin es sich wenden soll. Jede Option ist problematisch.

  • Austritt aus der Koalition, was mit dem Risiko von Neuwahlen und damit der nächsten Schlappe für die Sozialdemokratie verbunden ist?
  • In der Koalition weitermachen wie bisher und deshalb schon von der ersten Woche an als Papiertiger belacht werden?
  • Den von der neuen SPD-Spitze verlangten Ausweg wird es wohl nicht spielen, nämlich eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrages. Das hat (überraschenderweise) sogar der Koalitionspartner CDU abgelehnt, der unter der Führung von Angela Merkel sonst ja bisher den Sozialdemokraten immer weit entgegengekommen ist. Noch mehr Wohlfahrtsstaat, noch mehr Migrationstoleranz, noch schlimmere Beschneidung der Wirtschaft ist jedenfalls mit Sicherheit unter der deutschen Bevölkerung nicht mehrheitsfähig, und in der CDU/CSU schon gar nicht. Würde die Union da noch einmal nachgeben, wäre das seit Euro und Grenzöffnung eine dritte Raketenstufe für den Aufstieg der AfD. Aber diesmal heißt die Parteichefin Kramp-Karrenbauer und die hat nun doch mehr Rückgrat als Angela Merkel.

In Frankreich, um noch das dritte der drei großen europäischen Länder zu nennen, sind die Sozialisten überhaupt von der Bildfläche verschwunden. Zwar entstammt Präsident Macron einer sozialistischen Regierungsmannschaft, geht aber heute mit seiner Führerpartei ganz eigene Wege, die weit rechts von denen der Sozialdemokratie liegen. Macron ist nicht nur von Anfang an deutlich wirtschaftsfreundlicher als diese gewesen, er fährt vielmehr neuerdings auch einen deutlich migrationskritischeren Kurs als die meisten Sozialdemokraten.

Die inhaltliche Implosion der Sozialdemokratie ist auch durch das völlige Fehlen von Führungspersönlichkeiten gekennzeichnet. Das macht der Vergleich mit früheren Jahrzehnten besonders deutlich. Bei einem solchen Vergleich denkt man etwa sofort an:

  1. die Franzosen Mitterrand und Delors, die für Europa und die deutsch-französische Annäherung eine entscheidende und positive Rolle gespielt haben;
  2. den Briten Tony Blair, der außen- wie wirtschaftspolitisch klug und erfolgreich unterwegs gewesen ist (auch wenn alle linken Sozialdemokraten heute angewidert seinen Kurs als "neoliberal" zu beschimpfen versuchen);
  3. den Deutschen Willy Brandt, der durch seine – damals auch von mir kritisierte – Annäherung an den kommunistischen Osten vielleicht unbeabsichtigt, aber historisch enorm wichtig, einen dialektischen Prozess in Osteuropa ausgelöst hat, der beigetragen hat, dass es anstelle eines großen Ost-West-Krieges Jahre später zur historischen Implosion des kommunistischen Imperiums gekommen ist;
  4. den Deutschen Helmut Schmidt, der mit großem Mut dem Terror der Linksextremisten standgehalten hat, der die Amerikaner motiviert hat, der sowjetischen Raketenaufrüstung entgegenzutreten (was ebenfalls zum Kollaps des Ostens beigetragen hat), und der sowohl für Wirtschaft wie auch Europa sehr positive Akzente gesetzt hat;
  5. oder an den Deutschen Gerhard Schröder, der mit der Arbeitsmarktreform Agenda 2010 Deutschland noch einmal vorangebracht hat, ehe das Land in den letzten Jahren einer Schwarz-roten Koalition auch wirtschaftlich total versumpft ist.

Natürlich hat es auch in anderen Lagern große Staatsmänner gegeben, aber bei der europäischen Sozialdemokratie fällt der Unterschied zur totalen Leere der letzten 15 Jahre besonders auf. Heute ist dort absolut keine interessante Persönlichkeit mit Führungsstärke und einer funktionierenden Positionierung mehr zu finden.

Wer nach den Ursachen forscht, wird vor allem auf diese sechs Faktoren stoßen:

  • Die einstigen Erfolge beim Aufbau des Wohlfahrtsstaats sind längst in ein Zuviel gekippt: Die früheren Stammwähler sehen in sozialistischer Sozialpolitik nur noch die Provokation, dass Menschen fürs Nichtstun auf Kosten anderer fett belohnt werden.
  • Die Sozialdemokratie hat sich als Vorkämpferin für die Interessen von Schwulen und anderen sexuellen Minderheiten profiliert, womit sich ein Großteil der Wähler nicht identifizieren kann und will (auch wenn man das meist nicht laut sagt aus Angst, unkorrekt zu wirken).
  • Auch die feministische Zuspitzung stößt viele ab: Sie tut das besonders, aber nicht nur bei Männern, älteren Menschen und vielen aus der Menge der Zuwanderer – also bei den einstigen (oder erhofften künftigen) Pfeilern der S-Parteien.
  • Anstelle der leistungsorientierten Arbeiter und des kleinbürgerlichen Mittelstandes sind die sozialdemokratischen Parteien von theorie-schwätzenden Studenten, leistungsaversen Beamten und weltfremden Angehörigen der Kunstszene dominiert, sodass die alten Genossen sich überhaupt nicht mehr daheim fühlen können. Und die Bobos, Diplomaten-Gattinnen, Jäger und Porsche-Fahrer an der Parteispitze passen schon gar nicht dazu.
  • Die einstigen Proletarier sind längst aufgestiegen und haben daher zum guten Teil nun auch bürgerliche Interessen, zu denen beispielsweise die Ablehnung von Erbschaftssteuern und ähnlichem gehört, auch wenn sie von Porsche&Co weit entfernt sind.
  • Die allergrößte Ursache des Absturzes der Sozialdemokraten ist aber, dass sie heute als die Hauptschuldigen am Hereinlassen der Völkerwanderung aus Afrika und Asien dastehen.

Zurück nach Österreich: Rendi-Wagner wird dennoch den ständig weitergehenden Absturz der Sozialdemokratie kurzfristig überleben, weil ein Tausch des Führungspersonals in Zeiten einer Regierungsbildung taktisch schwachsinnig wäre, weil sich jeder potenzielle Nachfolger außerdem erst anschauen will, ob es zu Schwarz-Grün oder doch wieder Schwarz-Blau kommt, was natürlich jeweils komplett andere Strategien für die SPÖ erforderlich macht (oder genauer: die Suche nach Strategien).

Rendi hat wohl auch mittelfristig gute Überlebenschancen, da sich kaum ein potenzieller Nachfolger für die nächsten vier Jahre danach sehnt, auf den harten Oppositionsbänken zu sitzen und dort eine zerstrittene, orientierungslose und überschuldete Partei zu führen. Da sitzt es sich auf Landeshauptmanns- oder Finanzstadtrats-Sesseln viel bequemer, und man wird erst ein halbes Jahr vor der nächsten Wahl um den Parteivorsitz kämpfen.

Langfristig haben aber Rendi-Wagner wie auch die ganze SPÖ nur noch dann Chancen, wenn sie erkennen, dass sie nur ein deutlicher Rechtsruck retten kann. Vor allem, aber nicht nur in der Migrationspolitik. Wobei man es in Kauf nehmen müsste, dass sich dann die rund 20 Prozent wirklich Linken unter den Wählern bei den Grünen sammeln. Ein solcher Rechtsruck würde zwar verblüffen, wäre aber ein strategisch geschickter Vorstoß in einen leeren Raum, weil die ÖVP durch ein Zusammengehen mit den Grünen ja demnächst großräumig Positionen räumen wird müssen, die dann die SPÖ besetzen könnte, und weil gleichzeitig viele aus der linksrückenden ÖVP flüchtende Wähler halt doch nicht bei der FPÖ anstreifen wollen.

Winzige Indizien sprechen dafür, dass einige Sozialdemokraten diese Chance erkannt haben:

  • So haben die dänischen Sozialdemokraten genau mit einem überraschenden Rechtsruck in Ausländerfragen die letzten Wahlen gewonnen.
  • So verfolgt der burgenländische Landeshauptmann Doskozil genau die gleiche Politik.
  • So hat der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel jetzt in erstaunlich klaren Worten seiner Partei einen Rechtsruck nahegelegt. Die SPD habe, so kritisiert er, sich viel zu viel mit Themen wie Schwulen-, LGBTQ-, Gleichstellungsrechten oder Migration befasst, die völlig an der Bevölkerung vorbeigehen.
  • So hat sich jetzt der eigentlich vom linken Rand kommende Wiener Sozialstadtrat Hacker für ein schärferes Vorgehen gegen rumänische Bettelbanden (die zu 99 Prozent Roma sind) ausgesprochen. "Wir können nicht die Armut der ganzen Welt in dieser Stadt bekämpfen." Das sind ganz erstaunliche Worte, die zu hitzigen Parlamentssondersitzungen und Strafanzeigen wegen "Verhetzung" und "Rassismus" geführt hätten, wenn sie von FPÖ- oder ÖVP-Politikern ausgesprochen worden wären. Doch gleichzeitig zeigt eine vom "Profil" gemachte Umfrage, dass mehr als zwei Drittel der Österreicher ein generelles Bettelverbot in Städten begrüßen würden.

Das sind drei hochinteressante Indizien. Doch sonst deutet noch wenig darauf hin, dass die SPÖ wirklich die Kraft zu einer solchen Kurskorrektur haben könnte.

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